Der Dirty Old Man der US-Literatur

Eine weitere Erinnerung an die „Dirty Speech“-Bewegung in der BRD, die 1969 mit der Rolf Dieter Brinkmanns „Acid“ zu verorten ist. Es war eine Anthologie amerikanischer Beatliteratur, gesammelt und damit den Versuch eröffnend, auch in der deutschen Dichtung die bürgerliche Moral zu brüskieren, lyrische Formen zu banalisieren, den Alltag zum Thema zu machen und Sex, Brutalität, Perversion als Sujets zu akzeptieren. Hier spricht das Original, der Dirty Old Man:

 

Alles

läuft prima
die Flasche geleert
und weg damit –
die Gedichte brodeln in meinem
Schädel

aber
auf halber Strecke zwischen 60 und
70
überlegt man manchmal,
bevor man die zweite Flasche aufmacht
Es wird nicht gerade ein Temperenzler aus ihm,
aber nach 50 Jahren
Saufmarathon
fragt man sich schon,
ob man
nach der nächsten Flasche
vielleicht lallend
in einem Pflegeheim landet
oder einsam zuhause
an einem
Herzinfarkt verreckt
und einem die Katzen das Fleisch abnagen,
während der Morgennebel
durch die kaputte
Fensterscheibe dringt.

So desillusioniert beschreibt sich Charles Bukowski im Gedicht Alt und versoffen. Vor 30 Jahren hat der Dirty Old Man der US-Literatur seinen letzte Drink gekippt. Was wie eine Zurücknahme des Literarischen aussieht, ist in Wirklichkeit eine kalkulierte und sehr effektvolle Entschlackung. Bukowski ist ein anarchischer, formal undomestizierter Autor aus Kalkül. Es hatte zu diesem Stil gefunden, als Karl Ove Knausgård noch in den Windeln lag.

Natürlich ist mein Zeug nicht sorgfältig gearbeitet, sondern schnell hingehauen. Darum geht’s doch grade. Ich notiere mir, was ich brauche. Lyrische Tricks und Formkram fand ich schon immer sterbenslangweilig.

Charles Bukowski

Heinrich Karl Bukowski, später Charles, wurde am 16. August 1920 als einziges Kind der Eheleute Katharina Fett aus Andernach und Henry Heinrich Bukowski geboren. Der Vater ist ein deutschstämmiger Amerikaner aus Pasadena. 1923 kam Bukowski im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern nach Los Angeles. Nachdem sein Vater seinen Wehrdienst abgeleistet hatte, fand er jedoch nur eine Arbeit als Milchlieferant. Die Familie lebte aus diesem Grund zeitweise in ärmlichen Verhältnissen. Regelmäßig betrog der Vater außerdem Bukowskis Mutter mit anderen Frauen, betrank sich und misshandelte seinen eigenen Sohn körperlich. In die Pubertät gekommen, litt Bukowski zudem an starker Akne und hatte am ganzen Körper Pusteln, weshalb er ein ganzes Jahr nicht die Schule besuchen konnte (dargestellt in Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend).

Die Lyrik geht auf die Straße, in die Puffs, in den Himmel, den Picknickkorb, die Whiskeyflasche

Charles Bukowski

Nach der Schule studierte Bukowski zunächst Journalismus am Los Angeles City College und versuchte sich bereits in jungen Jahren zunächst erfolglos als Schriftsteller. Alkohol hatte früh in seinem Leben Bedeutung. Viele Jahre lang lebte er wenig sesshaft, hatte zahlreiche Jobs, saß für kurze Zeit wegen Trunkenheit im Gefängnis und sogar in der Psychiatrie. Stationen dieser Wanderjahre waren unter anderem New Orleans, Miami Beach, New York City, Atlanta, Chicago und Philadelphia. 1943 wurde er gemustert und als physisch sowie mental untauglich für den Militärdienst eingestuft, weshalb ihm ein Einsatz an den Fronten des Zweiten Weltkrieges erspart blieb.

“Worship Kerouac and Bukowski. God forbid you pick up anything by Jane Austen.” (Paris Geller)

“Hey, I’ve read Jane Austen,” Jess Mariano responds:

“And I think she would have liked Bukowski.”

Amy Sherman-Palladino (Gilmore Girls)

1947 kehrte Bukowski nach Los Angeles zurück und lernte die zehn Jahre ältere Jane Cooney Baker (1910–1962) kennen, mit der er bis Anfang der 1950er-Jahre zusammenlebte. 1952 arbeitete er für etwa drei Jahre beim United States Postal Service als Briefzusteller. 1954 wurde er wegen einer Magenblutung, die beinahe tödlich verlaufen wäre, in ein Krankenhaus eingeliefert. Nach seiner Entlassung begann er erstmals, Gedichte zu schreiben. Ende 1955 heiratete er Barbara Frye, von der er sich 1958 wieder scheiden ließ. Frye, die aus einer vermögenden texanischen Familie stammte, war selbst Schriftstellerin und zugleich Herausgeberin eines kleinen, alternativen Literaturmagazins namens Harlequin.

