Überschwemmt, die Lust am Taumel (2/3)

22 · heute morgen das Gestrüpp im Blumentopf

Ich bin in meinem Schreiben nur auf der Suche
nach konkreten Dingen.
Friederike Mayröcker

Und einer schreibt: »Mayröckers Hummel am Morgen lasse ich gern dahinsurren«, ein andrer: »Ich muß mehr lesen«, ein dritter: »Das hast du alles 2011 gelesen? Bin echt beeindruckt.« Warum ›das alles‹, was soll das alles, was heißt das alles, versteh so vieles (nicht), und hätte ich dieses mein Schrei­ben nicht und hätte ich dieses mein Lesen nicht, dieses rätselvolle Lesenkönnen, und fühle mich in den Versen von Ben­ders »Ein Dichter zu Besuch // Bleib noch / eine Weile. / Hilf mir finden / die letzte Zeile«, in May­röckers sich in mich hineingießenden, sich in mir verströmenden Strömen auf ›unendliche‹ Weise daheim­lich: dieser Schein einer repetitiven Narration ist erre­gend. So lese ich weiter, versenke mich tiefer, ver­schenk mich an diese Dichtung. Es war in meiner Versehrtheit dieses Trie­fen und Tropfen, und heute muß ich nicht mit einer weiteren Ein­sam­keitsat­tacke rechnen, Max Ernst pflanzte die Akelei als Blume der Melancholie; heute morgen das Gestrüpp im Blumentopf; (»Emo­tion von Blu­men«, JD), und jetzt, naturge­mäß, Thomas Klings Bekräfti­gung, die her­risch nach vorn drängt, unmißverständlich (da­her, umge­hend, aus »Stadtpläne, Stadt­schriften« her­ausklamü­sert):

Genauigkeit in der Wahrnehmung von Sprache heißt immer auch Einbezie­hung der Geschichte von Sprache, Einbeziehung von Wortgeschichte: Ohne Kenntnisse von Etymologie kommt kein Dichter, keine Dichterin aus. Ohne geschultes Gehör, erstens, kommt der Dichter nicht aus, der beim Schreiben wissen muß, was ge­hört werden kann; kommt, zweitens, die Le­ser- bzw. die Hö­rerschaft nicht aus: sie soll den Sound, den Rhythmus des Produkts ja sinnlich erleben. Dieses Verstehen über den Körper erfordert keine Vorkennt­nisse (z.B. von Geschichte): Zum Tanz der Sprache bei der Lektüre kann es selbstverständlich nur kommen, wenn das Gedicht in sich stimmig ist. Dann aber kann (sich) das Gedicht bewegen, kann Zeit und Raum auf den Punkt bringen.

Stichpunktspiel: etwas (ruhepunktlos?) auf den Pluspunkt bringen · ist doch eine Redensart (nicht wahr?) wie · der wunde Angelpunkt · et­was Tiefpunkt für Stützpunkt besprechen / prü­fen · das Minus­pünkt­chen / der Schwerstrafpunkt auf dem i · auf den / zum Dreh­punkt kommen · auf den Orientierungspunkt genau (archime­disch licht­punktgenau) · um Knack­punkt 10:06 Uhr am 31. Januar 2012 · (Re­densart bleibt Redensart – egal welcher Blickpunkt) · Nun mach aber einen Richtstrichpunkt / · Dies ist der An­satzzündpunkt · Das ist der Pro­grammfixpunkt: a komma punkt · Jenes ist der Höhepunk.t · Jetzt mach ich einmal einen Dop­pel­punkt à la Friederike M. : • (Grenz­punktgewinn) … ich sehe keinen Endpunkt

33 · Im Dreiklang im Dickicht des Waldes

mein Schein Gekritzel mein Schnee Gekritzel
mitten im Juli
Friederike Mayröcker

Ich lese · denke · danke · schreibe · schweige, während drauszen der Sturm / während mein Herz sich bäumt wie die Büsche am Hang, lausche den Wörtern der Friederike Mayröcker (die sich, zerzauste Stimmchen, zu Or­ten und: ›Worten‹ wandeln), und Bensch fragt: Willst du auch das letzte Rätsel dieses dich gleichsam ›unend­lich‹ an May­röckers Dich­tung Fas­zinie­renden lösen? (Ulrike Draesner nennt es »das eisenharte, weiche may­röckersche Schreiben«.) Einfach, klar, unmittelbar, ulti­mativ kommt die Antwort: Nein, nein, nein, ich will es nicht. Und höre Joseph Con­rad souf­flieren: »The power of sound has always been greater than the power of sense.«

Was den Umstand angeht dasz ich nicht mehr wuszte, auf welchem Flugplatz ich mich verirrt hatte, verzwei­felt hin- und herrannte und dasz Ely mich end­lich : ich meine er warf die Arme hoch und rief meinen Na­men, gefunden hatte an diesem schütteren Abend, dasz ich zermalmt zermahlen untergegan­gen – die Schwindelanfälle, der rasende Schnürschuh, die fabel­hafte Folie der Frühe, sage ich, 2 kl.Löffel in einer Tasse, 1 offene leere Schubla­de als Tisch­chen benützen, 1 sausende Un­terhose, Erstickungsanfälle beim Frühstücken, will man die Zeit aufhalten / zurückhalten / anhalten indem man sich in ihre Mähne fest­krallt, dann halte ich mir die Backe dann schürze ich die Lippe dann bin ich scheintot, so­bald ich den Supermarkt betrete, bin ich gerührt. Im Dreiklang im Di­ckicht des Waldes näm­lich dasz ich die Blumen zerdrücke, 1 Re­seda : 1 zärtli­che Hysterikerin ich verschwei­ge den Namen, sage ich, im­mer wieder verlor ich den Boden un­ter den Füszen, »ich habe Namenstag«, schreibt JD, ich falte die Hände und hocke mich ins Geäst, was ich jetzt schreibe ist vielleicht gefaltet : et­was Gefaltetes, 1 gefalteter Clothmantel wie ich ihn in der Volks­schule trug, an der Straszenecke verstreute Butter­blumen, 1 Urinoir wie hl.Flo­rian in Morgenröte, Duchamp, Huflattichblätter 1 Wiesen­grund : die Erzengel spucken ihm.

