Ruheleben

 

Maueröffnung. Rainer Ernst verfolgt die Live–Übertragung von Historie am Fernsehgerät. Er hat vor Unzeiten rübergemacht. War nach Wanne–Eickel gezogen, um auf Unser Fritz als Hauer unter Tage sein Glück zu suchen. Er köpft ein weiteres Bier. Schnippt mit dem Daumennagel den Kronkorken weg. Lädt das Pinnchen nach. Prostet den Grenzgängern mit einem Wodka zu. Pennt besoffen vor der Glotze ein und scheidet vor seinem Tod aus dem Leben.

Frühmorgens weckt ihn die Türklingel. Seine Familie aus der DDR steht vor der Haustür. Vierzig Jahre lang sind sie von den Bolschewisten schikaniert, unterjocht und ausgebeutet worden. Die Freude des Wiedersehens ist gross, aber leider kurz. Der Vater stirbt vor lauter Aufregung an einem Herzschlag. Das Freudenfest der Wiedervereinigung wird zu einer Trauerfeier. Die Familie kann leider nicht so zusammenwachsen, wie sie zusammengehört. Der Dauerzustand ihrer Trauer über das verlorene Leben geht über in eine vakuumverpackte Leere.

Rainer tritt in die Fussstapfen seines Vaters. Er übernimmt das Kommando. Regelt die Angelegenheiten und bestellt den Arzt. Für den Mediziner ist der Fall klar: Angina Pectoris. Er stellt ohne Bedenken den Totenschein aus. Das Sozialamt kommt für die Beerdigungskosten nicht auf, erklärt sich in diesem speziellen Fall aber bereit, das Begrüssungsgeld nachträglich zu zahlen. Der Termin mit einem Beerdigungsinstitut kommt wegen grosser Nachfrage erst am nächsten Tag zustande.

»Wir haben nicht viel Geld«, murmelt seine Mutter Elfriede. Gertrud von Grahm empfiehlt als Unternehmerin im Leichenmanagement eine Komplettvergrabung:

»Wir tauschen 1:5. Neu im Angebot ist eine kostengünstige Form: die anonyme Erdbestattung. Bei diesem Verfahren liegen mehrere Leichen über– oder untereinander in einer Gruft. Eine Vorschrift der Gemeinde, denn bei explodierenden Grundstückspreisen werden die Liegeplätze knapp.«

Im Laufe der Jahre sind die Aufgaben des Bestatters immer komplexer geworden. Gertrud von Grahm hat sich vorgenommen, für mehr gesellschaftliche Akzeptanz des Berufszweiges zu sorgen. Die Zeiten sind vorbei, in denen der Bestatter lediglich Särge verkaufte und Beerdigungen organisierte. Vor allem in den Grossstädten ist er auch Ansprechpartner für alle Fragen und Probleme, die bei einer Bestattung auftreten können. Die Anforderungen an den Fachmann sind in behördlicher, religiöser, versicherungstechnischer und juristischer Hinsicht äusserst komplex geworden.

»Das will ich aber nicht! Der Vater zwischen so vielen anderen Menschen«, kreischt Klara, Rainers jüngere Schwester hysterisch, weil aus einem uralten Abschiedsritual ein nüchterner Akt der Entsorgung wird.

»Dann rate ich Ihnen zu einer sauberen Lösung, dem Einäschern…«

»Saubere Lösung…«, stammelt Elfriede Ernst. Greift sich ans Herz. Setzt sich. Gertrud von Grahm registriert, dass kein weiterer Exitus zu erwarten ist. Sie ist vom Kuratorium Deutsche Bestattungskultur darauf vorbereitet worden, der Familie nicht nur behördliche Formalitäten abzunehmen, sondern auch als Seelsorgerin beizustehen. Die Betreuung der Angehörigen, die mit der Situation überfordert sind, nimmt einen grossen Teil ihrer Arbeit ein. Keiner darf vereinzeln, der Tod darf kein Tabu mehr sein.