Lyrik interessiert mich eigentlich nicht. Ich weiß nicht, was mich interessiert. Vielleicht Unverschnarchtheit. Echte Lyrik ist tote Lyrik, egal wie hübsch sie daherkommt.

Charles Bukowski

Anfang 1958 war Bukowski wieder bei der Post angestellt, diesmal im Innendienst. Er arbeitete elf Jahre als Briefsortierer. Seine Erlebnisse als Angestellter des United States Postal Service verarbeitete Bukowski in seinem 1971 erschienenen ersten Roman Der Mann mit der Ledertasche (Post Office). Mit dem Schreiben versuchte er sein ruiniertes Leben zu verarbeiten, sein Werk besteht zum Großteil aus Alltagsbewältigungen und Selbstbeobachtungen. Wenn er sich nach dem dummmachenden Tagelöhner- und später Post-Job am Abend an die Schreibmaschine setzte, mit einem Sixpack oder einer Flasche Wein, schrieb er sich den Rotz, den Jammer und die Demütigungen von der zerfressenen Seele. Im Januar 1962 starb Bukowskis frühere Lebensgefährtin Jane Cooney Baker, laut Bukowski infolge ihres übermäßigen Alkoholkonsums.

Ich bleibe dabei – und ihr kennt mich gut genug um das jetzt nicht in die falsche Kehle zu kriegen –: Personenkult ist Scheiße.

Charles Bukowski

1962 brachte die Literaturzeitschrift The Outsider eine Sonderausgabe über Bukowski und verlieh ihm den Titel „Outsider of the Year“. Die Verleger der Zeitschrift, Louise und John Webb, brachten 1963 auch Bukowskis ersten großen Gedichtband heraus (It Catches My Heart in Its Hand). In der Zeit als Briefsortierer fing Bukowski zudem an, wöchentliche Kolumnen für die Alternativzeitung Open City in Los Angeles zu schreiben. Ein Teil der Kurzgeschichten erschien später in Buchform (Notes of a Dirty Old Man). Bukowski beschreibt die Welt der Individuen am Rand der Gesellschaft und entfaltet sie in unzähligen Variationen. Jede Story ist ein Blick in den Mikrokosmos abseitiger, menschlicher Existenz. Es geht um die Abgründe des menschlichen Charakters, um staatliche Kontrolle und Repression, um oberflächlichen Sex (Keine Quickies), um miese Jobs und fortwährend um verkorkste Beziehungen. Obwohl es dauernd um Sex geht, hat es in Bukowskis Welt wenig Emotionen, kaum Empathie und selbstverständlich keine Schamgrenzen. Ein desillusionierte Außenseiter schreibt gegen das öde Leben in der Gosse an, das sich in ungezieferbefallenen Absteigen zwischen Prostituierten, Dauersuff und Pferdewetten abspielt. Bukowski wird zu einem Chronisten des gescheiterten American Dream.

Meine Gedichte sind nicht das Ergebnis sorgfältiger Planung sondern entstehen blind, jedes Wort ist ein Zufallsfund und folgt einem eher fließenden Konzept, von dem ich mir mehr Lebendigkeit verspreche.

Charles Bukowski

Man kann Bukowski vieles vorwerfen, aber seine schriftstellerische Integrität hat er wie nur wenige zu verteidigen gewusst. Er befindet sich zeitlich und geografisch irgendwo zwischen Beat Generation und Gonzo-Journalismus, ist diesen Stilen aber nicht zuzurechnen. Er war vielmehr ein „eigenwilliges Unikum, das sich weder einordnen noch kategorisieren lässt.“  Mit seinem „Credo der absoluten, literarisch unverstellten Wahrhaftigkeit von Empfinden und Darstellung“ muss man ihn als modernen, ironischen Naturalisten sehen.

Als Schriftsteller fotografiere ich – mit Worten –, was ich sehe. Wenn ich also über ‚Sadismus‘ schreibe, dann nur, weil er existiert.

Charles Bukowski

1970 gab Bukowski die Arbeit bei der Post auf und versuchte, ausschließlich von seiner Tätigkeit als Schriftsteller zu leben. Er wird zum Begründer des „Dirty Realism“, der in unappetitlicher, aber präziser Direktheit das aussichtslose, inhaltsleere Leben der gesellschaftlich Ausgegrenzten nachzeichnete und die weniger schmeichelhafte Seite des American Dream-Mythos enthüllte. Ermöglicht wurde ihm dies unter anderem durch eine regelmäßige Zuwendung seines damaligen Verlegers John Martin von Black Sparrow Press. Er wurde zu vielen seiner Geschichten und Gedichte in dieser Zeit inspiriert durch die Bewohner East Hollywoods, wo er lebte.

Ich habe jedenfalls nicht vor, mich auf die goldenen Scheißhäuser der Kultur zu abonnieren. Schau dich um: ich lebe nach wie vor im Dreck, in den Slums, auf der Skid Row von Hollywood. Aber das ist etwas, womit ich umzugehen verstehe, deshalb bin ich gar nicht scharf darauf, daß sich das ändert.

