Dezidierte Unbestimmtheit

Die Wissenschaft konvertiert zu einem allumfassenden Dogma, das behauptet, Organismen seien Algorithmen und Leben sei Datenverarbeitung.

Yuval Noah Harari

Coverphoto: Anja Roth

A.J. Weigoni beherrscht die Kunst, Alltagsphänomene zu lesen und Selbstverständlichkeiten als Trivialmythen zu entlarven. Untersuchte Weigoni in den Zombies die Pathologie einer ganzen Wirtschafts– und Gesellschaftsform, erkundet er in Cyberspasz wie tief geprägt die globalisierte Menschheit vom kapitalistischen Gebaren ist. Seine Novellen haben einen eigenen, herben Ton. Meist bewirkt ihn die glückliche Verbindung von kühler Sachlichkeit und Herzlichkeit, von betonter Skepsis und spröder Zärtlichkeit. Sein Interesse gilt der Erforschung des Unbewußten der Gegenwart, den unausgesprochenen Ängste und heimlichen Begierden; und der Rolle, die deren Reflexion und Analyse in diesem Unbewussten spielt. Er kommt zur Erkenntnis, das Unterbewusstsein habe als verlässliche Grösse ausgedient. So lassen sich seine Novellen auf einer Achse zwischen den Polen Gewalt und Erkenntnis verorten. Sein zentrales Thema ist die Vertechnisierung der Sinne und die Versinnlichung der Technik. Dabei betreibt er eine Aufklärung gegen die Technikgläubigkeit.

Es geht um die Differenz zwischen Selbstermächtigung und demütiger Selbstverbesserung innerhalb des Schöpfungsplans.

Die hypermodernen Menschen nehmen die Welt, in der sie ständig leben als gegeben hin, ohne sie doch jemals als solche wahrzunehmen. Unter der aufgeräumten Oberfläche wird ein reißender Strom von Bedrohungen spürbar, diese Erzählungen und Novellen sind von fiebriger Kälte. Die geschilderten Typen können via Skype so viel kommunizieren, wie sie wollen, das In-der-Welt-Sein lässt sich mit allen technischen Hilfsmitteln der Virtual Reality nicht wiederaufbauen. Seit der Pandemie haben sie zum ersten Mal in ihrem Leben realisiert, daß ihre Identität wesenhaft an diese gemeinsam geteilte Welt gebunden ist, die sie nicht aus eigener Kraft wiederherzustellen vermögen. Sie hängen von einer menschengemachten Infrastruktur aus Institutionen, Räumen und Geschichten ab, und die unheimliche Erfahrung dieser Ohnmacht war einschneidend. Diese Erfahrung des reinen Da-seins, des reinen Existierens.

Dieser Moment war für die „hypermodernen Menschen“ kaum auszuhalten, sie sind alle zu Existenzialisten geworden, ob sie wollen oder nicht. Aber sie empfinden es als Last. Ein formloses Leben ist dem Untergang geweiht.

Gute Geschichten stärken die Immunabwehr des symbolischen Wesens, in welches sich die hypermodernen Menschen verwandelt haben. Das nackte Leben ist im 21. Jahrhundert kein Lebenszweck. Diese Typen versuchen stets das Beste aus sich und der Situation, in der sie gerade stecken zu machen, sie lernen und verbessern sich ständig. Ihr Verhalten ist nicht in Stein gemeisselt, sondern passt sich stets den Umständen an. Sie machen stets das Beste aus dem, was sie vorfinden, aus den Umständen, den Traditionen, den sozialen Beziehungen. Das turbokapitalistishe Ideal ist nicht ein quasigöttliches Selbst, das sich ex nihilo selbst erschafft, sondern ein Menschenwesen, das in der vorgefundenen Schöpfungsordnung möglichst gut lebt. Der Kern seiner Ethik ist nicht die Selbsterschaffung, sondern die Selbststeigerung – die Selbstnobilitierung.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermontage: Jesko Hagen

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KUNO übernimmt zu den Zombies einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.

Weiterfühend →

KUNO übernimmt zu Cyberspasz Artikel von Kultura-extra, aus Neue Rheinische Zeitung und aus fixpoetry. Betty Davis sieht darin eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt hybride Prosa. Enrik Lauer deutet Schopenhauers Nachwirken im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.