Wut über die verlorene Zeit

In der analogen Welt hat man stundenlang in Plattenläden nach der einen Schallplatte gesucht, hat sie dann wie einen Schatz nach Hause getragen, gehütet und gesammelt. Heute haben wir 100 Millionen Musiktitel gratis auf Spotify abrufbereit.

Hartmut Rosa

Punk war eine Musikrichtung, die von 1976 – 1977 existierte, und die den Rock’n’Roll auf das reduzierte, was er von Anfang an war: Schnell, hart und laut. Punk musst nicht mehr als ein 4/4tel-Takt sein, kompositorisch also eher zu vernachlässigen. (Die Redaktion weist in diesem Zusammenhang auf eine kleine Notiz hin. Ergänzend auch: Too Much future – Punk in der DDR.)

Die Frage ist nicht, was Punk war, sondern warum er eine solche explosive Wirkung erzeugt hat?

Punk hatte die Eigenschaft bis in das hinterste Hinterland vorzudringen. Sogar an den Niederrhein, wo die Redaktion besonders den Ort Meuchelbeck schätzt. Roland Adelmanns beschreibt in Die Zukunft stirbt zuerst, wie die Punkszene der Achtzigerjahre in eine Kleinstadt nahe der niederländischen Grenze vorgedrungen war: „Jetzt, jetzt, jetzt, und so reihen sich Gegenwärtigkeiten aneinander und bilden ein Panorama der Auflehnung, des Suffs, der Utopien und bisweilen auch eines harten Aufschlags. Den Tag versaufen, auf Platte gehen, klauen, pöbeln, den nächsten Druck setzen…

Punk was rotten, punk was vicious
Always being unambitious

Andreas Frege

Die Provinzpunker nennen sich Nele, Jake, Lili, Krätze, Koma, Der Schweiger, Swen, Schorle und auch andere treiben durch die Zeit, scheren sich oft einen Dreck um Gesetz und geregeltes Leben, provozieren das Elternhaus und lehnen Norm und postfaschistisches Spießertum ab. Während sich die einen immer mehr zwischen Sucht und Flatter verlieren und kaum am schmierigen Eddie vorbeikommen, wollen sich andere an Utopien wagen, dem Leben einen neuen Sinn geben, um sich nicht völlig zu verlieren. Das reicht zwar auf Dauer nicht für das Dagegen-Sein, aber immerhin für eine verlängerte Gegenwart.

I was a punk before you were a punk

Tubes

Der Alt-Punk Roland Adelmann ist sich nach Rodneys Slam treu geblieben, man kann das als Strukturkonservativ bezeichnen oder als eine andere Form der Geschichtsschreibung. Es sind die letzten Zuckungen dessen, was man einst als Social Beat bezeichnete.

 

 

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Die Zukunft stirbt zuerst, von Roland Adelmann. Outbird, 2021

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.