22 Mal ›wir‹ • 26 Mal ›schlacht‹

Wortkräuter zur Gesundung in Theo Breuers Gedichtbuch Das gewonnene Alphabet

Dieses lyrische Lexikon, dieses Gedicht-Wörterbuch, dieses schäckernde Dichtwerk kommt gerade recht, mir den Herbst zu versüßen. Süßes zum Herbst? Herbes zum Herbst? Jedes jedes jedes Jahr hole ich mir (wo bloß?) eine fette Erkältung, verkriech mich, notgedrungen, mit einem ›guten Buch‹ ins warme Bett.

Verwirbelt

Das gewonnene Alphabet von Theo Breuer unterhält nicht nur, und damit meine ich: breitet sein Wortnetz tragfähig unter mir aus, sondern verwirbelt mir zugleich die Sinne: Auf dem Bett liegend, habe ich diesen Rhythmus im Ohr, von welchem Gedicht mag er herkommen – di richi dir sprichi ist dis gidicht? Es stimmt nachdenklich (weißt du wie viel menschlein gestern oder gestern / oder gestern allein in syrien die feine forderung nach freiheit mal / eben mit dem leben bezahlen), grauselt mich (variation auf einen grausattsam berüchtigten anstoß) und inspiriert mich zum eigenen Text (was für ein fallenflirrenfliegenfreun / ich wollt ich wäre ne flocke von schnee).

Als Antwort auf den Titel der 1999 erschienenen Jahrzehnt-Anthologie Das verlorene Alphabet  (womit ich, zum Beispiel, ungewolltes ›Schweigen‹, ›Nicht-schreiben-Können‹ assoziiere), die der Autor im turmhohen Bücherregal bewahrt, ist Das gewonnene Alphabet nicht nur ein Gedichtbuch – es ist ein großer Zyklus von A bis Z, in dem sich Atmosphären, Menschen, Orte, Pflanzen, Situationen, Tiere, Zustände wiederholen, potenzieren, ergänzen und weiterdenken, erzählen, ja, zählen, fortwährend miteinander in Beziehung treten. Bensch, Kraus und Peer Quer sind dabei stets intervenierende Individuen, die mir bald vertraut sind und mit denen ich gern von Seite zu Seite ziehe. Als Leser kann ich mich in diesem ABC klar verorten (mache eine Pause bei D, bei O brauche ich länger, gehe zurück zu K, springe zu Q.)

Ein Herbarium

Dicht. Gepresst, getrocknet, konserviert, die gelben Blüten zu schwarzen (und gelegentlich grauen) Buchstaben geworden, finde ich unter S, gleichsam wie wellig gedruckt wirkend – sistiger haaresbreiten // schmärz // sehen gestehen / ein schimmelblick gräulichtlos / zerspricht attrappe – und entdecke daselbst filigran: hundstag // bleiche schneidfeder / auf verbittertem grabstein / blüht schmort im gleißstern, mit vorangestelltem Zitat von Marcell Feldberg – fast wirkt’s wie ein Beipackzettel: lernen zu verstehen, Feldwege zu gehen. Und so ist das ganze Gedichtbuch aufgebaut, mit vielen Hin- und 24 Quer-Verweisen, Zitaten und Unikaten, Überlegungen und Überraschungen, Doppelbödigem und Visuellem, Buchstabenverschiebungen und Wortschöpfungen, Sprachspielen und Abgründen, sortiert von A bis Z. Dabei rutscht die Amsel von B wie black bird nach O wie over the firewall, flattert auf englisch durchs Gedichtbuch, ist schwirrende Auseinandersetzung mit Celan-Versen, die, zu Beginn zitiert und am Ende ins Englische übertragen, das Gedicht offenbar veranlasst haben, ihm den Rahmen geben.

Mirabellen und Libellen

Die Stoffe/Themen im gewonnenen Alphabet changieren (wie die lyrischen Persepektiven) zwischen Geschichte und Geschichten: Alltag, Gesellschaft, Individuum, Kosmos, Literatur, Momente, (Gott und die) Welt, Zustände usw., dabei reflektieren/erproben die Gedichte immer wieder das Werkzeug bzw. den Baustoff, aus dem sie gemacht sind: die Wörter, die Buchstaben, den Rechner, den Schweiß, auch Mirabellen und Libellen – so fragt peer quer (lässig/lästig): gibt es / verwindungen zwischen harkarbeit /(die ich eben tat) und dichtarbeit /(die ich augenblicklich tue) … / dieweil die drei gedanken (brune ∙ / brinkmann ∙ brambach) durch das gehirn / mäandern … / und ich flitz ∙ nicht im kaffeehaus stehend / und bedienung um schreibzeug bittend ∙ / hinab in die lyrikkammer sitz im nu vorm / keyboard und bring fixflott den lenovo in gang

Ein ganz anderer, schwermütiger Tonfall begegnet mir in ohne sie ist welt tot ist ein unfug: … ich rüste für den / abend dunkelrosen der nacht / ypsilon weglassen weglassen können / robinienbäume in den armen / öl auf eichenholz mit blumen am strand von cattolica im korbsessel / kauernd auf meinem scheitel schädel die / erde sumpfig und / regen fällt usw.

