Polaroids von den Schattenseiten der Gesellschaft-Fiktion

Eine Parodie auf die unschöne Gutmenschenwelt

Diese Zombies sind Fiktion, dabei ist kaum etwas  erfunden. Die von A.J. Weigoni als ‚hypermoderne Menschen‘ beschriebenen Typen erleben eine Zergliederung und Fragmentierung des Abgebildeten, Veränderungen und Verstümmelungen des eigenen Körpers, sie sind das ästhetische Untersuchungsprogramm. Weigoni geht den immensen Brüchen in der sozialen Tektonik nach, ohne in ein ohnmächtiges Lamento zu verfallen. Statt die triste Realität der Abgehängten einfach nur abzubilden oder triviale Welterlösungsmanifeste zu verfassen, trifft in diesen Erzählungen das Arkanum auf das Alltägliche, das Offensichtliche wird durch Symbolische entlarvt. Vorbei die Zeit, da Literatur die grossen Schlachten der Gesellschaft austragen muss.

Die Toten warten auf der Gegenschräge. Manchmal halten sie eine Hand ins Licht. Als lebten sie. Bis sie sich ganz zurückziehen in ihr gewohntes Dunkel das uns leuchtet.

Fjodor Gladkow

Weigonis Polaroids der Schattenseiten der Gesellschaft sind bestechend scharf. Als Erforscher von Trivialmythen sind dabei die Bruchstellen für Weigoni von besonderem Interesse, er überprüft mit dieser Poesie, was es mit der körperlichen Verdinglichung des 21. Jahrhunderts auf sich hat. Diese Erzählungen stehen im selben gesellschaftlichen Kontext mit dem chorischen Zusammenschluss vieler Körper, der Massenidentität. Das realistische Erzählen wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Form des Widerstands.

Das realistische Erzählen wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Form des Widerstands

Dieser Romancier verändert Variablen und macht damit die Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit durchscheinender, er transformiert das Kommensurable, den Abfall, den Lärm und die schlechte Luft der Metropole, in das Inkommensurable, den Sumpf einer verkommenen Gesellschaft. Die soziale Welt, wie Menschen sie in dieser Frivolitätsepoche erleben, entspricht selten ihren Wünschen, aber es liegt im Bereich der menschlichen Kraft, sie diesen Wünschen entsprechender zu machen. So manches, was hier erzählt wird, kann nie im Leben so gewesen sein. Aber diese Zombies bringen uns das Leben näher, als dieses es selbst kann. Weigoni setzt sich über die Wirklichkeit hinweg, um der Wahrheit näher zu kommen. Je unglaubwürdiger es wird, desto glaubwürdiger wird diese Literatur.

Weigoni handhabt das Wort bei Bedarf so kühl wie der Anatom sein Skalpell.

Enrik Lauer

Dieser Romancier erzählt er von der existenziellen Einsamkeit des Menschen, von Gottlosigkeit, davon, wie sich Zivilisation und Natur feindlich gegenüberstehen. Der Erzählband Zombies ist großartige Fiktion – dabei ist kaum etwas davon frei erfunden. Die von ihm als hypermoderne Menschen beschriebenen Kreaturen erleben eine Zergliederung und Fragmentierung des Abgebildeten, Veränderungen, ja Verstümmelungen des eigenen Körpers sie sind das ästhetische Untersuchungsprogramm. Von besonderem Interesse für Weigoni sind dabei die Bruchstellen, als wolle er penibel prüfen, was es mit der körperlichen Verdinglichung des 21. Jahrhunderts auf sich hat. Diese Erzählungen stehen im selben gesellschaftlichen Kontext mit dem chorischen Zusammenschluss vieler Körper, der Massenidentität: Das satirische Erzählen wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Form des Widerstands. Dem abgesicherten Literaturbetrieb wäre eine Rückkehr dieser wütenden Drastik zu wünschen.

Sind diese Zombies paranoid in einer überangepassten Welt, oder sind sie die einzig Vernünftigen in einer durch und durch paranoiden Welt?

