Überschwemmt, die Lust am Taumel (6/7)

66 · Mehr als · 1 Buch lag vor mir aufgeschlagen

als reihte ich Bücher an einander
Friederike Mayröcker

Weit mehr als 22 Bücher, nämlich, liegen aufgeschlagen – Blaue Er­leuch­tun­gen · Das besessene Alter · Das Herzzerreißende der Dinge · Das Licht in der Land­schaft · das zu Sehende, das zu Hörende · Die Abschiede · brütt oder Die seufzenden Gärten · Die kom­munizierenden Gefäße · dieses Jäckchen (näm­lich) des Vogel Greif · Gesam­melte Gedichte · ich bin in der An­stalt. Fusz­noten zu einem ungeschriebenen Werk · ich sitze nur GRAUSAM da · In langsa­men Blitzen · Letzte Dinge · Liebesgedichte · Licht in der Landschaft · Ma­gische Blät­ter · Magische Blätter I – V · Magische Blätter VI · Mein Ar­beitstirol · mein Herz, mein Zimmer, mein Name · No­tizen auf einem Kamel · Pa­loma · Reise durch die Nacht · Requiem für Ernst Jandl · Scarda­nelli · Und ich schüttelte einen Liebling · vom Umhalsen der Sper­lingswand, 1 Schu­mannwahn­sinn · Von den Umarmungen · Winterglück · Zit­tergaul – vor mir, neben mir, hinter mir, was liest du gerade / ein hin und her, dort im Prosazimmer, hier im ›Lyrikkabinett‹ (wie Axel Kutsch – der »So ist es. Ist es so? Kommentar zur Lyrik­szene im deut­schen Sprach­raum« mit den Worten beschließt: »Die ›jüngste‹ deutsch­sprachige Lyrik wird nach wie vor von einer Wiener Autorin geschrieben: Sie hat die 80 bereits über­schritten und heißt Friederike May­röcker« – die Kammer mit den Ge­dichtbüchern einst taufte), bei­spielsweise Das Herzzerrei­ßende der Dinge, in dem ich heute lese:

ein hin und her, ich werfe mit Wörtern um mich, das Wort Capriccio zum Beispiel im Vorzimmer, das Sodo­misieren der Ziege, ein Hin- und Herhüpfen der Sprache, ich liebe es, alles nebeneinander her zu tun, im Grund treibe ich mich den gan­zen Tag über mit meiner Sprache herum, wir halten Zwiegesprä­che, Mono­loge, die Lektüre ist auch so ein Tummelplatz, auf dem ich mich abende­lang aufhalten kann : ein Tag ist ja ohne befriedigenden Abschluß und im wirklichen Sinne vertan, haben wir nicht zumindest vor dem Ein­schlafen Zeit gefunden, ein paar Zeilen hier, ein paar Seiten dort, in unseren Lieb­lings­büchern zu lesen (über­flüssigerweise lassen wir uns zuweilen von den ba­nalsten Ansprüchen herausfordern und ablen­ken, mit grau­samer Wollust las­sen wir uns in die alltäglichsten Niederungen herunterzerren und sehen uns dann selber zu, wie wir im Netz zappeln).

Ich verwende es gern, zum wiederholten Mal, ich weiß, es muß sein, das Bild vom Baden, vom Lesebad, Wörter­bad, vom Baden in Wör­tern · Sätzen · Gedanken · Vorstellungen ·  Stim­mun­gen (usw.) der Friederike Mayröcker, die, so scheint’s, mit jedem Text, mit jedem Buch immer noch mehr sie selbst wird, die sich ins Ich wühlen (manchmal halte ich mich für dich), ich schreibe das, und hätte ich dieses mein Schreiben nicht, hier einfach noch einmal nie­der, es ist ein vollkommenes Eintau­chen, Unter­tauchen, ach, daß abge­schrie­ben würde aus meinen Büchern, mit weit geöff­neten Augen: als woll­ten sie mir zu verstehen geben, daß alles was ich je niederge­schrieben hatte, nichts war, buchstäblich nichts, und wenn es denn nichts wäre, buchstäblich nichts, was wäre es dann? Mayröckers Bücher in ihrer Ge­samtheit sind nichts als ›ein‹ famoses Werk. »Ich kann doch nicht immer nur wieder May­röcker lesen, weil ich es mit vielen an­deren nicht aus­halte«, schreibt Michael Lentz – und findet (»Ich bin wieder mittendrin; ich höre nicht auf«) »ganze Lebenszei­len«.

77 · Atmendes Alphabet

suche Moratorium im Groszen Brockhaus, stosze
auf Motherwell

Friederike Mayröcker

Ameisenheit · Anemone · Angst · aufhören · Auge · Baumschöpfe · Blütenleib · Blutspur · Cherubim · Chine­sen­braut · Code · Delirien · Dickicht · Dolde · Drolerien · Dunkelrosen · elfenbeinfarbenes · Eben­bild · eingesegnete · Einsamkeit · Es peitschte mich zum Schreiben · Fenchel · Flam­menfeder­chen · furioser · Flim­mereffekt · Flocke · fun­keln · Glas · Glyzinie · Gna­denleser · Goldlack · Gotteshirn · Gras · Grotte · Hilflo­sengeste · Himmelfahrt · Honigtropfen · Hummel · ich (lese alles ich lese nichts, die Bücher zap­peln mir in der Hand, wollen ver­schlungen werden von der 1. zur letz­ten Zeile, ich aber schlage sie auf, exzer­piere 5 oder 9 Zeilen, lege sie bei­seite) · In­stinktgarten · imaginieren · jederzeit · jetzt · jubelnd · Judenvier­tel · Katze · Kluppe · Knopf­loch · Knospe · Kreidefel­sen · Läm­mer · leben · Luftmasche · Makula­tur · Mimosengefie­der · monst­röser · Nebel · Nervenapparat · Neuigkeits­blitze · Nuszwald · Ohrenbeichtvater · Oleander · oder · Opuszahl · Panik · pärchenweise · Passi­onsrose · photo­graphieren · Poren · Quappengesicht · quasselnder · Qual­freund · Quelle · Quendel · Quit­tenbaum · Regen · Rehkitz · Rei­sekammer · Resonanzkasten · Robinien­bäume · ruinenkalt · Schmet­terlingsschwarm · Schwin­del · schwitzt · Seele · Staubwolke · Stein · Sternklum­pen · Tannen­händchen · tau­chen · Tote­ninsel · Traum · Traunsee · Uferwiese · uner­gründba­rer · unfaszbarer · Unsinn · Verklärung · Verzaube­rung · Vi­neta · weisze · Wellen · Wol­ken · Wiedehopf · Wimpern · Winterküsse · Win­tersausen · Wipfel der Wehmut · Wollkraut · Xylofon · Ypsilon · Za­ckenfalter · Zeit­maß · zer­knitterte · Zipfel · zwitschern · Zu­ckerstü­cke · Zufall (diese über alles waltende Gott­heit) · zärtliche Zunge

