Zuletzt ∙ Das gewonnene Alphabet

abrikostræerne findes, abrikostræerne findes
Inger Christensen
 
Je sais que la poésie est indispensable,
mais je ne sais pas à quoi.
Jean Cocteau
 
Jedes Gedicht, das ich sagte und schrieb oder schreiben wollte,
kam aus einem: Ich kann nicht sprechen, ich habe keine Wörter.
Peter Waterhouse

Beispielsweise so …

Theo Breuer · Jörg Seifert · Pete Spence · Flux de luxe

Vier Diener – Naschkleiber – sollen heiße Äschen kaschen, denn vier küßten, wo armer nasser Bär …, wähn ich die Wortspielgefährten der wuseligen 1960er Wendezeiten (widersprüchlich, Woche nach Woche) wettei­fern wie wild, Wetter war wohl wie­derholt wechselhaft, wirklich windig, wahrhaftig wenig warmer Wonnenschein, und von wie vielen Menschen erinnre ich bis in die frühe Kindheit auf dem Dorfe den sehr persönlichen, lyrisch aspi­rier­ten, idiosynkrati­schen Refrain, der (oft wohl, ohne daß die Sprecher sich dessen bewußt sind) regelmä­ßig An­fang/Ende der Sätze mar­kiert, abwe­gige und landläufige Bilder, Metaphern, Fi­guren aller Art gebärden sich wie toll in ›gut gemeinten‹ Sentenzen, Tro­pen verste­cken sich von A bis Z in wilden Wörtern des aufregend ∙ beinhart ∙ chao­tisch ∙ drö­ge ∙ ekelhaft ∙ elysisch ∙ feinzart ∙ for­dernd ∙ gebrochen ∙ gestört ∙ gemein ∙ grausam ∙ halluziniert ∙ hellwach ∙ idio­tisch ∙ jovial ∙ kum­mer­vol­l ∙ läppi­sch ∙ mü­de ∙ nervös ∙ opulent ∙ phantastisch ∙ poppig ∙ quiet­schend ∙ rasant ∙ skurril ∙ staubi­g ∙ unheimlich ∙ verrück­t ∙ verträumt ∙ verweint ∙ wun­dertütentoll ∙ xenophobi­sch ∙ yberwütig ∙ zickzackig ∙ zuha­ckend erscheinenden All­tags, der, zum Vor­teil der Verse, füll­hornig|müll­zornig die poetisch sprudelnde Kraftquelle bleibt, und die luftige (lustige) pa­ragrammatische Assoziation feiert fröhliche Urständ auch in der Lyrik nach 2000: In, beispielsweise, Mi­kael Vogels Mas­senhaft Tiere laufen mir nicht bloß Leeren und Lehren der Straßen übern Steg, und dermaßen durch­drungen lese ich, eyes wide as saucers, nein, kein Scherz (eher schon: Merz), auf dem buchstabenblutenden Beipackzettel von Sal­buBronch: Zur Er­heiterung der Bron­chien, und, suchstäblich gleichsam, anti­thetisch · brachylo­gisch ∙ chi­as­misch ∙ dysphe­mis­misch ∙ elliptisch ∙ flos­kel­haft ∙ geminatio­nisch · hy­perbolisch · ironisch · ka­tachre­tisch · lautmalerisch ∙ meta­pho­risch ∙ neolo­gisch ∙ oxy­moro­nisch ∙ paro­nomatisch ∙ quirilierend ∙ repe­tito­risch ∙ syn­ästhe­tisch ∙ teoda­daistisch ∙ unter­trei­bend ∙ vulgär · wortspie­lerisch · xylopho­nisch ∙ yid­disch ∙ zy­nisch geht es zu in den all­tägli­chen Al­phabe­ten von Fabri­kan­ten, Fein­den, Fremden, Freunden, Ver­wandten, Versver­fassern, der schat­ten des dichters schreibt die sonnenzeit (Claus Bremer), daß mir, ja, in der Tat, Hören und jetzt / jetzt jetzt jetzt (beim Lesen von Helmut Heißen­büttels Topographien) auch Se­hen verge­hen, beispielsweise so bei Oskar Pastior: flunder plunder zan­der schinder – ›usw.‹

