Schlagwort: Walter Benjamin

Sonette – XIII

  Zu spät erwachte unser müdes Schauen Da Abendwolken purpurn schon beschatten Das Sinken jener Stirn die ohn Ermatten Umworben unser zagendes Vertrauen   So muß sich Andacht mit dem Tode gatten Der trägt sie auf verschwiegner Fahrt den grauen…

Sonette – VII

  Wie soll mich dieses Tages Glänzen freuen Wenn du nicht mit mir in die Wälder trittst Wo Sonne in den schwarzen Ästen blitzt Die konnte einst dein tiefer Blick erneuen   Indes der Lehre Wort dein Finger ritzt In…

Sonette – VI

  Da schon im hohen Schmerzensmeer verloren Die Woge deines Lebens rollt vergib Das scheue Lied das sehr verlaßne Lieb Verschüttet aus dem leisen Mund der Toren   Das im vergeßnen Finster als ein Dieb An Schlüften des Gebirgs das…

Sonette – V

  Du nie mehr klingende die in die Schwüle Der grünen Hänge tauend niederschlug In ihren Flügeln Windessingen trug Dich machte stumm der Engel der Gefühle   O Stimme der mit seiner Hand erhub Dein Atmen in die ewig klare…

Sonette – IV

  Es waren seine Blicke im Erwachen Mein einzig Leuchten auf den irren Fährten Und seiner Augen Sterne sie gewährten Den einzgen Schein in meinen Schlafgemachen   Nun sind dahingegangen die Gefährten Die stummen Spiegel allen Geistes brachen In diesen…

Sonette – III

  Du selige Geburt wie tief verschwiegen Entstieg ich ihm und war zur Stund bestimmt Zu sein wie Nacht die ihm im Auge glimmt Dem Leisesten auf weiten Himmelsstiegen   Der Strahl zu sein den er im Blick vernimmt An…

Sonette – II

  Hättst du der Welt dein Sterben prophezeit Natur wär dir vorangeeilt im Tode Kehrte mit unerbittlichem Gebote Das Sein in ewige Vergessenheit   Am Himmel ständen sanfte Morgenrote Zur Stunde da hinglitt dein Körperkleid Die Wälder färbte alle schwarzes…

Sonette

  Ich bin ein Maler der aus SchattenDas wunderbarste Bildnis maltUnd teurer seine Farben zahltAls andre ihre vollen satten Wenn keiner mehr von ihren prahltErglühen noch die meinen mattenWie über schweren GrabesplattenEin altes Mosaik erstrahlt Und doch steht Nacht vor…

Affentheater

Affentheater – dieses Wort hat für Erwachsene etwas Groteskes. Das fehlte ihm als ich zum ersten Mal es hörte. Ich war noch klein. Daß Affen auf der Bühne ungewöhnlich sein mußten, kam im Rahmen dieses Ungewöhnlichsten: der Bühne nicht zur…

Mit Essays Licht ins Dasein bringen

Im Blick auf den Geistreichtum eines guten Essays kann man den Essay als den großen Bruder der Twitteratur auffassen. Apodiktische Postulate sollte man mit größter Vorsicht genießen. Die These Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch entstammt dem Aufsatz…

Das Fieber

Das lehrte stets von neuem der Beginn von jeder Krankheit, mit wie sicherem Takt, wie schonend und gewandt das Mißgeschick sich bei mir einfand. Aufsehn zu erregen, lag ihm fern. Mit ein paar Flecken auf der Haut, mit einer Übelkeit…

Die Nacht ∙ die Atmosphären ∙ die Texte

  Von Wörtern, die glücklich oder traurig machen können Die Nacht hat aufgehört zu kichern. Sie schläft in ihren Stiefeln. Und ein verdatterter Mond schaut zu. Welch ein Bild! Ich finde es 2009 in Dietmar Daths Roman Sämmtliche Gedichte. Auf…

to be continued

Intellektuelle bekennen sich seit einiger Zeit zum TV. Als Lieblingsfernsehserie werden wahlweise „The Sopranos“, „Mad Men“ oder „The Wire“ angegeben. Was bei den vorgenannten Serien auffällt, ist unterschwellig auch eine neue Definition von Gegenwartsliteratur. Das Medium DVD gestattet es sich…

Holger die Hörspielgurke

Dennis Rohling spielt seit mehr als 10 Jahren in unregelmäßigen Abständen Theater und hat so seine Leidenschaft für darstellende Kunst entdeckt. Er bekennt sich zu einem Theater, das die Wirklichkeit aufs Spiel setzt und mit der Wirklichkeit spielt, damit man…

Was ist Kunst?

Lose kunsttheoretische Gedanken Als Kunstwissenschaftlerin muss man sich immer wieder die Frage stellen lassen, mal ganz provokant hingeworfen, mal schlicht dahergesmalltalkt, was das denn nun eigentlich sei, womit man sich da beschäftige. KUNST. Einerseits enervierend, sich rechtfertigen zu müssen für…

Verweis auf das Nachwort

Wirkliche Kunst hat die Eigenschaft, uns nervös zu machen, schreibt Susan Sontag in ihrem Essay Against Interpretation, was ist etwas anderes ist, als zu schockieren. Nicht auf Verunsicherung, nicht auf Kritik, die uns immer dazu bringen möchte, zu hinterfragen, würde Kunst…

PAPIER UND SCHREIBWAREN

  PHARUS-PLAN. Ich kenne eine, die geistesabwesend ist. Wo mir die Namen meiner Lieferanten, der Aufbewahrungsort von Dokumenten, Adressen meiner Freunde und Bekannten, die Stunde eines Rendezvous geläufig sind, da haben ihr politische Begriffe, Schlagworte der Partei, Bekenntnisformeln und Befehle…

Winterabend

  Manchmal nahm mich an Winterabenden meine Mutter zum Kaufmann mit. Es war ein dunkles, unbekanntes Berlin, das sich im Gaslicht vor mir ausbreitete. Wir blieben im alten Westen, dessen Straßenzüge einträchtiger und anspruchsloser waren als die später bevorzugten. Die…

AUF HALBMAST

  Stirbt ein sehr nahestehender Mensch uns dahin, so ist in den Entwicklungen der nächsten Monate etwas, wovon wir zu bemerken glauben, daß – so gern wir es mit ihm geteilt hätten – nur durch sein Fernsein es sich entfalten…

MINISTERIUM DES INNERN

  Je feindlicher ein Mensch zum Überkommenen steht, desto unerbittlicher wird er sein privates Leben den Normen unterordnen, die er zu Gesetzgebern eines kommenden gesellschaftlichen Zustands erheben will. Es ist, als legten sie ihm die Verpflichtung auf, sie, die noch…

FUNDBÜRO

  VERLORENE GEGENSTÄNDE. Was den allerersten Anblick eines Dorfs, einer Stadt in der Landschaft so unvergleichlich und so unwiederbringlich macht, ist, daß in ihm die Ferne in der strengsten Bindung an die Nähe mitschwingt. Noch hat Gewohnheit ihr Werk nicht…

GALANTERIEWAREN

    Unvergleichliche Sprache des Totenkopfes: völlige Ausdruckslosigkeit – das Schwarz seiner Augenhöhlen – vereint er mit wildestem Ausdruck – den grinsenden Zahnreihen. Einer, der sich verlassen glaubt, liest und es schmerzt ihn, daß die Seite, die er umschlagen will,…

ERSTE HILFE

  Ein höchst verworrenes Quartier, ein Straßennetz, das jahrelang von mir gemieden wurde, ward mir mit einem Schlage übersichtlich, als eines Tages ein geliebter Mensch dort einzog. Es war, als sei in seinem Fenster ein Scheinwerfer aufgestellt und zerlege die…

MEXIKANISCHE BOTSCHAFT

  „Je ne passe jamais devant un fétiche de bois, unBouddha doré, une idole mexicaine sans me dire: C’estpeut-être le vrai dieu.“      Charles Baudelaire Mir träumte, als Mitglied einer forschenden Expedition in Mexiko zu sein. Nachdem wir einen…

Deutungsmuster und Übersetzungsmöglichkeiten

  Holger Benkel verfügt über kulturelle Deutungsmuster und Übersetzungsmöglichkeiten, über die andere Autoren nicht unbedingt verfügen. Seine Biographie erscheint als Zwischenexistenz, als interkulturelle Existenz, aber sie dient ihm der produktiven Herausforderung und nicht irgendeiner ›Verostung‹. Da entdeckt das flimmernde Ich…

INNENARCHITEKTUR

  Der Traktat ist eine arabische Form. Sein Äußeres ist unabgesetzt und unauffällig, der Fassade arabischer Bauten entsprechend, deren Gliederung erst im Hofe anhebt. So ist auch die gegliederte Struktur des Traktats von außen nicht wahrnehmbar, sondern eröffnet sich nur…

WAFFEN UND MUNITION

  Ich war in Riga, um eine Freundin zu besuchen, angekommen. Ihr Haus, die Stadt, die Sprache waren mir unbekannt. Kein Mensch erwartete mich, es kannte mich niemand. Ich ging zwei Stunden einsam durch die Straßen. So habe ich sie…

Theorien des deutschen Faschismus

  Léon Daudet, Sohn von Alphonse, selbst ein bedeutender Schriftsteller, Leader der royalistischen Partei Frankreichs, hat in seiner Action Française einmal einen Bericht über den Salon de l’Automobile gegeben, der, wenn auch vielleicht nicht mit diesen Worten, in die Gleichung…

Erst der Messias selbst

  Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, dass er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erlöst, vollendet.     *** Walter Benjamin ist ein Meister des Aphorismus, in seinen Ausführungen finden wir aber…

Das Dornröschen

  Wir leben im Zeitalter des Socialismus, der Frauenbewegung, des Verkehrs, des Individualismus. Gehen wir nicht dem Zeitalter der Jugend entgegen? Jedenfalls leben wir in einer Zeit, wo man keine Zeitschrift aufschlagen kann, ohne daß einem das Wort „Schule“ in…

COIFFEUR FÜR PENIBLE DAMEN

  Dreitausend Damen und Herren vom Kurfürstendamm sind eines Morgens wortlos aus den Betten zu verhaften und vierundzwanzig Stunden festzusetzen. Um Mitternacht verteilt man in den Zellen einen Fragebogen über die Todesstrafe, ersucht auch dessen Unterzeichner, anzugeben, welche Hinrichtungsart sie…

ACHTUNG STUFEN!

  Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird.   ***

Ein Weihnachtsengel

Mit den Tannenbäumen begann es. Eines Morgens, als wir zur Schule gingen, hafteten an den Straßenecken die grünen Siegel, die die Stadt wie ein großes Weihnachtspaket an hundert Ecken und Kanten zu sichern schienen. Dann barst sie eines schönen Tages…

Das bucklichte Männlein

  Solange ich klein war, sah ich beim Spazierengehen gern durch jene waagerechten Gatter, die auch dann erlaubten, vor einem Schaufenster sich aufzustellen, wenn gerade unter ihm ein Schacht sich auftat, welcher dazu diente, mit etwas Licht und Luft die…

BAUSTELLE

  Pedantisch über Herstellung von Gegenständen – Anschauungsmitteln, Spielzeug oder Büchern – die sich für Kinder eignen sollen, zu grübeln, ist töricht. Seit der Aufklärung ist das eine der muffigsten Spekulationen der Pädagogen. Ihre Vergaffung in Psychologie hindert sie zu…

Malerei und Photographie

Peter Meilchen und Walter Benjamin sind sich nie begegnet. KUNO erinnert mit einer Denkfigur an den einen ohne den anderen nicht zu vergessen. Wenn man an Sonn- und Feiertagen bei erträglichem Wetter in den Pariser Stadtvierteln Montparnasse oder Montmartre spazieren…

Was schenke ich einem Snob?

  Einen Snob beschenken heißt, sich auf eine Pokerpartie einlassen. Die Seele des Snobismus ist nämlich der Bluff. Bluff aus Frechheit oder aus Angst, das kann man hier so wenig wie im Poker unterscheiden. Jedenfalls könnte man gar keinen größeren…

Schränke

  Der erste Schrank, der aufging, wann ich wollte, war die Kommode. Ich hatte nur am Knopf zu ziehen, so schnappte die Tür aus ihrem Schlosse mir entgegen. Drinnen lag meine Wäsche aufbewahrt. Unter all meinen Hemden, Hosen, Leibchen, die…

Ein Außenseiter macht sich bemerkbar

  Uralt, vielleicht so alt wie das Schrifttum selber, ist in ihm der Typus des Mißvergnügten. Thersites, der homerische Lästerer, der erste, zweite, dritte Verschworene der Shakespeareschen Königsdramen, der Nörgler aus dem einzigen großen Drama des Weltkrieges, sind wechselnde Inkarnationen…

Das Karussell

Das Brett mit den dienstbaren Tieren rollte dicht überm Boden. Es hatte die Höhe, in der man am besten zu fliegen träumt. Musik setzte ein, und ruckweis rollte das Kind von seiner Mutter fort. Erst hatte es Angst, die Mutter…

Die Wiederkehr des Flaneurs

  Wenn man alle Städteschilderungen, die es gibt, nach dem Geburtsorte der Verfasser in zwei Gruppen teilen wollte, dann würde sich bestimmt herausstellen, daß die von Einheimischen verfaßten sehr in der Minderzahl sind. Der oberflächliche Anlaß, das Exotische, Pittoreske wirkt…

SPIELWAREN

  MODELLIERBILDERBOGEN. Buden haben wie große schwankende Kähne zu beiden Seiten die steinerne Mole angelaufen, auf der die Leute sich schieben. Es gibt Segler, die Masten aufragen lassen, an denen die Wimpel herunterhängen, Dampfer, aus deren Schornsteinen Rauch steigt, Lastkähne,…

ANTIQUITÄTEN

  MEDAILLON. An allem, was mit Grund schön genannt wird, wirkt paradox, daß es erscheint. GEBETMÜHLE. Lebendig nährt den Willen nur das vorgestellte Bild. Am bloßen Wort dagegen kann er sich zu höchst entzünden, um dann brandig fortzuschwelen. Kein heiler…

Übersetzungen

  Wer übersetzt, arbeitet in zwei Sprachen. Sein Material vielmehr: sein Organ – ist neben seiner Muttersprache nicht sowohl der fremde Text als vielmehr dessen Sprache. Aus beiden Sprachen baut er etwas auf und kann gemeinhin schon von Glück sagen,…

Ist die Photographie eine Kunst?

Peter Meilchen und Walter Benjamin sind sich nie begegnet. KUNO erinnert mit einer Denkfigur an den einen ohne den anderen nicht zu vergessen. Vor acht bis zehn Jahren (ca. 1926, die Redaktion) hat man begonnen, die Geschichte der Photo­graphie zu…

DIESE ANPFLANZUNGEN SIND DEM SCHUTZE DES PUBLIKUMS EMPFOHLEN

  Was wird „gelöst“? Bleiben nicht alle Fragen des gelebten Lebens zurück wie ein Baumschlag, der uns die Aussicht verwehrte? Daran, ihn auszuroden, ihn auch nur zu lichten, denken wir kaum. Wir schreiten weiter, lassen ihn hinter uns und aus…

BOGENLAMPE

  Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt.     *** Die Einbahnstraße ist eine entscheidende Gelenkstelle in Benjamins Gesamtwerk, in der Überlegungen des Frühwerks transformiert werden, um sie dann in späteren Arbeiten weiterzuführen. Dies veranschaulicht…

Ein Drama von Poe entdeckt

  Vor wenigen Monaten hat sich in der Bibliothek Pierpont Morgan ein unbekanntes Manuskript von Poe gefunden. Es ist das Jugenddrama Politian, das damit im Entwürfe, über den es nie hinausgedeihen sollte, vorliegt. Von zwölf ausgeführten Szenen ist nur die…

POLIKLINIK

  Der Autor legt den Gedanken auf den Marmortisch des Cafés. Lange Betrachtung: denn er benutzt die Zeit, da noch das Glas – die Linse, unter der er den Patienten vornimmt – nicht vor ihm steht. Dann packt er sein…

KURZWAREN

  Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen. Die Tötung des Verbrechers kann sittlich sein – niemals ihre Legitimierung. Der Ernährer aller Menschen ist Gott und der Staat ihr…

Portbou 1940

    Zum 70. Todestag von Walter Benjamin erinnert KUNO an diesen Denker und läßt die Originalität und Einzigartigkeit seiner Gedanken aufscheinen. Holger Benkel mit einer Einführung.

KRIEGERDENKMAL

  KARL KRAUS. Nichts trostloser als seine Adepten, nichts gottverlassener als seine Gegner. Kein Name, der geziemender durch Schweigen geehrt würde. In einer uralten Rüstung, ingrimmig grinsend, ein chinesisches Idol, in beiden Händen die gezückten Schwerter schwingend, tanzt er den…

„AUGIAS“ AUTOMATISCHES RESTAURANT

  Dies ist der stärkste Einwand gegen die Lebeweise des Hagestolz: er nimmt einsam sein Essen. Einsam zu speisen macht leicht hart und roh. Wer es gewohnt ist, muß spartanisch leben, um nicht zu verkommen. Einsiedler haben, sei’s nur darum,…

Rückblick auf Chaplin

  Der »Zirkus« ist das erste Alterswerk der Filmkunst. Charlie ist älter ge­worden seit seinem letzten Film. Aber er spielt sich auch so. Und das Ergrei­fendste an diesem neuen Film ist, zu fühlen, daß Chaplin den Kreis seiner Wirkungsmöglichkeiten nun…

Die Angestellten

  Die Zeiten, da es üblich gewesen ist, Untersuchungen »Zur Soziologie …« – der und der Gruppe, dieser und jener Erscheinung – zu überschreiben, werden noch in vieler Erinnerung sein. Damals hätte diese Schrift »Zur Soziologie des Angestellten« geheißen. Vielmehr,…

VERGRÖSSERUNGEN

  LESENDES KIND. Aus der Schülerbibliothek bekommt man ein Buch. In den unteren Klassen wird ausgeteilt. Nur hin und wieder wagt man einen Wunsch. Oft sieht man neidisch ersehnte Bücher in andere Hände gelangen. Endlich bekam man das seine. Für…

Nietzsche und das Archiv seiner Schwester

  Der Baron Friedrich von Schennis, den Else Lasker-Schüler in den »Gesichten« so unvergeßlich beschrieben hat, gab hin und wieder eine Geschichte zum besten, die gewiß nicht als verbürgt gelten darf, aber selbst wenn sie erfunden sein sollte, das Grauen…

REISEANDENKEN

  ATRANI. Die sacht ansteigende geschweifte Barocktreppe zur Kirche. Das Gitter hinter der Kirche. Die Litaneien der alten Frauen beim Ave Maria: Einschulung in die erste Sterbeklasse. Wenn man sich umwendet, grenzt dann die Kirche wie Gott selber ans Meer.…

NR. 13

Treize – j’eus un plaisir cruel de m’arrêter sur ce nombre. Marcel Proust   Le reploiement vierge du livre, encore, prête à un sacrifice dont saigna la tranche rouge des anciens tomes; l’introduction d’une arme, ou coupe-papier, pour établir la…

Hinterland

  »Natur ist, wo du ohne dich allein bist« – in dieser Definition steckt nicht nur Polgars ganze Sprachkunst; sie ist der archimedische Punkt, von wo aus er die Welt sieht. »Der archimedische Punkt, von wo aus er die Welt…

Krisis des Romans

  Das Dasein ist im Sinne der Epik ein Meer. Es gibt nichts Epischeres als das Meer. Man kann sich natürlich zum Meer sehr verschieden verhalten. Zum Beispiel an den Strand legen, der Brandung zuhören und die Muscheln, die sie…

HALTEPLATZ FÜR NICHT MEHR ALS 3 DROSCHKEN

  Ich stand an einer Stelle zehn Minuten und wartete auf einen Omnibus. „L’Intran … Paris-Soir … La Liberté“ rief hinter mir ununterbrochen mit unverändertem Tonfall eine Zeitungsfrau. „L’Intran … Paris-Soir … La Liberté“ –– eine Zuchthauszelle von dreieckigem Grundriß.…

Oskar Maria Graf als Erzähler

  Vor zwei Jahren hat Oskar Maria Graf seine schönen Kalenderge­schichten erscheinen lassen. »Geschichten vom Land« hieß der eine, »Geschichten aus der Stadt« der andere Band, und man hat zu dieser Einteilung richtig bemerkt, daß sie seinen eigenen Werdenszwiespalt dokumentiert, »den…

Ein Buch für die, die Romane satt haben

  Vor kurzem erschien ein Buch »Men without women«. Es ist eine Novellen­sammlung. Hier aber soll von einer Sammlung von Essays die Rede sein, die es sämtlich mit wirklichen Menschen zu tun haben: Mystikern, Ärzten, Seefahrern, Dichtern; Deutschen, Schweizern, Engländern,…

Schönes Entsetzen

  Der vierzehnte Juli. Von Sacré-Cœur aus übergießen bengalische Feuer Montmartre. Der Horizont hinter der Seine glüht. Feuergarben fahren auf und erlöschen über der Ebene. Zehntausende stehen am steilen Abhang gedrängt und folgen dem Schauspiel. Und diese Menge kräuselt unaufhörlich…

Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen

  Den Versuchen der Schriftsteller, über das Dasein und die Lebensbedingungen der Proletarier zu berichten, haben Vorurteile im Wege gestanden, die nicht an einem Tage zu überwinden gewesen sind. Eines der nachhaltigsten sah im Proletarier den »einfachen Mann aus dem…

HANDSCHUHE

  Beim Ekel vor Tieren ist die beherrschende Empfindung die Angst, in der Berührung von ihnen erkannt zu werden. Was sich tief im Menschen entsetzt, ist das dunkle Bewußtsein, in ihm sei etwas am Leben, was dem ekelerregenden Tiere so…

Max Brod, Franz Kafka. Eine Biographie

  Das Buch ist durch den fundamentalen Widerspruch gekennzeichnet, der zwischen der These des Verfassers einerseits, seiner Haltung andererseits obwaltet. Dabei ist die letztere danach angetan, die erstere einigermaßen zu diskreditieren, zu schweigen von den Bedenken, die sich gegen diese…

Aura

  Erstens erscheint die echte Aura an allen Dingen. Nicht nur an bestimmten, wie die Leute sich einbilden. Zweitens ändert sich die Aura durchaus und von Grund auf mit jeder Bewegung, die das Ding macht, dessen Aura sie ist. Drittens…

OPTIKER

  Im Sommer fallen die dicken Leute auf, im Winter die dünnen. Im Frühling gewahrt man bei hellem Sonnenwetter das junge Laub, im kalten Regen die noch unbelaubten Äste. Wie ein gastlicher Abend verlaufen ist, das sieht an der Stellung…

ERSTE HILFE

  Ein höchst verworrenes Quartier, ein Straßennetz, das jahrelang von mir gemieden wurde, ward mir mit einem Schlage übersichtlich, als eines Tages ein geliebter Mensch dort einzog. Es war, als sei in seinem Fenster ein Scheinwerfer aufgestellt und zerlege die…

HOCHHERRSCHAFTLICH MÖBLIERTE ZEHNZIMMERWOHNUNG

  Vom Möbelstil der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt die einzig zulängliche Darstellung und Analysis zugleich eine gewisse Art von Kriminalromanen, in deren dynamischem Zentrum der Schrecken der Wohnung steht. Die Anordnung der Möbel ist zugleich der Lageplan der…

DREIZEHN THESEN WIDER SNOBISTEN

Snob im Privatkontor der Kunstkritik. Links eine Kinderzeichnung, rechts ein Fetisch. Snob: „Da kann der ganze Picasso einpacken.“)   I. Der Künstler macht ein Werk. Der Primitive äußert sich in Dokumenten. II. Das Kunstwerk ist nur nebenbei ein Dokument. Kein…

CHINAWAREN

  In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er „kann“. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt werden. Ein Tor befindet sich am Anfang eines langen Weges, der bergab…

STÜCKGUT: SPEDITION UND VERPACKUNG

  Ich fuhr früh morgens mit dem Auto durch Marseille zur Bahn, und wie mir unterwegs bekannte Stellen, dann neue, unbekannte oder andere, die ich nur ungenau erinnern konnte, aufstießen, wurde die Stadt ein Buch in meinen Händen, in das…

Volkstümlichkeit als Problem

  Um wissenschaftlich »möglichst weiten Kreisen der Leser« nahezukom­men – wie Hermann Schneiders »Schiller« es beabsichtigt – braucht es mehr als Wissen. Am besten belehren uns darüber die großen Popularisatoren der modernen Physik. Sie mischen den Leser ins Spiel und…

Erfahrung und Armut

  In unseren Lesebüchern stand die Fabel vom alten Mann, der auf dem Sterbebette den Söhnen weismacht, in seinem Weinberg sei ein Schatz verborgen. Sie sollten nur nachgraben. Sie gruben, aber keine Spur von Schatz. Als jedoch der Herbst kommt,…

Die Macht des Charlatans

  Mit welchen Mitteln Personen oder Gruppen Einfluß auf Massen ausüben können, das ist ein verhältnismäßig neuer Gegenstand des Nachdenkens. Vom Altertum bis zum Beginn des vorigen Jahrhunderts war die Redekunst unter diesen Mitteln das einzige eines näheren Studiums gewürdigte.…

Theologisch-politisches Fragment

  Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist…

TIEFBAU-ARBEITEN

  Im Traum sah ich ein ödes Gelände. Das war der Marktplatz von Weimar. Dort wurden Ausgrabungen veranstaltet. Auch ich scharrte ein bißchen im Sande. Da kam die Spitze eines Kirchturms hervor. Hoch erfreut dachte ich mir: ein mexikanisches Heiligtum…

Baudelaire oder die Straßen von Paris

Tout pour moi devient Allegorie. Baudelaire: Le Cygne Baudelaires Ingenium, das sich aus der Melancholie nährt, ist ein allegorisches. Zum erstenmal wird bei Baudelaire Paris zum Gegenstand der lyrischen Dichtung. Diese Dichtung ist keine Heimatkunst, vielmehr ist der Blick des…

Kunstform Schauerroman

Nach Adornos Urteil bestand zwischen Walter Benjamin und Karl Kraus eine Wahlverwandtschaft, nämlich die, „profane Texte so zu betrachten, als wären es heilige“. War Benjamin ein Vordenker des Trash? Mit der Schrift Gartes hat eine Gattung, die nach der positivistischen…

Der eingetunkte Zauberstab

  Als Stefan George für seinen Kreis die maßgebliche Auslese aus der Über­lieferung deutscher Dichtung in drei Bänden zusammenstellte, bestimmte er einen von diesen Bänden Jean Paul. Die Anwartschaft der deutschen Leser auf das Bild Jean Pauls, das diese Wahl…

DIESE FLÄCHEN SIND ZU VERMIETEN

  Narren, die den Verfall der Kritik beklagen. Denn deren Stunde ist längst abgelaufen. Kritik ist eine Sache des rechten Abstands. Sie ist in einer Welt zu Hause, wo es auf Perspektiven und Prospekte ankommt und einen Standpunkt einzunehmen noch…

BÜROBEDARF

  Das Chefzimmer starrt von Waffen. Was als Komfort den Eintretenden besticht, das ist in Wahrheit ein cachiertes Arsenal. Ein Telephon auf dem Schreibtisch schlägt alle Augenblicke an. Es fällt einem an der wichtigsten Stelle ins Wort und gibt dem…

FRÜHSTÜCKSSTUBE

  Eine Volksüberlieferung warnt, Träume am Morgen nüchtern zu erzählen. Der Erwachte verbleibt in diesem Zustand in der Tat noch im Bannkreis des Traumes. Die Waschung nämlich ruft nur die Oberfläche des Leibes und seine sichtbaren motorischen Funktionen ins Licht…

KEHRE ZURÜCK! ALLES VERGEBEN!

  Wie einer, der am Reck die Riesenwelle schlägt, so schlägt man selber als Junge das Glücksrad, aus dem dann früher oder später das große Los fällt. Denn einzig, was wir schon mit fünfzehn wußten oder übten, macht eines Tages…

TANKSTELLE

  Die Konstruktion des Lebens liegt im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen. Und zwar von solchen Fakten, wie sie zur Grundlage von Überzeugungen fast nie noch und nirgend geworden sind. Unter diesen Umständen kann…

Über das Schreiben

  Eine Periode, die, metrisch konzipiert, nachträglich an einer einzigen Stelle im Rhythmus gestört wird, macht den schönsten Prosasatz, der sich denken läßt. So fällt durch eine kleine Bresche in der Mauer ein Lichtstrahl in die Stube des Alchimisten und…