Weiter blättere ich

in der Pflanzensammlung, finde einen ›schatz‹, einen Satz, finde einen Strang, eine Stange, einen Stengel: die schreibende / kraft / ist die // reibende / kraft / ist die // treibende / kraft / ist der // beileibe bleibende / saft. Sodann: ein Bild / eine Frage an den befreundeten Autor Axel Kutsch / eine moderne Version der Offenbarung des Johannes – gleich nach der schalen tsunamizornradioansage reiben tausende / bur­katragende regie­rungstote augenstrahlende zeugen auf / zehn verbote, denen das zerrinnungswild folgt – dieses Buchstaben-Gerinnungsbild wirkt wie das unkenntlich gemachte Feld auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die mir die Ärztin gab, jemand hat in einem Anfall behördlichen Wahnsinns lauter Buchstaben übereinander gestempelt, um so das Wesentliche zu verbergen, aber der aufmerksame Leser hat ja stets einen Schlüssel (wenn die Buchstaben rot wären, könnte ich eine rote Folie darüber legen …), und wenn ich genau hinsehe, wird eins der magischen Blätter Friederike Mayröckers sichtbar.

Und übrigens:

Dieser Breuer! Bedient sich ja selbst solcher Mittel als – unbedingt parodistisches – Spiel: Da werden Wortteile einfach überbalkt: man murmelt und munkelt: / nirgends ∙ an ∙ keinem ∙ ort / werde das wort / so flink verdunkelt / wie ∙ im ∙ g|e|r|i|c|h|t – – – / soll wohl ein tollwitz sein: / wie im gedicht?

Ein Gedicht, himmelstürmer, ist (eingedenk Jandls kleiner Verschiebungen und Rühmkorfs höchster Höhen) um 90 Grad gedreht, im einem weiteren ist nur der Teil eines Wortes gedreht, durch ein anderes fließt der Verkehr, im nächsten sprudelt Kohlensäure … So vielfältig die Formen und Stimmungen, gemeinsam ist ihnen der parodistisch jonglierende, artistisch-ironische Umgang des Autors mit Sprache und Literaturen, Sprechweisen und Figuren.

Nicht verwunderlich

Die Überschrift dieses Essays ist übrigens ein schöner Zufall. Aufmerksam lese, summe, überfliege ich das Glossar (unter Z wie Zufall, schöner), wundere mich über 34mal grau und 4mal it, finde die Gegenüberstellung von wir und schlacht sehr aufschlussreich. Nicht verwunderlich das 110malige Vorkommen des Hilfsverbs ist auch ein Hinweis auf die große poetische Behauptungskraft des Autors, was jetzt dringend die Frage nach sich zieht, wer denn TB überhaupt ist

Antworten finde ich wunderbar im Buch verborgen, so auch im Essay, der Das gewonnene Alphabet beschließt. Dort schildert Breuer die Entstehung des Buches, berichtet von eigener Geschichte. Dieses Scharnier zwischen Leben und Kunst, das viel mehr erzählt, als dass es erklärt, macht den Autor greifbar …. zeigt ihn lebendig: Noch bevor er lesen und schreiben kann, bringt ihm die Mutter ein ABCdarium nahe, pflanzt ihm die Liebe zur Sprache ein – in einem Haushalt, in dem kein Chopin gespielt wird, in einem Dorf im Rheinland, dessen Namen niemand kennt.

Wurzeln

Von Theo Breuer sind – über Jahre und oft im Wechsel – Gedichtbände und Monografien erschienen, Bücher vom Zustand der Lyrik hier und jetzt. Und das nicht von abgehobenener Warte, sondern in Verbindung, Freundschaft, direktem Kontakt mit den schreibenden Kollegen. So zurückgezogen Breuer auch zu leben scheint (in der tiefsten Eifel), so sehr ist er – wie die Pflanze, die unterirdisch gigantische Wurzeln treibt – mit einer Menge Literaten verbunden.

Wer mit Theo Breuer kommuniziert, wird immer wieder wachgerüttelt, so ein aufmerksamer Zuhörer und Sprecher ist er, Beobachter / Leser von Umwelt und Natur. Sein Wesen drückt sich für mich auch in den gleich im ersten Gedicht keckernden Elstern aus, die, laut Kosmosverlag, schackern, in meiner Erinnerung allerdings schäckern, wobei aber das Kecke, der Witz, der helle Geist fehlen, und eben das hält Breuer im ersten Gedicht fest, welches – admission free and daily open to the public – Lust aufs Weiterlesen macht, hier und jetzt: (…) die amsel hockt ∙ wie jeden jeden jeden tag ∙ auf der schwarzen leitung die unser haus mit – bis auf weitres – unbesetztem [grau verschalten] nachbarhaus verkuppelt – ›no man is an island‹ ∙ john donne – und singt und singt gegen die ein paar gärten weiter rurumorende motorsäge an (…)

Hier und jetzt

erhalte ich eine flüchtig geschriebene, aber keineswegs unwichtige E-Mail von Ilka aus dem Kulturamt: »Schreib mir doch bitte nochmal euren Ter,on … «, gemeint ist ›Termin‹, aber ›Ter,on‹, dem Tempo beim Tippen der E-Mail geschuldet, ist doch ein drolliges Wort. Offenbar lebe ich schon die versenwelt. Angesteckt bin ich, gesunde im Nu, hüpfe hoch vom Krankenbett.

Und nun: Lesen Sie langsam. Nehmen Sie sich Zeit. (Axel Kutsch ∙ Feier des Wortes)

versenwelt leben
 
beispiel loser sport: versenke
horch auf das wort WORT – – – versitze
denk nicht an [hast last] verschwitze
gib was du (fast) hast verschenke
 
liebe aus sichten versiebe
schlüssig sei faß bar verseuche
fürchte v w nicht: verscheuche
termin termine — — verschiebe
 
aus wuchs chimäre ∙ versteige
übel schlag los frau verschwöre
unanständig frei verstöre
 
eigensinnig sei (verschweige)
horten von worten? verschwende
fix den deckel drauf – v∙e∙r∙s∙e∙n∙d∙e
 

 

* * *

Christine Kappe, Fotograf: Ric Götting

Weiterführend Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.