Oder so –

Liquidation

An einem Tag im Mai des Jahres 2012 lese ich in einer E-Mail von Axel Kutsch Gotthold Eph­raim Lessings Begehr Wir wollen fleißiger gelesen sein. An diesem heftigen Verlangen hat sich wahr­scheinlich wenig bloß geän­dert seit jener ›guten alten Zeit‹ (die sicherlich alles andre, bloß das nicht war, nicht wahr?). In Mas­sen werden Bücher gedruckt, in Horden Auto­ren in den Himmel gehoben, aber werden sie auch gelesen? (Muß man sie alle lesen, und wollen sie alle gelesen sein?) »Ja, das weiß man nicht«, seufzt Kraus – vielsagend wie eh und je. Mich mit dieser sibyllini­schen Bemerkung keinesfalls abfinden wollend, blättre ich ein bißchen in Bü­chern und werde schnell fündig – bei Friederike Mayröcker, die ich im­mer lesen will: Ich möchte einfach, daß Leute meine Bücher l-e-s-e-n. – Und zwar Leser, die etwas mit meinen Texten machen, die mich in irgendeiner Weise kennen­lernen und damit wahr­scheinlich auch sich selber besser kennenlernen.

Statt die Antwortfunktion anzuklicken, greif ich zum Hörer, und, ich habe Glück, Kutsch ist gleich am Apparat. Es ist die Zeit, während der ich mit den Friederike Mayröcker und Hans Ben­der ge­widmeten Matrix-Ausgaben 28 und 29 befaßt bin, über die wir, naturgemäß, ausgiebig spre­chen, es ist aber auch die Zeit, in der ich beginne, das vorliegende Ge­dichtbuch vorzubereiten. Nach­dem die im Anschluß an den 2002 veröf­fentlichten Lyrikband Land Stadt Flucht geschriebenen Gedichte der Jahre 2003 bis 2012 zusammengestellt sind (unter denen man, das sei am Rande bloß bemerkt, allerlei Anmerkungen gäb es zu machen, soll ich, soll ich nicht, soll ich, soll ich nicht, das eine Akrostichon oder andere Cento auflesen kann), beschließe ich, nach eingehender und, wie man sich denken kann, recht temperamentvoller Be­ratung mit Peer Quer, das Buch in alpha­beti­scher Reihen­folge einzurichten, die Ge­dichte, somit, entsprechend der ersten Wörter der Titel als Sprachzu­fallsgenerator, ohne wenn und ohne aber, die Rei­hen­folge bestimmen zu lassen.

Poesie

Über diesen und jenen Buchtitel habe ich während der intensiven Lekto­ratsarbeit (Gedichte sind organisch-lebendige Gestalten von dynamischer Natur: Dieser Art gemäß kennen sie keine besie­gelten Versionen, I don’t look on poetry as closed works, offenbart John Ashbery, sondern drängen dauerhaft nach dem Wunschbild der Vollkommenheit, die sie aus­nahmsweise bloß erreichen – so bleiben sie als ›work in progress‹ auf immerwährender Wan­derschaft), auch im Aus­tausch mit Mrs Co­lumbo, hin und wieder nachgedacht: Stein von Toledo, In der Schwebe kommen in die engere Wahl, zum Zeitpunkt des Telefonats bin ich jedoch noch nicht zu einem Er­gebnis ge­kommen, was ja nicht schlimm ist, liegt die Herausgabe des Bu­ches doch noch in sehr angenehm weiter Ferne.

