Illusion der Willensfreiheit

Man ging nach Aussen, in alle Richtungen, statt in sich zu gehen, wo jedes Rätsel zu lösen ist.

Schopenhauer

Alles was wir sind, ist ein Resultat dessen, was wir gedacht haben. Wirklichkeit ist in diesen Novellen nicht nur ein Konstrukt, auch ihre Konstruktion ist konstruiert und als solche Thema. Weigoni interessiert sich nie nur für Computer, sondern immer für den Kontext, in dem sie operieren, die Beziehungen zwischen technologischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Systemen. Zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit spinnt dieser Romancier ein Netz von Bezügen, die sich um herkömmliche Wirklichkeitsversicherung nicht kümmert. Eigentlich ist virtuelle Realität nichts anderes als der Versuch, diese alte Weisheit in Praxis umzusetzen, statt sie an die Wand zu pinnen. Die Literatur ist körperlos und dieser Schriftsteller, tut sein Möglichstes, um diesen Prozess der Ablösung von der Materie zu befördern. Diese Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee. Eine Psychose resultiert nicht mehr in einem, in letzter Instanz unwiderruflichen, Bruch mit dem Realitätsprinzip, sondern lediglich in einem ausgeformten Prosawerk. Auch wenn den Lesern die Inhalte vielleicht nicht immer gefallen, weil sie nicht gefällig sind, sondern die Realität hinter der Maske von Schein zeigen, das Scheinbare zum offensichtlichen Phantom degradieren, sollte man diese literarische Qualität schätzen.

Ist aus der Demokratisierungsmaschine Internet eine Geldmaschine geworden?

Eines der wesentlichen Merkmale von Weigonis Prosa ist ein dekonstruktivistischer Ansatz, der im Zerlegen und neuen Zusammensetzen kultureller Erscheinungen besteht. Für ihn ist jedes Buch ein Ort, den er mit seiner Sprache durchwandert. Das Lesen seiner Prosa ist weniger ein Akt des Verstehens und Dechiffrierens als so etwas wie Versenkung und Kontemplation. Diese Prosa ist geprägt von einem erkennbaren Rhythmus und einem hohen Grad an Sprachreflexion. Im beziehungsreichen Metaphernspiel nährt Weigoni zwar den Anschein, die zwischenmenschliche Verständigung mithilfe der Sprache hätte ihren Sinn verloren, zugleich aber reduziert er den allmächtigen Wörterschwall der herrschenden Poesie auf ein Minimum. Er glaubt bei allem schwarzen Pessimismus an die Unverfügbarkeit der Seele, die kein Zwangseingriff zum Schweigen bringen kann und nähert sich den Trivialmythen aus der Perspektive des Connaisseurs, beutet den popkulturellen Rohstoff aus, beschwört den anarchistischen Geist des Rock’n’Roll und verhandelt seine Lebensthemen: Anderssein und Ausbruch, Repression und Libertinage, Rausch und Sexualität. Mythen sind der Pop von früher. Die Gleichung gilt auch umgekehrt: Die Mythen von heute sind weitgehend Hervorbringungen der Popkultur.

Kapitalismus bleibt übrig, wenn Rituale oder elaborierte Symbolwelten kollabiert sind und nur noch der Zuschauer–Konsument durch die Ruinen und Relikte wandert.

Der Heimcomputer erwies sich zu Beginn als ein Verstärker des Geistes. Die Technologien entwickeln sich so rasant, daß wir kaum zum Reflektieren kommen. Es gab immer wieder solche Phasen in der Geschichte, in denen der Fortschritt dem Denken vorausgeeilt ist. Und die Folgen waren meist katastrophal schlecht. Die Menschen sind auf den Wandel, den die neuen Technologien mit sich bringen, überhaupt nicht vorbereitet, was die meisten von ihnen technologisch für Elite halten, wirkt gegen sie. Weigoni schreibt mit Wirklichkeitsbesessenheit in einer künstlichen Welt und präsentiert ein Panoptikum digitaler Krankheitsbilder. Er betrachtet die Mutationen menschlicher Kommunikation im World Wide Web und schöpft alle Strategien des Erzählens aus, untersucht wo die Grenzen von Fiktion liegen und wann die Wirklichkeit verschwimmt. Der Leser kann sich nicht sicher, ob es um die Fiktionalisierung der Realität oder die Realisierung einer Fiktion geht. Dieser Romancier begegnet der Immaterialität zirkulierender Objekte und Zeichen mit einer ganz eigenen Sprache der Abstraktion, einer Fiktion, die nicht nur die Sprache, sondern auch die Erzählung sowie die Figuren und ihre Beziehungen untereinander betrifft.

Früher befragten die Menschen GOtt, heute fragen sie bei Google nach.

