Texte sind Räume

 

„Hier war ich“: Ein selbst gebasteltes Lesezeichen, das mir mein acht Jahre junger Sohn Timo zu Weih­nachten schenkte, steckt zwischen den Seiten von „Zug ohne Räder“, dem Buch mit lyrischer Prosa von Francisca Ricinski. Die Worte „Hier war ich“, die eigentlich nur den Standort der Lektüre kennzeichnen sollten und zunächst rein pragma­tischen Charakter hatten, können, so fiel mir beim Lesen auf, auch auf die literarische Existenz der in Rumänien gebo­renen Dichterin übertragen werden, die seit 1980 in der Bundes­republik Deutsch­land lebt. Voraus­gegangen war eine fort­ge­schrit­tene Schreib­karriere in einem Land und zu einer Zeit, als Dichtung im Leben der Menschen noch stärker verwurzelt war. Francisca Ricinski befand sich auf einem viel ver­sprechenden Weg, ehe sie Rumänien aus fami­liären Gründen verließ, um in Deutsch­land in einer Kultur Fuß zu fassen, die sich von ihrer Heimat wesentlich unterschied. Die Übersiedlung ging mit dem Verlust des mutter­sprachlichen Fundamentes einher, auf das die Literatin bis dahin aufgebaut hatte. In Deutschland begegnete sie der Heraus­forderung, sich eine Sprache aneignen zu müssen, die keine Ähnlichkeiten mit dem Rumänischen aufweist. Eine Sprache, die keine Strukturen für sie bereithielt, mit denen das bereits gediehene Schreibleben hätte bruchlos fortgesetzt werden können.

Verspätete Briefe

Seither sind achtundzwanzig Jahre vergangen. Francisca Ricinski ist deutsche Staatsbürgerin geworden und hat sich so tief in die deutsche Sprache hineingedacht und hineingefühlt, dass sie Literatur von be­eindru­ckender Komplexität in dieser verfasst. Davon zeugt auch das neue Buch „Zug ohne Räder“, das zweisprachig vorliegt und im Dezember in der „Editura Fundatiei Culturale Poezia“, einem rumänischen Verlag, erschien. Bezeichnenderweise wurde es nicht lediglich vom Rumänischen ins Deutsche übersetzt, sondern von Francisca Ricinski auf Deutsch erdacht und geschrieben. Es enthält auf 180 Seiten meist kurze, selten mehrseitige Texte, die man keiner gattungsspezifischen Schublade zuordnen kann, weil Stil, Konzeption und Inhalt sich gegen einengende Typisierung sträuben.

Ricinskis Texte sind Räume. Räume, in denen Möbel aus Literatur, Musik, Theater, Kunst, autobiographischer Realität und Fiktion zu einem surrealen, melancholischen Ensemble verschmelzen. Im ersten Abschnitt des Buches sind diese Worträume als verspätete Briefe an längst verstorbene Dichte­rinnen und Dichter gerichtet. Virtuell wird in ihnen möglich, was real weit abseits von dem liegt, was erfahr- und erlebbar ist: „Als du, lieber Benn, starbst, war ich fast dreizehn und schrieb mein erstes Gedicht an die Sonne. Wenige Jahre später hättest du vielleicht deinen letzten Liebesbrief nicht mehr Ursula Ziebarth, sondern mir, deiner 26. Geliebten, gesandt. / Du wärest in der Frühe gekommen. Allein der Anblick meiner Beine aus Meerschaum hätte dich gefesselt. (…) Ich weiß noch nicht, ob du Gefallen an meinen Liebes- und Wortfantastereien gefunden hättest, und so schreibe ich dir in diesen Tagen und Monaten an deine vom Regen verwischte Adresse.“

