Die Fackel, mehr als eine Literaturzeitschrift

KUNO konsultiert den Wert des Analogen und dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck. Wir stellen in diesem Online-Magazin gerne Literaturzeitschriften vor, auch Klassiker.

In der Vorrede zur Fackel sagt Kraus sich von allen Rücksichten auf parteipolitische oder sonstige Bindungen los. Unter dem Motto „Was wir umbringen“, das er dem reißerischen „Was wir bringen“ der Zeitungen entgegenhielt, sagte er der Welt – vor allem der der Schriftsteller und Journalisten – den Kampf gegen die Phrase an und entwickelte sich zum vermutlich bedeutendsten Vorkämpfer gegen die Verwahrlosung der deutschen Sprache.

Die Fackel kam als Heftchen mit rotem Umschlag heraus, etwa im Format DIN A5. In den ersten Jahren zeigte das Titelblatt die Zeichnung einer Fackel vor der Silhouette Wiens mit dem Symbol des Theaters und der darstellenden Künste – der antiken Theatermasken, die Komödie und Tragödie symbolisieren. Da sein ehemaliger Verleger sich darauf die Rechte gesichert hatte, erschien Die Fackel später mit einem nüchternen Titel, der nur aus Text bestand.

Von Anfang an stammten die Beiträge vorwiegend von Kraus, in den ersten Jahren erschienen aber auch Beiträge anderer Autoren in der Fackel, unter anderem von: Peter Altenberg, Houston Stewart Chamberlain, Egon Friedell, Karl Hauer, Else Lasker-Schüler, Detlev von Liliencron, Adolf Loos, Frank Wedekind.

Von 1912 an bis kurz vor seinem Tod (die letzte Fackel erschien im Februar 1936) waren (mit seltenen Ausnahmen) alle Originalbeiträge der Fackel von Kraus selbst geschrieben. Umgekehrt ist der überwältigende Anteil seines Werks in der Fackel zu finden; nur wenig hat er außerhalb der Fackel publiziert.

Die gesamte Fackel umfasst über 20.000 Seiten und 922 „Nummern“, wobei Karl Kraus es sich zur Gewohnheit machte, Doppel-, Dreifach- und Vierfachnummern erscheinen zu lassen. Von der ersten Vierfachnummer im Sommer vor dem Ersten Weltkrieg variiert der Umfang bis hin zu den 316 Seiten der Sechzehnfachausgabe Nr. 890 bis 905 mit dem Titel Warum die Fackel nicht erscheint. Die Fackel erschien infolge dieser engen Bindung an den praktisch einzigen Autor unregelmäßig (oder wie Kraus es selbst formulierte: in zwangloser Folge), mit gelegentlichen Unterbrechungen, die sich auf Reisen, Besuche, Sommerfrischen usw. zurückführen lassen.

Fackel und Bücher waren, obwohl ursprünglich lukrativ, zu einem Verlustgeschäft geworden, und Kraus starb fast mittellos. Die Erlöse seiner vielen Lesungen hatte er ausnahmslos für gemeinnützige Zwecke gespendet. Der Nachlass reichte knapp hin, um die Kosten des Begräbnisses zu decken. Ein weiteres Heft der Fackel hätte er vielleicht nicht mehr finanzieren können. Ein Karl-Kraus-Archiv wurde gerade eben rechtzeitig vor 1938 in die Schweiz gebracht: was in Wien blieb, wurde geplündert und vernichtet. Obwohl es keinen geschlossenen Nachlass gibt, befindet sich ein großer Teil davon heute in der Wienbibliothek im Rathaus.

Kraus und seine Zeit hatten sich auseinandergelebt. Wenig ließ darauf schließen, dass die nach seinem Tod durch andere Geschehnisse tiefgreifend veränderte Nachwelt ihm Interesse entgegenbringen würde. Und wirklich: Kraus ist postum noch mehr als zu Lebzeiten ein „Geheimtipp“, mag auch sein Werk von Zeit zu Zeit in literarischen Kanons empfohlen werden. Viele seiner Schriften behandeln Wiener Affären von vor hundert Jahren; man muss nicht den „bildungsfernen Schichten“ angehören, um diesen Stoff uninteressant zu finden, und ein vollständiges Verständnis ist nur im Kontext der Zeitgeschichte und des Fackel-Laufs möglich – idiosynkratisch österreichisch nannte es jemand aus dem englischen Sprachraum, dessen Leser zusätzlich durch die Sprachbarriere gehindert werden.

