Turbokapitalistischer Realismus

Ich höre einen Rhythmus, der mich durch die Sätze treibt. Der Rhythmus eines Satzes erlaubt eine bestimmte Anzahl Silben. Eine Silbe zu viel – und ich suche nach einem anderen Wort. Es gibt immer ein anderes Wort, das fast dasselbe bedeutet – und wenn es das nicht tut, dann überlege ich mir, ob ich nicht die Bedeutung des Satzes ändere, um den Rhythmus, den Takt der Silben beizubehalten. Ich bin jederzeit bereit, mir von der Sprache Bedeutung aufzwingen zu lassen.

Don DeLillo

Hypermoderne lautet A.J. Weigonis Codewort für die unüberbrückbare Kluft zwischen dem Stilgefühl der kreativen Klasse und dem Geschmack der Mehrheit der Gesellschaft. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Grenzmissverständnisse in der Globalgeschichtsschreibung zu beobachten. Gibt es nach dem „wissenschaftlichem Kommunismus“ und dem „real existierendem Sozialismus“ einen ‚turbokapitalistischen Realismus’?

In keiner der sozialen, kulturellen, beruflichen und ökonomischen Parallelwelten dieser Zombies, die Weigoni röntgenrealistisch abbildet, will man leben. Dieser Schriftsteller blickt mit einen naturwissenschaftlichen, medizinischen und kriminalistischen Blick, sozusagen „bis auf den Teufel hinunter“ (Lichtenberg). Mit der Traute, die Leser auch einmal zu überfordern, geht ein Angebot verschiedener Lesarten einher. Vieles schildert Weigoni als Farce und Persiflage, wobei er in seinen Erzählungen ganz nebenbei auch die Spielarten und Attitüden der Genreliteratur persifliert.

Alles scheint Marketing und nichts bietet ein Zentrum.

In den Zombies geht es nicht um platte Konsumkritik, die Wirkung ist verstörender. Literatur hat ihren Preis, fordern diese Erzählungen ein, im Leben gibt es nichts umsonst. Weigoni beschreibt die physische Verwahrlosung im neuen Deutschland. Die Leute sind zu fett, sie rauchen und trinken zu viel, sie bewegen sich zu wenig, sie waschen sich selten, kaufen die verkehrten Deos und trocknen ihre Wäsche falsch. Und trotzdem ist es fabelhaft, unter ihnen zu sein. Es sind sich selbst infrage stellende, sich hassende, immer vergeblich Liebende. Das Notat des Hässlichen wird nicht zur dünkelhaften Misanthropie. Es ist auch Empathie, merkt man, während man über diese Typen liest. Wir sind selbst ein Teil der Menge der Unperfekten, der Überforderten und Abgestumpften, der dem Traum Nachjagenden.

Die Lebensumgangs- und Kommunikationsformen dieser Zombies sind technokratisch geprägt. Diese Kulturprimaten werden in einer emotional erkalteten Welt hinterfragt, sie versuchen eine durch Geld und Konsum beförderte Zufriedenheit für sich als Ziel zu bestimmen, dauerhafte Glücksgefühle erlangen sie damit nicht. Weigoni findet in seinen exakten Erzählungen hyperreal wirkende Szenen, er beobachtet das Geschehen zuweilen aus so abwegigen Perspektiven und kommt den Charakteren so unangenehm nah, das Leben wird zur Geisterbahnfahrt. Die Kosmologie von Weigoni besteht also aus einem rabenschwarzen Paradox: Handeln und Nicht–Handeln, beides führt in die Misere. Mit ihren Lebensverhinderungstaktiken bleibt die ersehnte Liebe seiner Figuren letztlich ein Phantom, was demzufolge bleibt, sind Phantomschmerzen.

Das Tableau, das uns dieser Romancier auf 320 Seiten präsentiert, hängt weder der Hippie-Ideologie nach, derzufolge „Alles mit Allem zu tun hat“, noch kokettiert Weigoni mit dem postmodernen Etikett „Roman in Erzählungssegmenten“. Ein Bezug ist bei der Beschreibung einer ähnlichen Epochenwende zu erkennen, den Dubliners von James Joyce. Mit diesen Erzählungen gibt Joyce Einblicke in die städtische Gesellschaft Irlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er zeigt darin eine Nation zwischen nationalem Aufbruch und kolonialer Mutlosigkeit, aufstrebendem Bürgertum und Emigration, der Beengtheit des Wohnens und der Sehnsucht nach der sich allmählich zu globalisierenden Welt.

Ein Künstler darf nicht daran leiden, das Leid der Welt darzustellen. Weigonis Prosageflecht Zombies ist ein prismatisches Spiel, das in vielen Facetten aufleuchten: als leichtfüßige Komödie und ätzende Satire, als Fabel zur gesellschaftlichen Moral zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Es sind Geschichten eines Übergangs: vom Sozial– zum Individualstaat, von der Fürsorgegesellschaft zu Verhältnissen, die jeden auf sich selbst verweisen.

Die Kapitel, die prosaische und essayistische Elemente verbinden, sind praktisch Literaturclips mit filmischen Strukturen und Effekten, worin die Antihelden durch das Bild einer zerfallenden Wirklichkeit laufen, deren permanente Bewegung ihre zunehmende systemische Erstarrung zeigt. Bei der Lektüre kommt man den Denkweisen einzelner Figuren sehr nahe, es schleichen sich Veränderungen in den Lesenden ein, welche tageweise seine Wahrnehmung verändern.

Weigonis Vignetten beschreiben authentische Sehnsuchtsträume, die Zombies überwiegend fabrizierte. Man kann Weigoni eine gewisse Lust an der Bosheit und einen manchmal allzu ungnädigen Umgang mit der conditio humana unterstellen, mit dem er seine Figuren ins scharfe Messer der Kontingenz laufen lässt, gerade das macht seine Erzählungen so unterhaltsam.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

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KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.