Überschwemmt, die Lust am Taumel • Im atmenden Alphabet für Friederike Mayröcker (1)

Die Blätter auf meinem Arbeitstisch flogen in die Luft
Friederike Mayröcker

11 · ich bin manisch

Druckfrisch: Matrix 28 · Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker · 294 Seiten · für 10,00 € hier bestellen: pop-verlag@gmx.de

Total · total · total wie fast immer – »Was vom täglichen Leben und Lesen / in die Falten des Großhirns / sickert«, setzt Maximilian Zan­ders Gedicht ein · bin ich manisch? · ich bin manischüber­schwemmt, flieh oder flieg (ich), vom Ich-bin-in-meinem-›Element‹, der Nadel­arbeit der Augen · tatsäch­lich bin durchsägt von Universum · hatte nicht Auge noch Ohren für Ding und Wort und Bild und Strauch und Buch und Blume · überschwemmt von Abschieden, Ab­schweifungen, Ahnungen, An­fängen, Anschau­lichkeiten, Ansichten, Anzei­chen, Auf|­sätzen, Au­gen|blicken, Allu­sionen · über­schwemmt von Beobachtun­gen, Besch|reibun­gen, Bildern (»Ich und die Bilder« · Nikolai Vogel / »blau steht der Baum« · Ingrid Fichtner), Blicken, Blu­men (dunkles Blut einer Pelargo­nie), Bon­mots, »brombeeren, brom­beeren« (Inger Christensen), Buchstaben, Büchern (wenn ich in einem Buch zu lesen ange­fangen habe, will ich nicht, daß jemand ande­rer es zur Hand nimmt und ebenfalls darin zu lesen beginnt, das stört den direkten Kontakt zwischen mir und dem Dichter und verhin­dert, daß etwas in mir zur Wahrheit wird …), B|r|u|c|h|stücken · über­schwemmt von »cathedral tunes« (Emily Dickin­son), Chaos, Chi­as­men, Chimä­ren, Cre­scendos · über­schwemmt von Denkbildern, Denk­zetteln, De­tails, Dingen, Diminuendos, Dop­pel­gängern (»Es wim­melt in der Literatur nur so von ver­steckten Doppelgängern« · Kuno) · über­schwemmt von Echos, Einsprengseln, En­den, Er­findungen, Erin­ne­rungen (ich vergesse ja alles, ich bin, um die Wahr­heit zu sa­gen, ein Mensch ohne Er­innerungen geworden, ich habe buchstäb­lich alles verges­sen), Erin­nyen, Ewigzeiten · über­schwemmt von »Fang­netzen« (Mikael Vogel), Far­ben, Fassaden, Fet­zen, Flüchtig­keiten, Frag­menten, fürchterlichem Frohsinn · über­schwemmt vom Ge­hen · über­schwemmt von Ge­danken: »Hap­piness is air olive trees flowe­ring sugarcane (the sight of it)« · José Kozer, Ge­rüch[t]en, Grundsätzen, »Gesang« und »guten Geistern« (Höl­derlin) · über­schwemmt von Hallu­zinati­onen, Hirnen, »Hype­rion« · über­schwemmt von Ideen und Idio­synkra­sien · über­schwemmt von Jin und Jang · über­schwemmt vom Kom­men · überschwemmt von Klän­gen, Kleck­sen, Kon­sonanten, Kata­chresen · über­schwemmt von Laut­male­reien · über­schwemmt vom Leben (200 Jahre mindes­tens. Meiner An­sicht nach dürfte das Ende über­haupt nicht kom­men. Man müsste so lange weiterle­ben, wie man gerne lebt, und viel­leicht kommt dann eines Tages die Stunde, wo man sagt: »Jetzt habe ich genug. Jetzt möchte ich abtreten.