Das Schweigen der Steine verletzen

Neben Gottfried Benn werden unter anderem Else Lasker Schüler, Albert Camus, Rainer Maria Rilke, Fernando Pessoa, Marcel Proust, Samuel Beckett, Sarah Kane und George Tabori unmittelbar angesprochen. Deren Leben und Wirken wird dabei zum Ausgangs­punkt der Reflexionen, die auch dann über sich selbst hinausweisen, wenn sie im Eigenen ansetzen. Ricinskis Texte haben eine schwerblütige Grundierung. Die Lebens­jahr­zehnte der heute in Bonn ansässigen Dichterin, haben das menschliche Bedürfnis sich in der eigenen Biographie aufgehoben zu fühlen, nur selten gestillt. Francisca Ricinski ist in ihren Sprachräumen auf der Suche nach dem, was es bedeutet, gegenwärtig zu sein. Gegenwart, die ganz entscheidend von den Orten abhängt, an denen wir uns aufhalten und den Verflechtungen, in die wir uns an diesen verstricken. Orte, die man im Zusammenleben mit anderen auch sprachlich verinnerlichen muss. Ricinskis Motor der literarisch-künstlerischen Auseinandersetzung ist dabei die eigene Vergangenheit. Immer wieder tauchen autobiographische Bruchstücke auf, die im fiktionalen Kontext aufgehen und ahnen lassen, wie schwer es für einen Wortbewohner sein muss, an einem Ort zu leben, an dem seine Worte keine Bedeutung mehr haben. In einem Brief an Tabori heißt es beispielsweise: „Vielleicht ist das Theater meine einzige Heimat“, sagten Sie. Wissen Sie, was ich mir einbilde? Dass meine Heimat das Schreiben von Worten sei, die, ohne sich zähmen zu lassen, sich unter meinem Dach sammeln und für mich sprechen.“

Oder, an Camus gerichtet: „Eine Zeitlang konnte ich auch nicht die Trennung vom Meer verkraften. Erst als ich am Fluss wohnte, dachte ich nicht mehr an Tod. Aber manchmal war ich nicht weit davon, jedes Ding zu zerstören, die kleinste Geste zu untersagen, die das Gleichgewicht eines Tages oder den Frieden des Ufers getrübt hätte. Es hätte gereicht, wenn die Fähre beim Anlegen oder ein Radfahrer das Schweigen der Steine verletzt hätte.“

Dichter sind Heimatlose

Francisca Ricinski befindet sich in ihren Texten auf einer virtuellen Reise. Dies wird auch in der Titelwahl deutlich. Ein Zug ohne Räder fährt nicht und kommt daher nirgendwo an. Anzukommen ist auch nicht beabsichtigt. Die durch und durch lyrischen Texte stehen wie Gedichte für sich selbst und laden den auf dem Bahnsteig lesenden Fahrgast ein, einzusteigen, um mit eigenen Assoziationen fortzufahren. Dies besonders dann, wenn Texte mit Sätzen wie beispielsweise diesem enden: „Wie leicht muss dein Schlaf gewesen sein, dass du die Bleistiftspur auf diesem Blatt hörtest!“ Wie schwer muss es gewesen sein, Sätze zu fügen, die beim Lesen mit einer Leichtigkeit haften bleiben, als würde man sie mit Bleistift auf die Haut schreiben.

„Dichter sind Heimatlose und suchen ein Leben lang nach Wohnung und Nest, in dem sie sich, stundenweise wenigstens, zuhause fühlen dürfen“, heißt es im Nachwort des Buches, das Theo Breuer verfasst hat. Das Suchen ist gerade für jene Dichterinnen und Dichter prägend, die die Heimat verlassen und ihr Handwerk anschließend an einem Ort und in einem Land ausüben, in dem sie nichts mit ihrer bisherigen Schreibkunst anfangen können. Dies ganz besonders in Zeiten, in denen die Menschen aufgrund der technischen und politischen Gegebenheiten noch nicht so nah zusammen­gerückt waren wie heute. Auch Francisca Ricinski, das merkt man in „Zug ohne Räder“ immer wieder, ist hin- und hergerissen zwischen hier und dort. Manchmal richtet sie ihre Briefe als Wundprotokolle an die eigene vom Leben verwischte Adresse und spürt: Hier war ich, …aber vielleicht wäre ich besser dort gewesen.

 

 

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Zug ohne Räder / Trenul fara roti, lyrische Prosa, rumänisch und deutsch von Francisca Ricinski. Nachwort von Theo Breuer, Editura Fundatiei Culturale Poezia, Iasi/Rumänien 2008.

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