Die Bedeutung des Erzählens kann hier als Kompensation von Modernisierungsschäden erkannt werden. Die Erzählungen haben einen formal innovativen Ansatz, man erkennt die Figuren unmittelbar an ihrer unverwechselbaren Sprache, die so brennscharf die Realität abbildet und den Lesern neue Wahrnehmungsmöglichkeiten verschafft. In diesem Werk herrscht ein großes Gedränge der Untoten, Weigoni exorziert damit seine Zeitgenossen. Er hat die „hypermodernen Menschen“ ganz kühl literarischen Versuchsanordnungen ausgesetzt, doch tat er dies, weil er Anteil nahm am Schicksal der Menschen. Zu heilsamen Remystifikation der modernen Welt würde der Einbruch von Zeichen nicht reichen, bei aller Präzision, bei aller Raffinesse und technischen Virtuosität verfügen Weigonis Menschenerkundungen über ein hohes Maß an Empathiefähigkeit. Die Figuren sind nicht bloße Versuchsobjekte; sie sind Menschen, und sie kommen uns auch als solche immer wieder entgegen, treten aus dem Konstruktionsgefüge heraus. Diese Literatur öffnet den Blick für das nie Gesehene, nie Gedachte, so wie Kleist über den Mönch am Meer bemerkte, es sei, wenn man das Bild betrachte, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.

Das kapitalistische System bringt sich selbst um, es ist wie ein Zombie: In gewisser Weise ist es tot. Es läuft noch umher, weil wir keine Vorstellung haben, was wir anders machen könnten.

David Graeber

Diese Erzählungen sind vergnüglich zu lesende Etüden in Sarkasmus, allesamt dazu geeignet, die Zumutungen der Wirklichkeit zur Kenntlichkeit zu entstellen. Weigonis Zombies sind ein Meisterstück der Disproportion, keine leichte Kost, er beschreibt die Menschen, aber bewertet sie nicht. Nichts passt hier zueinander, man rätselt die ganze Zeit, wie diese heillos überdrehten Irren eigentlich zusammengefunden haben. Der Langsamschreiber Weigoni arbeitet seit mehr als drei Jahrzehnten unter dem Radar des Mainstream, er hofft, sich dem Wesenskern einer Sache immer weiter anzunähern, zu präzisieren, zu verbessern. Das gilt besonders für die Zombies. Diese Erzählungen sind ein Gewebe, in das Bestandteile erfahrener Realität eingewoben sind, damit überwindet dieser antikonformistische Manierist die spielerische Postmoderne und setzt sich mit realen Gesellschaftsproblemen auseinander, ohne bei der teilnehmenden Beobachtung der Entwertungsgeschwindigkeit auf Ironie zu verzichten. Weigoni weicht der gelebten Wirklichkeit nicht aus, er versteht es, aus den vielen Ungereimtheiten, die er im Alltag vorfanden, eine Poesie zu machen, die durch ihren Bildcharakter vorführen, daß die Widersprüche den Sachverhalten oft immanent sind, sich gegenseitig bedingen, und in der Literatur nicht ausschließlich mit dialektischer Eleganz darstellen lassen, es sei denn, man nimmt in Kauf, daß die Wahr­haftig­keit, mit der sie im Leben vorkommen, gänzlich zur Auslöschung gebracht wird

Gesellschaftskritische Erzählungen mit einer fazinierenden, reduzierten Sprache.

Nico Schoffer, Twitter

Die Sätze werden kürzer, die Beobachtungen genauer. Weigoni begreift Schreiben als Attacke auf die Konsenskultur, auf die Toleranzhölle des Westens. Bei den Motiven seiner Figuren verschmelzen Perversion und Normalität mit der vor allem das männliche Geschlecht begleitenden ewigen Trinität von Gewalt, Sex und Suff; mit hilfloser Empathie und gerechtem Zorn, der nur selten fruchtet. Seine Lieblingsfeinde sind die sogenannten 68-er, ein grandioses Exempel dafür, wie progressive gesellschaftliche Utopien, sobald sich ihre Realisierung als Chimäre erweist, in rigide autoritäre Systeme umschlagen und ihre Verfechter zu Handlangern totalitärer Regime werden können. Dieser Romancier pflegt einen Stil, der Imagination mit Sachlichkeit, Kälte mit Empathie, Realismus mit Parodie, Reflexion mit Narration, Komik mit Utopie, Ironie mit Verzweiflung, Wahnsinn mit Trauer verbindet.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.