»Beerdigen ist eine Schadstoffquelle. Zahnfüllungen, Medikamentenreste im welken Fleisch, giftige Knocheneinlagerungen. Der Mensch ist Sondermüll«, gibt die Dame vom Beerdigungsinstitut kühl kalkulierend kund. Sie wird noch zu einem lukrativen Hausbesuch erwartet. Viele Grabsteine erzählen von den Verstorbenen, sind quasi die letzte Visitenkarte, und solch eine Epistel will sie jetzt an den Mann bringen, deshalb kann sie sich nicht länger mit Kassenpatienten aufhalten. Und ausserdem hält sie am Abend wieder ihren Kurs „Sich trauen zu trauern“ ab, ein Seminar, das sich an alle Menschen gleichermassen und nicht nur an Kunden des Hauses richtet.

»Können wir nicht bei uns im Garten…«, versucht Rainer einen Kompromiss anzudenken, wird aber mit einem strengen Blick zurechtgewiesen. Kompostierung gilt nur für Bio–Müll. Kiefernsärge dagegen werden häufig für Einäscherungen verwendet. Wer sich für eine Feuerbestattung entscheidet, kann auch bei der Urne zwischen unterschiedlichen Materialien auswählen. Einfache Stahlurnen sind günstiger als schwere Bronze– oder Marmorurnen. Die Institutsleiterin schiebt ein Formular über den Tisch. Legt einen Kugelschreiber dazu.

»Sie unterschreiben bitte unten rechts. Die Einäscherung findet in drei Tagen statt. 8·30 Uhr, Nordfriedhof. Sein Sie bitte pünktlich.«

Rainer unterschreibt den Vertrag und zahlt per Credit–Card. Die Institutsleiterin begleitet die Trauernden zur Tür, sieht jedem Familienmitglied mitfühlend in die Augen. Das gehört zum Service.

Ein Grab auszuheben ist Knochenarbeit. Man braucht dafür einen Spaten, eine Spitzhacke und im Winter einen Presslufthammer, um den Boden aufsprengen zu können. Manfred Schulz ist eigentlich Präparator, er macht den Job, seitdem ihn die Klinik rausgeschmissen hat. 250,– Euro bringt ihm jede Leiche. Anfangs hatte er zu Wochenbeginn einen Muskelkater, inzwischen hat er die Schüppe im Griff und braucht nur noch sechs bis sieben Stunden, bis ein Grab ausgehoben hat. Dabei hält er sich streng an die Richtlinien der Friedhofs–Ordnung: Ein Grab soll 2,20 Meter lang, 90 Zentimeter breit und 1,60 Meter tief sein. Das grösste Trauma für den Handwerker ist die Vorstellung, dass der Sarg nicht ganz hinein passt oder schief steht und hundert Beerdigungsgäste drumherum.

Eigentlich startet der Zersetzungsprozess umgehend nach dem Tod, weil die Sauerstoffzufuhr endet. Im Gewebe beginnt es zu gären. Die für den Stoffwechsel zuständigen Enzyme lösen die Zellstrukturen auf. Die im Darm befindlichen Bakterien erobern Neuland, sie verteilen sich über Eingeweide und Blutbahnen im Körper. Bei diesen anaeroben Fäulnisprozessen verwandeln sich Innereien in die Abbauprodukte Kohlendioxid, Wasser, Methan, Alkohol und organische Säuren. Aus einer Leiche wird Schwefelwasserstoff, Wasserstoff, Ammoniak. Es entweichen geruchsintensive Amine wie Cadaverin und Putrescin. Verflüssigtes Körpergewebe läuft aus. Hat die Grabfauna ihre Arbeit getan, verbleiben im Boden Knorpel– und Bindegewebreste, Huminsäuren und das Skelett.

Normalerweise schaufelt Manfred Schulz die Gebeine heraus und macht Platz für den Nächsten. In der letzten Zeit holt der Friedhofsgärtner mehr aus dem Boden raus, als ihm lieb ist. Vom vielen Verwesen ermüdete Böden, moderne Kleidung, robuste Särge und stetes Blumengiessen haben das Verfalldatum sterblicher Überreste hinausgeschoben. Statt ein paar Knochen findet Manfred Schulz zwischen halb verfaultem Sargholz unverweste Leichen in der Unterwelt.

