MAULhURE

 

Doch, es gibt sie noch, die kritische Subkultur, die nicht nach hohlem Starkult lechzt, sondern bei der es um Inhalte geht. Die an die Kraft der Kunst glaubt und die Kunst nicht nur als Neurosenträger mißbraucht.

Hier sind sie alle versammelt. Jürgen Ploog, Ira Cohen, auch Hadayatullah, der kürzlich erst von uns ging, zusammen mit den Rebellen der jüngeren Generation: Florian Günther, Urs Böke, Jerk Götterwind, Roland Adelmann und diverse mehr. Das Cover stammt von Jenz, der jährlich mit seinem INSIDE ARTZINE im grafischen Bereich abdeckt, was die Dichter mit Worten umschreiben.

Qualität. Man kriegt sie so selten zu Gesicht. Bei den Ego-Schauen auf Facebook und MySpace, bei den Lesebühnen, Lesezirkeln und Käseblättern kommt sie so gut wie gar nie vor. „Subkultur“, sagte ein Lesebühnen- und Heftlesdichter mal, „ist doch eh nur das, was bei Rowohlt und Suhrkamp nicht reinkommt, weil es zu schlecht ist.“ HELs Spruch „wer nix taugt als unkrautvernichter / wird dichter“ schien mir zeitweise wirklich wortwörtlich zuzutreffen, ohne jede Ironie: viele „Dichter“, die ich kennenlernte, waren die größten Deppen weit und breit, hochneurotisch, mimosenhaft, selbstverliebt, minderbegabt und vor allem: vom Schreiben keine Ahnung und zum Schreiben keine Beziehung. Wenn die Äußerlichkeiten zum Aufnahmekriterium werden, gibt es keine Inhalte mehr. Wenn jeder Alkoholiker und Stützi Dichter sein kann dadurch, daß er Alkoholiker und Stützi ist, dann dünnt die Suppe aus.

Es gibt tatsächlich wenige Autoren und Organe, bei denen ich Glühen spüre. Biby Wintjes ist tot, Bruno Runzheimer auch, Hadayatullah auch. In Thomas Collmers ROLLERCOASTER glüht es, in Axel Montes RUDE LOOK, in der Berliner „Floppy Myriapoda“ glüht es nicht wirklich, auch „Libus“ war nur Fake, und die „Luftruinen“ sind manchmal auch noch nicht mehr als ein Organ für Lesebühnis, die probieren wollen, ob sie außer lesen auch schreiben können. Und auch aus Leipzig kommt nichts mehr – Frank Brökers HÄRTER wurde immer weicher, seit es zum „Haus aus Stein“ wurde und es nur noch um den Placebo-Barden Pratajev geht.

Aber Bökes MAULhURE glüht. Diese Gedichte und Prosetten sind nicht zu schlecht für Rowohlt und Konsorten, sondern zu gut. Zu ehrlich. Zu direkt. Zu offen. Die Dichter sind keine jungen Spunde mehr, sie müssen weder sich noch dem Leser etwas vormachen. Der frühe Social Beat war ja auch deshalb oft so banal und prätentiös, da man das Gefühl hatte, man müsse nur möglichst viel Sex und Suff in den Zeilen unterbringen und den Macker raushängen, und schon wäre es ein Gedicht. Von derlei Affereien hier keine Spur – na gut, bis vielleicht auf „Bettfedern“ von Hartmuth Malorny. Aber sonst – Hermann Borgerdings Menschlichkeit rührt einen bis ins Mark, genauso Jörg Herbig. Jerk Götterwind schreibt über Behörden und über eine verquaste Künstlertussi, und da ist überall ein Glimmen zwischen den Worten. Und Florian Günther reflektiert über verflossene Frauen, über Janis Joplin und Arthur Rimbaud, und, Günther: es geht nicht darum, aufhören zu schreiben. Auch Rimbaud hat ja nicht aufgehört zu schreiben. Er hat nur aufgehört, sich in den Schickimicki-Dichterzirkeln in Paris herumzutreiben und zu veröffentlichen. Verstummt ist er nie.

Und ich bin froh, daß auch die MAULhURE nicht verstummt ist.

Die Subkultur ist zäh. Jedenfalls die echte. Sie übersteht Krebs, Entzugskuren, Nervenzusammenbrüche und falsche Propheten. Sie wird reifer, sie wird humorvoller, sie kann grinsen, sie ist gelassener. Aber sie ist nicht totzukriegen.

Sie glüht, ja. Die Asche ist warm. Und das tut gut.

 

 

 

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Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.