Charles Bukowski

Seit der Erfindung des bewegten Bilds tragen die Menschen – so scheint es – eine eigentümliche Kamera im Kopf, in die sich manche Bilder tief und deutlich einätzen. Über ganz bestimmte „Momente, die das Leben beherrschen“, schreibt Hartmuth Malorny in seinen ersten Roman Die schwarze Ledertasche. Er schrieb damit die Coverversion des Trash-Klassikers Der Mann mit der Ledertasche (Originaltitel: Post Office) von Charles Bukowski, der 1971 erschienen ist.

 

Viele meiner Leser wollen, dass
ich ständig über Bettgeschichten
mit irgendwelchen verrückten Schlampen
oder Nutten schreibe –
oder dass ich im Krankenhaus oder im Knast lande
oder dass ich verhungere
oder mir die Gedärme
aus dem Leib kotze.
Ich finde auch, dass Selbstzufriedenheit
keine unsterbliche Literatur hervorbringt,
Wiederholung aber auch nicht.

Charles Bukowski

Anfang der 1970er-Jahre hatte Bukowski eine Affäre mit der Bildhauerin Linda King. Die Beziehung zog sich über mehrere Jahre hin, wobei es zu mehrfachen Trennungen mit anschließender Versöhnung kam. Die zum Teil schmerzhaften Erfahrungen dieser Beziehung verarbeitete Bukowski in mehreren Kapiteln seines Romans Das Liebesleben der Hyäne (Women). Mitte 1977 lernte Bukowski den aus Deutschland eingewanderten Fotografen Michael Montfort kennen, der auf der Suche nach Fotos für das kulturpolitische Magazin Rogner’s Magazin bei ihm vorstellig wurde. Montfort hatte als Begrüßungsgeschenk einen Karton Wein dabei und nach ein paar Gläsern ließ sich Bukowski bereitwillig fotografieren. Aus dieser Begegnung entwickelte sich eine Freundschaft, die bis zu Bukowskis Tod anhalten sollte und im Laufe derer mehrere Fotobände über Bukowski entstanden. Das tausende Bukowski-Fotos umfassende Archiv von Montfort wurde von Montforts Tochter 2014 der Huntington Library vermacht.

Charles Bukowskis Gedichte und Prosa sind dicht verwoben mit seinem Leben. Wie porträtiert man eine solche Persönlichkeit?

Der junge Fotograf Abe Frajndlich stellte sich 1985 dieser Herausforderung. So viel sei verraten: In einem Anlauf war diese Aufgabe nicht zu bewältigen. The Shooting präsentiert die fotografische Annäherung an eine Legende. Dieses Gesicht! schreibt Glenn Esterly in seinem im Band enthaltenen Essay The Pock-marked Poetry of Charles Bukowski. In Bukowskis Look konzentriert sich alles, was an dem Jahrhundertautor so faszinierend ist. Dies zeigen eindrucksvoll die großteils bislang unpublizierten Fotografien von Abe Frajndlich. In Farbe und in Schwarz/Weiß porträtierte er Bukowski und fand dessen Vertrauen, so dass er schließlich sogar zur Hochzeit von Bukowski und Linda Lee Beighle eingeladen wurde. Die Publikation erzählt die Geschichte dieser Zusammentreffen, reproduziert die Porträt-Serien und gipfelt in den Aufnahmen der Hochzeit.

Vor 30 Jahren verstarb Bukowski im Alter von 73 Jahren in seiner Wahlheimat San Pedro an Leukämie. Er wurde im Green Hills Memorial Park in Rancho Palos Verdes bestattet. Sein Grabstein trägt unter dem Spitznamen „Hank“ die Inschrift „DON’T TRY“, was laut Linda King sowohl im Sinne von „Versuche erst gar nicht, besser als ich zu sein“ wie auch als „Wenn du schreibst, versuche es nicht, sondern lass es fließen“ verstanden werden kann.

 

 

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Bukowski. The Shooting von Abe Frajndlich. 96 Seiten, 20 x 25 cm, Hard Cover. Hirmer Verlag, München 2020

Charles Bukowskis Gedichte und Prosa sind dicht verwoben mit seinem Leben. Wie porträtiert man eine solche Persönlichkeit? Der junge Fotograf Abe Frajndlich stellte sich 1985 dieser Herausforderung. So viel sei verraten: In einem Anlauf war diese Aufgabe nicht zu bewältigen. The Shooting präsentiert die fotografische Annäherung an eine Legende. Dieses Gesicht! schreibt Glenn Esterly in seinem im Band enthaltenen Essay The Pock-marked Poetry of Charles Bukowski. In Bukowskis Look konzentriert sich alles, was an dem Jahrhundertautor so faszinierend ist. Dies zeigen eindrucksvoll die großteils bislang unpublizierten Fotografien von Abe Frajndlich. In Farbe und in Schwarz/Weiß porträtierte er Bukowski und fand dessen Vertrauen, so dass er schließlich sogar zur Hochzeit von Bukowski und Linda Lee Beighle eingeladen wurde.

 

Weiterführend →

Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski würdigte KUNO den Dirty Old Man mit einer Doppelbesprechung.

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.