« Aber an und für sich sollte der Mensch so lange leben können, wie er es wünscht), Lie­ben, Lieblin­gen, Liedern, Luft­geistern, Lügen · über­schwemmt von Material (»Seit kur­zem liegen morsche Balken und zer­bro­chene Dachziegel auf einem Haufen, zer­bröseln unter Brom­beerge­strüpp« · Jacques Josse), Me­moiren, Men­schen, Metamor­pho­sen, Mnemosyne, Mo­nolo­gen (und hätte ich dieses mein Schrei­ben nicht), Morphemen, Musik (also aus allem beziehe ich meine Spra­che, Material aus verschiedenen Quel­len, Bild, Ge­spräche, Musik, über­haupt die Musik, überhaupt habe ich der Mu­sik immer unrecht ge­tan, sie immer ins Un­recht gesetzt oder wie soll ich sagen, vermut­lich habe ich die Musik immer nur für meine literarischen Vor­haben ausgebeu­tet, mein Ver­hält­nis zur Musik st immer para­sitär gewesen, über­haupt mein Verhältnis zur Welt, zu den Menschen, also die wankendsten Funda­mente einer Gedankenwelt .. mit vielen Federn und Feder­kielen und wie es mich in halluzi­natori­sche Stimmungen versetzt hat ..)· über­schwemmt von Namen, No­ten und Notizen · über­schwemmt von Okeanos, Orakeln, Origina­len, Orten · über­schwemmt von Phanta­sie-Passa­gen, Pflanzen (die im leichten Wind schwanken­den Dol­den des Schier­lings), Po­sitionen · über­schwemmt von Quas­tenlärm, Quellen, Quint­es­senzen (»Quer durch den Schlaf / die Buch­staben­spur / einer Sprache die / du nicht verstehst« · W. G. Sebald) · über­schwemmt von Räumen, Re­den, Reisen, (was werde ich mir dort­hin alles mitnehmen wenn es ans Ende geht), Reflexen, Re­flexionen · über­schwemmt von Sät­zen, Sil­ben, Sounds, »Spiralen« (Der­rida), »spitzennoten ausm äther« (Su­sanne Eules), Split­tern, Stachel­halm­wäldern, Steinen (be­trachtete die wäh­rend des Spazierenge­hens auf­gelese­nen Steine in meiner Hand), Stim­mun­gen · über­schwemmt von Täto­wie­rungen, Täuschungen, Tau­tropfen, Toden (Am 2. Februar 2012 schneit die Nachricht vom Tod Wisława Szymborskas – »Mir ist die Lächerlich­keit, Gedichte zu schreiben, lieber / als die Lä­cherlich­keit, keine zu schrei­ben« – ins Haus, drau­ßen Temperaturen um minus 13°C, hier unten verei­sen die Schei­ben. Wenn ich über den Tod schreibe, ist das eine positive Be­schäftigung. Ich kann mich dann mit der Sprache gegen ihn sträuben. Es ist eine Me­tamor­phose der Angst vor dem Tod. Aber nur für die Zeit, in der ich schreibe. Die Angst kommt immer wie­der), To­huwa­bohu, Topogra­phien, Tränen, Träumen · über­schwemmt von Umlau­ten und Urlau­ten (»Wir baun die Welt aus den Unendlich­kei­ten« · Jakob van Hoddis) · über­schwemmt von Ver­gisz­meinnicht (sehr viele Wörter kommen mir abhanden), Vermutun­gen, Verzwei­gun­gen, Vögel­chen (ihr Ge­sang tröstet mich / diese ra­sende Poesie, etwas zwitschert beim Tippen), Verben (»Zukunft, / merk dir’s, / gibt es manchmal / nur in den Verben« · Matthias Gö­ritz), Verwunderungen, Verzweiflungen, Vo­ka­beln, Voka­len, Vor­spiege­lungen, »irrsinnigen Vor­stellun­gen« (Marcel Beyer) · über­schwemmt von Wahr­neh­mun­gen, warmen Wörtern (»nach wel­chem wort geht die welt zu ende«, fragt Wolfgang Hilbig), »Wasser­schrift / Welle um Welle« (Marie T. Mar­tin), Wieder­holungen be­stimm­ter Wörter, Wir­beln, Wol­ken (»die Wol­ken hetzen« · Ingrid