Forscher im Bereich der künstlichen Intelligenz setzen darauf, daß Computer von den Millionen Netzsurfern endlich erfahren, wie Menschen denken, um zu lernen, wie Menschen zu denken. Das Internet ist das neueste Werkzeug, das Nerds entwickelt haben, um die Menschheit bei ihrem Verständnis des Lebens auf der Welt voranzubringen. Unglücklicherweise wird es von privaten und politischen Interessen übernommen. Deshalb bekommen die Menschen vom Internet nicht das, was sie voranbringen würde. Es ist eine kommerzialisierte und nationalisierte Infrastruktur geworden. Ihnen steht ein Kampf darum bevor, wofür sie diese Technologie benutzen wollen. Ein großer Zweig der westlichen Kultur folgt der Auffassung, dass Wissen derartig speicherbar und damit auch neuerdings als Daten in elektronischen Datenbanken speicherbar ist und leitet daraus gleichsam ein Problem und eine Hoffnung ab:

„Wie können wir in den immensen Datenvorräten das benötigte Wissen finden?“

Und wenn, dann etwa so wie es Klaus Mainzer in seinem analytischen Buch „Die Berechnung der Welt: Von der Weltformel zu Big Data“ geschrieben hat:

„Was lässt sich mithilfe der Kombination der Wissensinhalte von Datenbanken erreichen, was über den einzelnen Datensatz hinausgeht?“

Geist ist das Programm, das im Gehirn als besonders komplizierte Software läuft. Erst wenn uns die Computerprogramme das Denken abnehmen, erscheinen Zweifel angebracht. Kreativität, Innovation und künstlerische Schöpfung nur im Kontext des brillanten Individuums denkbar, das durch den „digitalen Maoismus“, wie ihn das Internet hervorbringt, gefährdet ist. Hieraus leitet sich für Jaron Lanier ein weiterer Kritikpunkt ab: Freie und Open-Source-Software habe auch versagt, weil sie einigen wenigen Firmen ermöglicht habe, große, zentralisierte Dienste und Datenbanken zu entwickeln, um im Folgenden von der Verarbeitung und Ausbeutung der Nutzerdaten zu profitieren. In Cyberspasz schreibt Weigoni gegen die Dehumanisierung des Menschen an, er spielt die Wirksamkeit der Asimov’schen Gesetze der Robotik durch und der Leser erkennt, daß der Sprung der künstlichen Intelligenz zum Bewußtsein und damit zum Verlangen nach Selbstbestimmung unabwendbar ist. Die Behauptung Zeit, Entfremdung sei durch Flexibilität ersetzt worden und Identität durch Netzwerke, ist eine Lüge, die allein der Steigerung des Umsatzes dient. Wovon immer diese Cyborgs träumen, harmlose elektrische Schafe sind es wahrscheinlich eher nicht. Es ist ein beständiges Rauschen von Stimmen in der Prosa von Weigoni, der mit liebenswürdigen Einfällen bezaubert und mit seinem Sprachwitz überzeugt. Ein Finder und Erfinder von Geschichten, in der großen wie der kleinen Form.

Die Zukunft ist längst hier, sie ist nur noch nicht gleichmässig verteilt.

Mark Fisher

Ein Wort zu einem anderen zu fügen und dabei beide gegenseitig sich hinterfragen zu lassen, stetig zu hinterfragen, das vermögen nicht viele. Auch wenn es manchmal anstrengend ist, diese Prosa zu lesen, Cyberspasz, a real virtuality ist ein besonders lohnender Gegenstand literaturkritischer Erörterung, weil das intellektuelle Material, das sich hinter all diesen dystopischen Erfindungen, futuristischen Schreckensvisionen und einleuchtenden Figuren verbirgt, ebenso diskussionswürdig ist wie ihre poetische Gestaltung. Es ist halluzinogener Surrealismus, jedoch er ist hellsichtig und hat Nebenwirkungen in der Realität. Die Ästhetik der Kunst besteht nur vordergründig in Vordergründigem, erst wer zum Hintergrund gelangt und die Beziehungen der verschiedenen Schichten und Verwerfungen zu erkennen vermag, wird zur wahren Schönheit gelangen. Dem Cyberspasz entkommt man, nicht bei mit einer Kritik der Vernunft, sondern durch Kontemplation, in der Kunst, in der Philosophie und schliesslich in der Verneinung des Willens durch Verzicht und Askese. Die Typen in diesen Novellen bewegen sich im Universum der Vorstellungen und werden das Gefühl nicht los, dass sie ständig ihr Aufwachen hinauszögern. Aufwachen würde für sie bedeutet: endlich innezuwerden, was die Welt ist, ausser, dass sie ihre Vorstellung ist.

 

 

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Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermontage: Jesko Hagen

Weiterfühend →

KUNO übernimmt Artikel von Jo Weiß aus Kultura-extra, von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Christine Kappe aus der vom Netz gegangenen fixpoetry. Betty Davis sieht in Cyberspasz eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt in der real virtuality eine hybride Prosa. Enrik Lauer deutet diese Novellen als Schopenhauers Nachwirken im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.