Und dennoch ist das Werk zeitlos. Es findet Leser, die sich von Kraus’ Meisterschaft der satirischen Form angezogen fühlen – eine Satire, die in einer solchen Weise aus der Sprache lebt, dass Kraus’ Werke sehr schwer übersetzbar sind. Viele Themen der Fackel sind auch nach einem Jahrhundert nicht erledigt. Dass Kraus sich keiner Ideologie, Schublade oder Partei unterordnete, vielmehr (fast) jedem auf die Zehen trat, hat seine Popularität bereits zu Lebzeiten begrenzt; er konnte weder der Säulenheilige der Revolution noch der Reaktion sein, seine Schriften waren weder für Bibelkreis noch für Synagoge geeignet, und weder Patriarchen noch Emanzen konnten mit ihm voll übereinstimmen.

Kraus’ Werk ist also heute wie damals im Vergleich zu seiner Bedeutung wenig bekannt. Man muss allerdings bedenken, dass Kraus einer der ganz wenigen (wie etwa Kurt Tucholsky) ist, denen es gelang, mit journalistischen Arbeiten die schriftstellerische Spitze zu erreichen und deren Werke zum Tagesgeschehen einer längst vergangenen Zeit heute noch geschätzt und gelesen werden. Tatsächlich sind die meisten seiner Gegner heute überhaupt nur – außer als Fußnote in Geschichtsbüchern – bekannt, weil sie von der Fackel erledigt wurden. Dies macht aber auch das bis heute Umstrittene an Kraus aus: dass er im „Erledigen“ maßlos war und kaum ein noch so bedeutender Zeitgenosse seinen Kampagnen entgehen konnte. 1984 schrieb Hellmut Andics von Kraus’ „Demoliertätigkeit an literarischen Denkmälern“ mit der Fackel als „Exekutivorgan einer kulturellen Sittenpolizei, und mit der Mentalität eines Prügelpolizisten ging Karl Kraus auch gegen die intellektuelle Unterwelt vor. Was „Unterwelt“ war, entschied er selbst als Ankläger, Richter und Henker in einer Person.“ Selbst im Tod hoffte Kraus nicht auf Ruhe, im Gegenteil:

Wortverbunden bleib ich den Gestalten,
gegen die ich mich des Geistes wehre. […]
Dreist entreiß ich mich dem faulen Frieden,
nichts zu haben als die Totenstille […]
Todesfurcht ist, daß Natur mich bringe
einst um alles mir lebendige Grauen.
Jener ewigen Ruh ist nicht zu trauen.
Ich will leiden, lieben, hören, schauen:
ewig ruhlos, daß das Werk gelinge!

Auf die österreichische Literatur hat er bis zur Gegenwart große Wirkung. Repräsentativ dafür ist die Haltung Elias Canettis, der sich als Goethe-Leser von der unbedingten Verpflichtung auf Kraus als Vorbild befreite, seine dann sehr kritische Haltung aber nach der Publikation von Kraus’ Briefwechsel mit Sidonie Nádhérny in den siebziger Jahren änderte. In der Literaturkritik berief sich in Österreich Edwin Hartl jahrzehntelang durchgehend auf Karl Kraus als überragenden Maßstab, so wie später Wilhelm Hindemith in Deutschland. Der Essayist Erwin Chargaff bezeichnete Karl Kraus in einem Interview mit der Biographin Doris Weber als seinen „einzigen wirklichen Lehrer“. In die Reihe der Kraus-Rezipienten reiht sich auch der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen ein. Im sei das Schlußwort überlassen:

Während ich am „Kraus–Projekt“ arbeitete, war ich mir bewusst, dass seine Form der des Online–Diskurses ähnelt, zumal zu vielen der Fussnoten ja das (via Internet geführte!); ich hatte die leise Hoffnung, dass sorgfältige Leser schon merken würden, dass das Buch das Internet selbst dann affirmiert, wenn es das Netz eigentlich angreift. Aber der Hauptgrund für die Anmerkungen ist, dass Kraus selbst der grosse Anmerker war, der grossartige frühe postmoderne Meister des Zitats und der Glosse, der direkte Vorfahr der Blogger von heute.

 

 

***

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.