Fichtner), Wortschätzen (»wortlos ins stru­delnde Wasser« · Martin Jankowski), Wünschen (du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus / keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach / zu sitzen zu denken zu schla­fen zu träumen / zu schreiben zu schwei­gen zu se­hen den Freund / die Gestirne das Gras die Blume den Him­mel), Wun­dern, Weh- und Wut­geheul · über­schwemmt von Zah­len, Zerrei­ßungen (ich bin 1 Fauvist der Spra­che), Zetteln, Zi­taten (Zitat ist Teil mei­ner Schreib­methode / »Es gibt für mich keine Zitate, son­dern die wenigen Stel­len in der Literatur, die mich immer aufge­regt haben, die sind für mich das Le­ben« · Ingeborg Bach­mann), Zu­fällen, Zu­ständen, Zusät­zen; es ist immer alles gleich­zeitig da, die Ge­genwart und die Vergan­genheit, und vielleicht ein Blick in die Zu­kunft. John Burn­sides »A Lie About My Father« hängt schwer noch in den Klamot­ten: »The last thing I would want to do is make a lie of it« (und »Glister« wartet … dräuend, fordernd: »Nothing else. No other sound, and nothing to see but the vast, pure light into which I step of my own free will, over and over again, at the end of a story that I am already begin­ning to for­get«), Cormac Mc­Carthys »The Road« erst halb gele­sen: »She would do it with a flake of obsi­dian«, gefan­gen vom »histo­ri­schen Rau­schen« in den Ge­dichten von Thomas Kling, usw., lese ich, im küh­len Son­nen­schein am Mor­gen, »Auf meine Art«, Hans Ben­ders neue Ge­dichte, Franz Kaf­kas »Fahrgast« schießt pein­voll in den Kopf: »bin voll­kom­men unsi­cher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt«, nun sitze ich hier – und kei­nes­wegs grausam – mit Frie­derike Mayrö­ckers ich sitze nur GRAU­SAM da und lese und lese ich sitze nur GRAU­SAM da und denke, fühle, höre, gleichlau­fend, betäubt von dem Duft der Narzissen, gleichzeitig, paral­lel, polyphones Ge­flecht, si­multan, syn­chron, auf einmal, pars pro toto, den ersten Satz der 15. Sinfo­nie von Schosta­ko­witsch – oder ich bin nur Fik­tion gewesen / ich habe alles erfunden:

1 Fortreiszen, 1 sich von jedermann fortreiszen lassen, sage ich zu Ely, kein Rückgrat zu zeigen, Wurm sein, sage ich, da­hinschlei­chen, -schleimen – als Agave geboren zu sein und dann marschieren : in die unbekannte Welt hin­einmarschieren, nämlich was diese geschwungenen geschwellten bebenden jungen Bäume angeht, in den Alleen der Stol­berggasse so seien sie übers Jahr aufge­schossen, sie haben sich so auszeror­dent­lich streng belaubt und be­reichert dasz es schien, sie seien eingehüllt in einen dichtesten Ge­sang

* * *

Teil 2/3

Teil 4/5

→ Teil 6/7

Der abschließende 8. Teil des Essays Überschwemmt, die Lust am Taumel (Matrix 28, S. 17 – 34) folgt morgen.

Die in den Text eingefügten Bilder stammen von der in Wien lebenden Künstlerin Linde Waber und sind ebenfalls in Matrix 28 zu finden:

Postkarte Nr. 2 ∙ Collage mit FM-Zettel

1 Sackerl Poesie von F. für Linde

Postkarte Nr. 1 ∙ Collage mit FM

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.