Nun erzähle ich Axel Kutsch vom guten ›Zufall‹, der es möglich gemacht habe, jeden Buchstaben von A bis Z tatsächlich mit wenigstens einem Gedicht zu besetzen. – ›Alphabet‹ sei ja vielleicht ein naheliegender Titel … »Aber so heißt nun einmal Inger Christensens so wunderwunderbares Gedicht­buch«, unterbricht Kraus ungefragt den lockeren Gedankengang, im übri­gen ohne Not, weiß er doch, daß alfabet zu den Ge­dichtbü­chern zählt, die auch bei mir den kraftvollsten Lektüre-Eindruck hinter­lassen haben, und ich, spontan / spielerisch-verspielt, einer feinen Assoziation bloß gefolgt bin. Ich zitiere also Nicanor Parra – Como los fenicios pretendo formarme mi propio alfabeto –, und Kraus, dem das spanisch vorkommt, ist, zunächst einmal, still (wer schweigt erinnert und wer erinnert schreibt, schweigend oder schreibend tritt man über den Rand ∙ Max Bense). – – – Und ich denke, un­vermit­telt, auf Bü­cher blickend, Kraus, Kutsch, das Telefonieren, hallohallo?, schlichteinfach verdrängend (und, viel­leicht, ein bißchen ›von Sinnen‹), Namenwörter quer und kreuz in loser Reihen­folge, ähn­lich Odysseus bin ich, wie sich vielleicht herumgesprochen hat, ebenfalls ein Freund von lustigen Listen, die ich an allen Ecken und Enden (Friederike Mayröcker ∙ Gedicht vom 4.12.2011), an allen Decken und Wänden und auf Teufel komm raus unterzubringen versuche: Ai­chin­ger ∙ Brinkmann (Ich finde gewöhnliche Sachen schön) ∙ Ce­lan ∙ Derschau ∙ Erb (Das Letternspiel aus Wolken wandert ungleich) ∙ Fels ∙ George (Leute, die hinter einem Gedicht den ›eigentlichen Sinn‹ suchen, sind wie die Affen, die immer mit den Händen hinter einen Spiegel fahren, als müsse dort ein Körper zu fassen sein) ∙ Hölderlin ∙ Ingold (auf -x reimt alles) ∙ Jandl ∙ Kling ∙ La­vant ∙ Mayröcker (in den Fingerspitzen krib­belt die Buchsta­benwelt, usw.) ∙ Novak ∙ Oppen­heim ∙ Priessnitz ∙ Quasimodo (Giorne dopo giorno: parole maledette) ∙ Reinig ∙ Saalberg ∙ Törne ∙ Uetz ∙ von der Vring ∙ Wühr ∙ Xena­kis (Es ist verboten / in der Zelle hin und her zu gehen) · Yeats (The poets labouring all their days / To build a perfect beauty in rhyme / Are overthrown by a woman’s gaze) · Zenke – und denke an Marcel Bey­ers Wespe, komm in meinen Mund, / mach mir Sprache, innen.

Also?

Gutschrift

Gleichzeitig verirrt sich wohl auch Axel Kutschs Blick in Bücherwänden, bis er an einem Buch­rücken hängen bleibt und die drei Wörter Das verlo­rene Al­phabet, die den Rücken von Michael Brauns und Hans Thills Lyrik­anthologie der 90er Jahre zieren, ›einfach so‹, unvermittelt, im virtuellen Raum zwi­schen Bergheim/Erft und Sistig/Eifel stehn, wor­aufhin ich, schon wie­der wortverspielt, um­gehend offeriere, doch ein ›gewonnenes‹ Al­phabet draus zu machen. Bevor Kutsch überhaupt bloß daran denken kann, die offenbar rasche Kopfnickre­aktion in Wörtern zum Ausdruck zu bringen (das erfahre ich nach dem Scharmützel), hauen, wie so oft, die usual suspects natur­gemäß und kaltblütig dazwischen and remind me, once again, of the beginnung of a beautiful friendship. O-Ton Bensch: »Nicht schlecht – ›be­gonnenes‹ Alphabet!« Und Kraus: »Ach ja? ›Gesponnenes‹ Al­phabet?« Dagegen Quer: »Von wegen – ›zerwon­nenes‹ Alphabet!«

Ich winke, schmallippig, ab, während mir noch ein paar mehr Möglich­keiten ins Köpfchen flattern, ogotto­gott – ein Wort (Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren steigen / erkanntes Leben, jäher Sinn, /die Sonne steht, die Sphären schweigen, /und alles ballt sich zu ihm hin. // Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, /ein Flammenwurf, ein Sternenstrich – /und wieder Dunkel, ungeheuer, / im leeren Raum um Welt und Ich), und, simsalabim, schon dreht sich das Wort­karus­sell / dehnt sich das Sprachuniversum weiter und weiter und weiter (usw.): Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.

Nein nicht so sondern so:

Simple

Ich bringe jetzt also lieber mal Mutter Katharina Breuer geborene Boß­hammer, die von 1924 bis 2003 in Bürvenich lebte, in meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs / wurde auch kein Chopin gespielt, ins schöne Spiel, die mich als Kind beglückt, indem sie mir, bei­spielsweise, wieder und wieder und wieder, das irgendwann nach 1900 vom Großvater zusam­mengereimte Alphabet vor­spricht, das ich Kutsch, ohne Rücksicht auf Verluste, Knall auf Fall und mir nichts dir nichts vorspreche: abel ∙ babel ∙ chris­toph ∙ dabel ∙ er ∙ fuhr ∙ gegen ∙ himmel ∙ in ∙ [ja!] ∙ klare ∙ luft ∙ manche ∙ neue ∙ obrigkeit ∙ peter ∙ quast ∙ reiner ∙ saft ∙ tante ∙ ulla ∙ von ∙ westphalen ∙ itschka ∙ yitschka ∙ zimmer­mann. Kein Wunder demgemäß, daß ich mit drei bereits lese und schreibe wie ein Weltmeister (Wald­meister?), natur­ge­mäß ohne lesen und schreiben zu kön­nen, zumal das Alphabetgedicht nicht der einzige lyri­sche Text bleibt, den Mutter mir nahebringt, so sprechen wir Abend für Abend gemeinsam Luise Hensels (übrigens einziges je veröf­fentlich­tes) Gedicht Müde bin ich mit den ab­schließenden Versen Laß den Mond am Himmel stehn / Und die stille Welt besehn! Im Ge­dicht k[l]eine bio­graphische trauerlegende ist die Rede von bom bom bitzele, dem Auftakt zu dem eben­falls vom Großvater gemachten dadafulmi­nanten Er­zählge­dicht, das die Lust auf Wörter, Texte, Al­phabete weiter befeuert: was wird sein wenn / ich schon bald vielleicht statt in den Büchern / zu lesen nur noch über die Buchrücken meiner Bibliothek / werde streichen können (FM) …

Das sind klangsangvolle Augenblicke, the music of the words is where the meanings begin (Paul Auster), die ich, wohlgemut, als ›wonne­trunkene‹ Momente der Kindheit erinnre und so auch heute frohen Herzens genieße, denke ich, wäh­rend die CD mit Dmitri Dmitrijewitsch Schosta­kowitschs fünfter Sinfonie, hältst du nicht inne?, weiter rasante Run­den dreht. – – – Weh mir / die Jahre kommen und vergehn / so sind wohl manche Sachen, nie habe ich mich ir­gendwo – und ging’s Giu­seppe Ungaretti, beispiels­weise, anders (nein): In nessuna / parte / di terra / mi posso / accasare – außerhalb von in Büchern gelesenen (bzw. in Manu­skripten ge­schriebe­nen) Buch­staben, Wörtern, Versen und Zei­len un­zweideutig heimisch fühlen ge­lernt – wie etwa wenn ich, auf Reisen in Francisca Ricinskis Zug ohne Räder, das warme Wortland entdecke oder durch die stillen Höhenzüge der Verse Friedrich Höl­derlins wandre: Ge­wässer aber rieseln herab, und sanft / Ist hörbar dort ein Rau­schen den ganzen Tag; / Die Orte aber in der Ge­gend / Ruhen und schweigen den Nach­mittag durch.

Sehr

»Wer, was und wo wärst du ohne das einstmals so fröhlich begonnene Alphabet, das du, tagein tagaus, zu verleb­endigen, aufs neue zu gewinnen suchst – allen Widerständen zum Trotz?« fragt Bensch, der gute Mensch von Schleiden, dessen Mienen­spiel ich stets mit Jandls gar traurig geht das hundel­vieh / auf einer zeh und einem knie in Verbindung bringe, und aus dem Off tönt Gerald Fiebig trotzig-apodiktisch mit der Antwort: man ist nie­mals am richtigen ort. / ob in büchern oder städten: / zwischen zeilen & zeichen: / der tod. – »Na bravo«, meint Quer (ist das Häme?), rezitiert – Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht sagen, was wir nicht denken können – ins Blaue hinein Ludwig Wittgenstein, Lesen geschieht in der abenteuerlichen Offenheit des Nichtverstehens, kontre ich, konfus, kopflos, mit Hans-Jost Frey, und mich fröstelt wie ein pferd, das durch Jandl-Verse trottet. – Später lese ich in Hans Benders Auf­zeichnungen: Splendid isola­tion. Du, allein, mit einem Buch. Na also, meine ich. Geht doch. Oder anders (mit Georg Trakl und Trude Herr): Es ist – gut.

 

 

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Der Essay Zuletzt sowie das Bildgedicht Simple Poem aus: Theo Breuer, Das gewonnene Alphabet, Gedichte · Glossar · Essay, 121 Seiten, Broschur, Pop Verlag, Ludwigsburg 2012.

(Die übrigen Bildgedichte aus: Theo Breuer, Word Theatre. Visuelle Poesie, Redfoxpress, Dugort/Achill Island/County Mayo/Irland 2007.)