Dr. Hans Dillenburg steht am Rand des Grabes und lässt sich vom Totengräber erläutern, warum das Einswerden mit der Erde ins Stocken gerät. Schulz begegnet beim Neubestellen des Grabes einer Fettwachsleiche, einem gelblichen Körper, der sich mangels Sauerstoff durch die eigenen Abbauprodukte selbst konserviert hat. Weil das Grab bereits verkauft ist, stellt Manfred Schulz die Frage:

»Wohin mit der Leiche?«

Sein Vorgesetzter trägt vernünftige Socken und Schuhe, die Halt geben. Er geht schweigend um das Grab herum, sorgsam darauf bedacht, dass er dem Rand nicht zu nahe kommt. Ihm fällt auf, dass das meiste, was sich in Sachen Design auf den Friedhöfen abspielt, ein Trauerspiel in Granitgrau und Goldschnittschrift zwischen Buchshecken und Lebensbäumen ist. Besinnlichkeit überwiegt.

Beim Ausschachten achtet der Grabmacher Manfred Schulz darauf, dass immer eine Leiter in der Gruft steht, damit er schnell herausklettern kann. Wenn die Erde zu locker ist, kann die Grube einstürzen und ihn erdrücken. Auf diese Weise kommen im neuen Deutschland zwei Friedhofsgärtner pro Jahr ums Leben. Der Versenkungsrat erinnert sich daran, dass alte Mieter bereits tiefer gelegt wurden. Die Verantwortung dafür will er seinem Vorgesetzen nicht abnehmen.

Schon vor dem Kommunalwahkampf wollte Dillenburg das System auf Grabkammern umstellen. Diese Betonkisten liegen unsichtbar unter dem Rasen. Einmal eingebaut, sind sie mehrfach verwendbar. Es müssen nur Blumen, Rasen und etwas Erde weggeräumt, der Deckel gehoben, der neue Sarg hineingestellt werden. Ausgelegt sind die Kammern auf eine Betriebszeit von 100 Jahren. Der Trend zur Grabkammer hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Versenken des Sarges direkt in die Erde. In diesen Flachgräbern ist Platz für viel frische Luft.

»Ein 80 Kilogramm schwerer Leichnam braucht gut 40 Kubikmeter Sauerstoff für eine vollständige Verwesung. Der berühmteste aller Christen hat auch in einer Grabkammer gelegen«, flucht Dillenburg vor sich hin und läuft wie ein beidseitig geschliffenes Messer um das Grab herum, so glatt und fiebrig–nervös im nur mühsam beherrschten Überdruck, dass man sich ständig an ihm schneiden könnte.

»Nach meiner Beobachtung hat die Zersetzungsstörung damit zu tun, dass der Tonboden, das Wasser und der luftdichte Sarg dies verhindern«, wird es dem Totengräber in der Gruft mulmig, er klettert die Leiter herauf und stellt sich neben Dillenburg. Es gibt nur einen Moment, wo der Mensch mit der Natur eins wird, wenn er unter der Erde vermodert. Er hat seinen Chef wiederholt auf die Verwesungsmüdigkeit des Bodens hingewiesen. Das Erdreich in diesem Gottesacker ist durch den jahrhundertelangen Dienst am Menschen derart ermattet, dass es ihn quittiert.

»Obwohl der Fichtensarg eine tadellose Verwesung verspricht, hat der Eichensarg einen Marktanteil von 10 bis 25 Prozent erreicht. Mit der verheerenden Folge, dass ein Vordringen der Leicheninsekten in den Zersetzungsraum dadurch unterbunden wird. Sogar das Verbot, Verstorbene im offenen Sarg auszustellen, schafft Verwesungsprobleme, weil sich eine Vielzahl von Fliegen darauf spezialisiert hat, ihre Eier auf toten Körpern abzulegen. Die Möglichkeit zur Erstbesiedlung besteht heute nicht mehr in jedem Fall«, redet sich Dillenburg in Rage. Die Beerdigung muss verschoben werden, weil Umweltaktivisten den Schornstein besetzt haben. Es liest das Infoblatt:

„Liebe BürgerInnen! Am Schornstein dieses Einäscherungsofens werden hochgefährliche Dioxine und Furane gemessen. Bis zu 144–mal mehr als nach der T.A.–Luft für Müllverbrennungsanlagen zulässig wäre. Von Leichnamen rühren Umweltlasten, die das Grundwasser vergiften. Jedes Bestattungsunternehmen wirft erhebliche Mengen an Schwermetall ab, allein 12 Kilogramm an giftigem Quecksilber. Etwa 42 Liter Flüssigkeit speichert der Mensch. Bei rund 800.000 Menschen sickern in Deutschland 32 Millionen Liter Leichenwasser in den Untergrund. Dieser Feuerbestattungsofen muss wegen unerträglich hoher Luftverschmutzung stillgelegt werden. Zuerst stirbt der Mensch, dann die Umwelt. Wir fordern das Verbot der letzten Ölung.“

Diese Aktion führt zu einem Bestattungsstau. Die Kühlhäuser sind überfüllt. Als Wert an sich droht das Individuum bedeutungslos zu werden. Überregionale Medien greifen den Fall auf. Kamerateams rücken an. Kommunalpolitiker machen ihren Kollegen vom Landtag Druck. Weil gerade die Wahlen vor der Tür stehen, werden alle vorhandenen Kapazitäten genutzt. Die verantwortlichen Gremien handeln mit Hilfe eines Feuerwehrfonds des Landes schnell und unbürokratisch. Der Verbrennungsofen wird stillgelegt.

Nach vorliegenden Plänen rüstet man das Krematorium in ein Kühlhaus um. Da diese Gesellschaft den Tod nicht zulassen kann, muss sie ihn zuteilen. Ein elektronisch gesteuerter Gabelstapler rollt durch die 60 Meter lange, 15 Meter breite Leichenhalle, stapelt die Särge in die 8 Meter hohen Regale. Elektronisch gesteuert, sortiert er die Toten nach Terminen. 60 Särge pro Stunde, rund um die Uhr. Sogar Termine von Gerichtsmedizinern merkt sich der Computer. Auf die Sekunde pünktlich rollt der Sarg über ein Förderband ins Kühlhaus. Der Leichnam wird in flüssigen Stickstoff getaucht und auf Minus 196°C schockgefroren. Der extrem zerbrechliche Körper zerfällt dann auf einem Rüttler in grobkörniges Pulver, das in einer Vakuumkammer getrocknet wird. Metallteile wie Amalgamfüllungen oder künstliche Hüftgelenke werden maschinell entfernt und recycelt. Von einem 75 kg schweren Menschen bleiben so 25 kg trockenes, geruchsloses Pulver. Das ganze wird in einem Behältnis aus pflanzlicher Stärke flach unter dem Boden begraben. Nach rund einem Jahr wird daraus Humus.

Priester Ludgerius muss Überstunden machen, weil seine Gemeinde als Gesellschafter an dem neuen Bestattungsverfahren beteiligt ist. Obzwar er davon überzeugt ist, dass dieses Verfahren der Bibel am nächsten ist, verfängt er sich im pastoralen Wortnetzdasein und leiert sein Pax vobiscum erschöpft herunter.

Im Kühlhaus wird eine zusätzliche Stelle eingerichtet werden. Eleonore Knippenkötter bessert ihre Rente auf, sie ist für das Grobe zuständig. Was nach Luxus aussieht, kommt auf die Seite. Die neue Kollegin klappt den Sargdeckel hoch. Nimmt die Innenseite in Augenschein. Tastet das Totenbett auf seine Beschaffenheit ab. Überzeugt sich, ob das letzte Hemd des Leichnams möglichst aus Baumwolle ist. Zieht dem Toten die Schuhe aus und legt sie für eine karitative Sammlung zu Gunsten der 3. Welt beiseite. Sie hat viele Menschen bestattet, weiss, wie Leid aussieht, und wie sie es von sich fernhält. Über bestimmte Dinge sollte man nicht ständig nachdenken, wenn man gesund bleiben will. Wenn sie die Verstorbenen auszieht, konzentriert sie sich nur darauf. Erst wenn sie rausgeht und die Tür schliesst, macht es klick im Kopf und sie lacht über den Tod, der sie mit jeder Bestattung dem Leben näher bringt.

Das Leben kann weitergehen, wenn der Tod sein Recht bekommt. Stille Beisetzungsfeier im Familienkreis, die eine lautlose Lebensmusik verklingen lassen, um im Tod völlige Freiheit zu gewinnen. Sie repräsentieren in ihren Trauerkleidern das grosskarierte, verwaschene Unglück des enteigneten Lebens. Durchschauen, das tote Menschen wie alle anderen sind. Murmeln Beschwörungsformeln. Die Mutter versteht, dass ihr Mann ein Leben lang zu ihr gesprochen, nie mit ihr. Sie macht im Gram noch Konversation und will zusammenhalten, was nicht mehr existiert: die Familie. Auch wenn alle im Raum sind, sind sie nicht wirklich da. Erhalten kein Aphrodisiakum für Nekrophile, das morbide Romantik mit Angstlust verbindet, eher eine glasklare Heiterkeit und die unnachgiebige Menschenliebe, die sich im Angesicht des offenen Grabs einstellt.

Die Fassade aus pulverbeschichteten Aluminium–Platten wirkt klar und leicht, seitlich strukturieren Lamellen die grosse Fensterfront. Das Changieren zwischen opakem Sichtbeton und transparentem Glas, das Nebeneinander von funktionalen und szenischen Elementen fügt sich wie ein Mysterium zum rationalen Baustil. Im Innern setzen sich die Lamellen als Geländer an den langen Rampen fort, die ins Kühlhaus führen. Eine viertel Stunde nachdem die Leiche schockgefroren wurde, öffnet der technische Leiter die Zwischentür. Priester Ludgerius reicht das Behältnis aus pflanzlicher Stärke an Elfriede. Den Tod sieht sie als ein Provisorium, ein vorübergehendes Phänomen und denkt: „Ich bin, was ich war“. Die Erinnerung wird ihr Leben. Sie versteinert in eisiger Vergletscherung. Ihr Mund ist ein Werkzeug, Worte wie Krustenwesen, die bei lebendigem Leib geknackt und heruntergeschlürft werden. So eine langweilige Zeit hat sie zuletzt im Wartezimmer ihres Zahnarztes erlebt. Die Stimmung fährt Rolltreppe abwärts. Zu ihrer Lebenswelt gehören nun die Abwicklung alter Ideale, westliche Überheblichkeit, Ausnutzung ostdeutscher Unterwürfigkeit bis zur kriminellen Beutelschneiderei. So hat sie sich den goldenen Westen nicht vorgestellt. Schwarze, elegante Limousinen mit dunkelgrauen Vorhängen, den klassischen Leichenwagen von einst gibt es nicht mehr. Die Fahrzeuge sind unauffälliger, dezent in grau, kaum von anderen Kombis zu unterscheiden.

Die Verabschiedung von seiner Mutter in der Bahnhofshalle von Wanne–Eickel verläuft ohne Worte. Ein letztes Mal betrachtet Elfriede ihren Sohn. Die restlichen Haare sind nach hinten geklatscht, Kinn und Nase stechen hager nach vorn, das zerknitterte Sakko hängt über den gekrümmten Schultern, um die dünnen Beine schlottert eine weite Hose, an den Füssen stecken spitze Slippers.

Die Seele von Rainer Ernst hat die Stärke eines rohen Eis. Niemand kann dem Faktum seiner Verletzbarkeit entrinnen. Von seiner Familie abhängig zu sein, zeichnet das Menschliche gerade aus. Es geht ihm um die liebenswürdigen Seiten das so genannte einfache Leben haben kann. Er versucht in seiner Lebensweisheit, die tragikomischen Momente seiner selbst wahrzunehmen.

Vom Boden der Tatsachen direkt zu den Sternen. Elfriede legt das Behältnis aus pflanzlicher Stärke ins Familiengrab. Ihre Augen gähnen unter halb geschlossenen Lidern. Sie hat für die Welt nurmehr gelangweilte Verachtung übrig. Es gibt kein humanes Sterben, und es gibt den Tod nicht als verwaltbaren Rest. Die Beisetzung findet im Freilichtmuseum deutscher Klassik auf dem Friedhof in Weimar statt, in direkter Nachbarschaft zu den unsterblichen Geistesgrössen der Nation. Ein kleiner Trost in Zeiten transzendentaler Obdachlosigkeit.

 

 

 

***

Monster, Short-Stories von A.J. Weigoni. Krash-Verlag 1990

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. Daher sei sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso eindrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten.

Die Monster Short-Stories waren die Vorstufe zu Zombies, Erzählungen von A.J. Weigoni, Edition Das Labor 2010

KUNO übernimmt zu Zombies einen Artikel von Kultura-extra aus Neue Rheinische Zeitung und fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur. Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.