Du spürst es nicht, kannst die bis in Fingerbeere, Haarspitze, Pore emp­fundene und am liebsten wortlose ›Be­geisterung‹ für die dialo­gisch polyphonen »sprachlichen Gebilde, die in sich stehen«, wie Gadamer es ins Wort faßt, nicht nach­emp­finden? »Hier spricht die Sprache« · Roland Barthes. Und Bensch blickt mich, ein wenig rat­los, an, Kraus mit kühlen Augen, in denen ich die »Unlesbarkeit dieser / Welt« (P.C.) zu erkennen ver­meine. Bin ich also alleingelassen? Oh, nein. Ich lausche Hélène Gri­maud, wie sie, zauberhaft luft­malerisch, Mozarts Klavierkonzert Nr. 19 spielt, und die Augen gehen hin zu dem von Gedicht­büchern einge­rahm­ten Trip­tychon, das, rechts vom Schreibtisch, den Blick immer wieder, ma­gisch, anzieht. ›Vollen­det‹ ist diese kleine »petersburger hängun’« (Thomas Kling), seit A. J. Weigoni (dem ich zudem Gri­maud ver­danke), mir den post­kartenklei­nen apfelsinengelbfarbenen Akt von Haimo Hieronymus schenkte, den ich, im Zusammenspiel mit R. A. Westphals grauem »Schama­nen«, der, naturgemäß, pfeiferau­chend, trommelschlagend im Weltenbaum hockt, und Gunter Lo­renz tieftrau­rigschwar­zem »Stein­kreuz Schmer­zensmann« unmittelbar als Drei­klang erlebe, der mich seitdem, in hellbraunen Rahmen, rund um die Uhr begleitet. – – –

»Mach die Augen zu, hör diese Stille«, sagt meine Begleiterin, als wir, am 6. Februar 2012 gegen 14 Uhr, aus dem Wald heraustreten, »ich steh auf den Treppen des Windes« (Rolf Bossert), aber nein, aus­nahms­weise ruht ›das himmlische Kind‹ einmal, und der Blick fließt über viele Kilome­ter hin zum weiten Hori­zont, hinweg über die sanf­ten, weiterhin weißen Weidenhügel, »redefined by the snow and, at the same time, perfected, made abstract, like the world in a blueprint« (J.B.), wo kalthellgrellblauer Himmel und schneebedeckte Erde in meinen Augen zusammenfinden, »a brilliant circle of light« (J.B.), dasz ich blin­zeln musz, heute morgen schreibt Christel Fallen­stein: »Hier liegt auf allem auch schon eine dicke Schnee­schicht – und die Schneeflocken rieseln und tanzen und wirbeln manchmal sogar auf­wärts – Wien hat viel Wind – sogar in diesem völlig um­bauten Innen­hof, in dem mein einziger, nun fast weißer Baum steht«, und ich schließe, augen­blicklang, die Augen und höre das Summen der Stille, für einen Moment zieht sich der Gedanke an Reise durch die Nacht, das ich am Morgen bestellt habe, zu­rück, wir stehen still; schon gehen wir wieder – »Dreifach ist der Schritt der Zeit, / Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, / Pfeil­schnell ist das Jetzt entflogen, / Ewig still steht die Vergangenheit« (Friedrich Schiller) –, auf dem­selben Weg, den wir gekommen sind, nach Hause, auf die große Runde verzich­ten wir heute, zu sehr zieht es, was ist ›es‹ (ist es die Zukunft?), mich zurück nach Hause, wo Burn­sides ›sinister‹ »Glister«, das ich seit dem Vor­abend lese, mich ungeduldig erwartet, schweigend gehen wir ne­ben­einander, da fällt mir Tonino Guerra vor die Füße: »Diesen Winter saß ich stun­denlang am Fenster und schaute zu, wie der Schnee fällt«, und indem ich dem fortwährenden Knirschen der kleinen Schritte von Mrs C. und der größeren Schritte von mir lausche, denke ich zum erstenmal, und hätte ich dieses mein Schreiben nicht, Wort für Wort im Rhythmus meiner Schritte vor mich hin­murmelnd, den Ge­danken (wie viele Gedanke denke ich dutzende, hunderte, tau­sende Mal?): Wir zerstampfen die ›Gegenwart‹, lassen sie, Schritt für Schritt, als ›Vergangenheit‹ hinter uns liegen, ren­nen, blind­lings, in die ›Zukunft‹. Und frage mich hernach, mit Augustinus: »Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fra­genden erklären, weiß ich’s nicht.« In Sophie Reyers Gedicht steht »die ge­zirpte zeit«, und im Garten fliegt, kein Som­merlaub in Sicht, ein Spat­zenschwarm, mit Schnee in den Augen, auf.

→ Teil 1

→ Teil 4/5

→ Teil 6/7

Der abschließende 8. Teil des Essays Überschwemmt, die Lust am Taumel (Matrix 28, S. 17 – 34) folgt morgen.

Die in den Text eingefügten Bilder stammen von Ulrich Tarlatt (Bernburg an der Saale) und sind ebenfalls in Matrix 28 zu finden.

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.