Innehaltend, mein suggestiv aufgeladenes Gehirn, denk ich, au­gen­blickslang, gleichsam ein biß­chen bloß über Mayröckers Wörter, ach / ihr seid wie 1 offenes Buch, hinaus, an die im Lauf der Zeit – frei­lich die Zeit ist flüchtig und ich denke in langsa­men Blitzen – zu­sammengele­sne ›Bib­liothek‹, die ich so nicht nenne, auch nicht ›Bü­chersammlung‹, im Lauf der Jahre, und ich fand die Bücher die mich am Leben erhielten, sind beide Leberäume zur (begehbaren) In­stalla­tion, Geriesel der Sprache, gewor­den, es ist ein durch Lesen jedes einzelnen Buches aspiriertes, voll­kommen offenes Kunst­werk, the one he likes to think of as a shrine (John Burnside), ›Lebenswerk‹ scheint auch ein gutes Wort, »als die ei­gentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammen­fallen« (Gün­ter Eich), »Anlie­gen des Dichters muß es sein«, sagt EJ, »in das Innere der Dinge zu sehen«, ein im Verlauf der Jahrzehnte nach diesen Vorstellun­gen und jenen Wünschen gestal­teter Querschnitt, Buchkörper, dem ich, täglich vorzugsweise, ein neues Teilchen einver­leibe, atmendes Alphabet, in dem ich den Groß­teil der natur­gemäß im­mer viel zu kurzen Lebens­zeit verbringe (Nein, der Tod ist ekelhaft. Er ist ein Eklat, ein Skandalon, eine Frivolität, eine Schmach, eine Verdammung und eine Herab­setzung des menschlichen Lebens. Und der große Stachel des Todes ist, dasz man nicht weiß, wohin es geht), halb schon in die Erde einge­gra­ben, von magi­schen Blättern, usw., »wun­derbar umgeben« (einge­mau­ert): Blaue Erleuch­tun­gen · Das besessene Alter · Das Herzzerrei­ßende der Dinge · Das Licht in der Land­schaft · das zu Sehende, das zu Hörende · Die Ab­schiede · brütt oder Die seufzenden Gärten · Die kom­munizierenden Gefäße · dieses Jäckchen (näm­lich) des Vogel Greif · Gesam­melte Gedichte · ich bin in der An­stalt. Fusz­noten zu einem ungeschriebenen Werk · ich sitze nur GRAUSAM da · In langsa­men Blitzen · Letzte Dinge · Liebesgedichte · Licht in der Land­schaft · Ma­gische Blät­ter · Magische Blätter I – V · Magische Blätter VI · Mein Ar­beitstirol · mein Herz, mein Zimmer, mein Name · No­tizen auf einem Kamel · Pa­loma · Reise durch die Nacht · Requiem für Ernst Jandl · Scarda­nelli · Und ich schüttelte einen Liebling · vom Umhalsen der Sper­lingswand, 1 Schu­mannwahn­sinn · Von den Umarmungen · Winterglück · Zit­tergaul – – – darunter lau­ter Lieb­lingsbü­cher, die ich, seit 1991, als ich das in blaues Leinen ge­hüllte Winter­glück im Ta­schenbuch­keller der Köl­ner Bahn­hofsbuchhandlung als preisre­duzier­tes Mängelex­emplar, wie ein Stempel auf dem Fuß­schnitt für alle Zeiten bezeugt, erwarb, anschlie­ßend, wäh­rend der Heim­fahrt in die Eifel nach Sistig, las, an einem Samstag, allein im Sechserab­teil eines sehr alten Zu­ges sitzend, die Jah­reszeit erinnere ich, beim besten Wil­len, nicht, nur Land­schafts­stim­mung: trist?, »und bald hätte sie un­endlich viele Versionen einer Erinne­rung, unendlich viele Geschichten im Kopf«, lese ich in Odile Kennels Roman »Was Ida sagt«, mit im­merfort wach­sender Lust lese, am 16. Februar 2012, tut’s mir in der Herzgegend weh, während ich, schnee­schippend, auf den Postboten warte, sehn­süchtig auf Die kommunizierenden Gefäße hoffend, die ich mir dringend als Lektüre wünsche, und, ja, der Wunsch wird er­füllt, ich schreibe diese Wörter mit den Körper durchpulsen­der Vor­freude, nehme die Fingerbee­ren von der Tat­statur, fange zu lesen an: und knootzten dann Schulter an Schulter (meine Schulter die seine berüh­rend seine Schulter die meine berührend) im Jazzkonzert, meist in den letzten Reihen des Saales weil sonst zu laut – – –, aus denen ich, und hätte ich dieses mein Schrei­ben nicht (wie aus Ge­sprächen / Inter­views / E-Mails) in diesem Essay (»einem vagen Nichts«, MH), am lau­fenden Bande, amalgamierend · beifügend · mi­schend · ver­schrän­kend · Wörter mir anver­wandle · Wörter mon­tiere · Wörter ver­fremde · Wörter zitiere, ein gleich­sam »un­unterbro­chener Dialog« (wie Jacques Der­ridas und Hans-Georg Gada­mers Buch titu­liert ist), ich habe eine gestoh­lene Sprache, »usw.« – und dann (und wann?)

hielt ich inne und dachte an meine verwaiste verweinte Bibliothek zu­hause und dasz sie ohne System in den Regalen stand, Sloterdijk neben Pschy­rembel zum Beispiel, Durs Grünbein neben »Des Knaben Wun­derhorn«, des­sen Titelbild (Moritz von Schwind, »Im Walde«) widerspiegelte meine mittle­ren Jahre als ich ei­nen Geliebten erwartete, im Walde, der mit Schotten­kra­watte auf abschüssigem Gelände. Lückenhaft, chao­tisch diese meine Bib­lio­theken, die famosen Werke an­gelesen, aufgegeben, mit Lese­zeichen ver­trös­tet, im­merzu exzerpierend: all meine kl. Schliche, das Exzerpierte montiert in die eigenen Texte: roh oder verän­dert, der kl. Voltaire, die Kostbarkeiten unter der Fensterbank lianenhaft oder Erdbeer Haine, von Jahr zu Jahr zahl­reicher werdende ver­streute verstaubte heimatlose Bibliotheken, mit besonde­ren Lieblingen auf dem Kopfpolster schlafen

→ Teil 1

→ Teil 2/3

→ Teil 4/5

Der abschließende 8. Teil des Essays Überschwemmt, die Lust am Taumel (Matrix 28, S. 17 – 34) folgt morgen.

Das in den Text eingefügte Bild stammt von  Matthias Schmidt (Wien) und ist ebenfalls in Matrix 28 zu finden.

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.