Das Ohr an den Puls der Zeit halten

 

„Der Schreibtisch des Ruhrgebiets“ war eine umgangssprachliche verwendete Metapher für die Landeshauptstadt Düsseldorf als ehemaligen Verbands- und Verwaltungssitz vieler Eisen und Stahl produzierender Betriebe des Ruhrgebiets.

Als multimedial arbeitender Schriftsteller hat A.J. Weigoni das Tonstudio an der Ruhr als verlängerten Schreibtisch verstanden. An dieser „Werkbank“ wurde zwischen 1995 und 2020 in Zusammenarbeit mit den Komponisten Tom Täger eine ganz spezielle Form der audio-art produziert. Und das lange bevor der Begriff „Alleinstellungsmerkmal“ lanciert wurde.

 

Tonstudio an der Ruhr, historische Aufnahme – Das Urheberrecht für dieses Photo liegt Andreas Mangen.

 

Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.

lyrikwelt.de

Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 mit Frank Michaelis die LiteraturClips auf CD (der Claim für Klangbücher war noch nicht abgesteckt) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten.

Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters.

In Düsseldorf betrieben A. J. Weigoni und Frank Michaelis im Akademie-Umfeld mit der Literatur eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung. Es entstand eine Poetik der Verflüssigung, einer Auflösung fester Grenzen zwischen den Kunstformen. Diese Artisten schätzen Experimente mit akustischen und elektronischen Klängen, sie haben ein Faible für die freiere Rhythmik von Regungen und Bewegungen, der Verbindung von Melodie und Experiment, der Offenheit und das In-der-Schwebe-Halten von Stücken; das Ausbrechen aus vermeintlich vorhersehbaren Strukturen, eine Bricolage aus Pop-Klischees und Erwartungen. Synthese und Synästhesie liegen offensichtlich nicht nur lautlich nah beieinander, die Erfindung der Aufnahmetechnik wird von ihnen als ein Moment der Befreiung gedeutet. Bereits 1991 legte dieses Duo die zum Schlagwort gewordenen LiteraturClips vor. Diese LiteraturClips mögen heiße Luft sein, sind aber angereichert mit purem Sauerstoff. Sauerstoffhappen, eher Häppchen, die den Ohrganismus am Überleben halten. Das frühzeitige Erkennen, daß in der Kürze der einzelnen Beiträge der Erfolg zum langen Atem liegt – beim Produzenten vielleicht, beim Zuhörer gewiss – ist sehr hoch anzurechnen. Mit der Kürze entsteht eine Konzentration auf das Elementare.

Ruhrgebeat

1995 begann die Zusammenarbeit A. J. Weigoni und Tom Täger. Dieser Hörspielkomponist hat ein Faible für Trash, ihn faszinieren die technischen Entwicklungen der elektronischen Medien. Seine vielgestaltige Arbeit als Musiker und Produzent im Tonstudio an der Ruhr läßt sich exemplarisch an der Produktion RaumbredouilleReplica darstellen. „Was heute noch wie ein Märchen klingt…“ – so haben sich die Deutschen in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts die Zukunft vorgestellt, als militärischen Staat, in dem die Akteure in einem Rhythmus reden, der sich als Vorläufer des Raps hören lässt. Bei der Hörspielcollage RaumbredouilleReplica geht es in einer Invasion der Geistesgegenwart um alles: Die Bedrohung der Erde. Einen gesteuerten Schnellläufer. Eine Invasion und natürlich: Die Rettung der Erde. Selbstverständlich mit einem Humor, der Lichtjahre von der Spass- und Eventkultur dieser Tage entfernt ist.

Was 1995 begann fand in 2015 die mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen crossmedialen Zirkelschluss, zu dem Täger als Hörspielkomponist mit Señora Nada eine Musik der befreiten Melodien zelebiert oder bei dem zweiten Monodram Unbehaust eine Klang-Collage aus Papiergeräuschen anfertigt. Weigoni bewegt sich auf dem Hörbuch Gedichte in der Intermedialität von Musik und Dichtung, er sucht mit atmosphärischem Verständnis die auditive Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!

Einen würdigen und vor allem stilvollen Abschluss findet die Zusammenarbeit A. J. Weigoni und Tom Täger nach einem viertel Jahrhundert mit dem multimedialen Projekt 630. Es ging bei der Zusammenarbeit um eine Synthese, die Alchemie des Zusammenbringens, die Erweiterung der Vorstellung, was mit Literatur, Musik und Kunst möglich ist.

MetaPhon

Dokumentiert wird das, was in den 1990ger Jahren als audio-art begann, auf der Plattform vordenker.de mit der Reihe MetaPhon, in der Facetten der multimedialen Kunst und des Hörbuchs zugänglich gemacht werden.

Man kann vor dieser Entwicklung die Augen verschliessen, aber nicht die Ohren.

 

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Die Hörbücher, die in der Retrospektive MetaPhon vorgestellt werden, sind erhältlich über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de

Weiterfühend → Diese Titelgebung ist reinste Camouflage, gleichzeitig markieren die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der Pop-Literatur. Zum Abschluss des Projekts „Kollegengespräche“ wird der Frager zum Befragten, Thema ist die Zeit als der der Claim für Klangbücher noch nicht abgesteckt war. Ergänzend dazu Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters.