DREIZEHN THESEN WIDER SNOBISTEN

Snob im Privatkontor der Kunstkritik. Links eine Kinderzeichnung, rechts ein Fetisch. Snob: „Da kann der ganze Picasso einpacken.“)

 

I. Der Künstler macht ein Werk. Der Primitive äußert sich in Dokumenten.
II. Das Kunstwerk ist nur nebenbei ein Dokument. Kein Dokument ist als ein solches Kunstwerk.
III. Das Kunstwerk ist ein Meisterstück. Das Dokument dient als Lehrstück.
IV. Am Kunstwerk lernen Künstler das Metier. Vor Dokumenten wird ein Publikum erzogen.
V. Kunstwerke stehen eins dem andern fern durch Vollendung. Im Stofflichen kommunizieren alle Dokumente.
VI. Inhalt und Form sind im Kunstwerk eins: Gehalt. In Dokumenten herrscht durchaus der Stoff.
VII. Gehalt ist das Erprobte. Stoff ist das Geträumte.
VIII. Im Kunstwerk ist der Stoff ein Ballast, den die Betrachtung abwirft. Je tiefer man sich in ein Dokument verliert, desto dichter: Stoff.
IX. Im Kunstwerk ist das Formgesetz zentral. Ins Dokument sind Formen nur versprengt.
X. Das Kunstwerk ist synthetisch: Kraftzentrale. Die Fruchtbarkeit des Dokuments will: Analyse.
XI. Im wiederholten Anblick steigert sich ein Kunstwerk. Ein Dokument bewältigt nur durch Überraschung.
XII. Die Männlichkeit der Werke ist im Angriff. Dem Dokument ist seine Unschuld eine Deckung.
XIII. Der Künstler geht auf die Eroberung von Gehalten. Der primitive Mensch verschanzt sich hinter Stoffen.

 

 

 

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Die Einbahnstraße ist eine entscheidende Gelenkstelle in Benjamins Gesamtwerk, in der Überlegungen des Frühwerks transformiert werden, um sie dann in späteren Arbeiten weiterzuführen. Dies veranschaulicht insbesondere die 43 Texte umfassende »Nachtragsliste zur Einbahnstraße«, die Benjamin Anfang bis Mitte der dreißiger Jahre zusammenstellte. Sie wird, neben dem Erstdruck und allen handschriftlichen Vorstufen sowie zeitgenössischen Rezensionen, in der neuen Edition erstmals als Einheit zu lesen sein. Der Kommentar und das Nachwort des Herausgebers machen zudem die Verbindung der einzelnen Texte mit dem Gesamtwerk Benjamins sichtbar und zeigen, inwiefern die Einbahnstraße die Tradition der europäischen Aphoristik aufgenommen und zugleich erneuert hat.

Zum 70. Todestag von Walter Benjamin erinnert KUNO an diesen undogmatischen Denker und läßt die Originalität und Einzigartigkeit seiner Gedanken aufscheinen. Bei KUNO präsentieren wir Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten, wobei das Denken von der Sprache kaum zu lösen ist. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.