Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen

 

Den Versuchen der Schriftsteller, über das Dasein und die Lebensbedingungen der Proletarier zu berichten, haben Vorurteile im Wege gestanden, die nicht an einem Tage zu überwinden gewesen sind. Eines der nachhaltigsten sah im Proletarier den »einfachen Mann aus dem Volke«, der im Gegensatz nicht sowohl zum gebildeten als zum differenzierten Angehörigen einer höheren Schicht steht. Im Unterdrückten ein Kind der Natur zu sehen, war im achtzehnten Jahrhundert der aufsteigenden Bürgerklasse das Naheliegende gewesen. Nach dem Sieg dieser Klasse konfrontierte sie dem Unterdrückten, dessen Platz sie selbst inzwischen an das Proletariat abgetreten hatte, nicht mehr die feudale Entartung, sondern die eigene Gestuftheit, die nuancierte bürgerliche Individualität. Die Form, in der sie ausgestellt wurde, war der bürgerliche Roman; sein Gegenstand das inkalkulable »Schicksal« des Einzelnen, dem gegenüber jede Aufklärung sich als unzulänglich erweisen sollte.

Um die letzte Jahrhundertwende haben einige Romanciers dieses bürgerliche Privileg angetastet. Es ist nicht zu leugnen, daß unter anderen Hamsun mit dem »einfachen Menschen« in seinen Büchern aufgeräumt hat und daß seine Erfolge zum Teil auf der sehr komplexen Natur seiner kleinen Leute vom Lande beruhen. Danach erschütterten gesellschaftliche Vorgänge das in Rede stehende Vorurteil. Der Krieg brach aus, und in den Nachkriegsjahren wuchs der Psychiatrie in der Rentenneurose eine Disziplin zu, in der der »Mann aus dem Volke« mehr als ihm lieb sein konnte zu seinem Rechte kam. Einige Jahre später und die Massenarbeitslosigkeit kam ins Land. Mit dem neuen Elend zeichneten sich neue Gleichgewichtsstörungen, neue Wahnvorstellungen und neue Abnormitäten im Verhalten der von ihm Betroffenen ab. Aus Subjekten der Politik wurden sie zu oft pathologischen Objekten der Demagogen. Mit dem »Volksgenossen« erlebte der »einfache Mann aus dem Volk« seine Auferstehung – geknetet aus dem Stoff der Neurotischen, der Unterernährten und Mißgeschickten.

In der Tat fand der Nationalsozialismus eine Bedingung seines Wachstums in der Erschütterung des Klassenbewußtseins, der das Proletariat mit der Arbeitslosigkeit ausgesetzt wurde. Das neue Buch von Anna Seghers hat es mit diesem Vorgang zu tun. Es spielt in einem Montandorf in Oberschlesien und erzählt von dem, was sich dort nach der Stillegung seiner Grube abspielt. Obenhin gesehen ist es wenig genug. Denn auch hier herrscht das Unrecht, und die Empörung ist selten. »Selbst die allerrotesten, allerwildesten, welche diese ganze unerträgliche Welt zerschlagen wollten, sagten offen: ›Jetzt kommen die Kohlrüben wieder dran‹ oder ›Mit dem Radio ist es Essig‹. Ihnen aber standen solche Worte garnicht zu, dachte Bentsch, in ihrem Munde waren sie sinnlos.« (S. 97) Bentsch hat die Stimme von Anna Seghers. Er ist in ihrer Erzählung die Hauptperson. Man lernt ihn als einen älteren gesetzten Grubenarbeiter kennen, der nichts auf seinen Herrgott und seinen Pfarrer kommen läßt. Er ist von Hause aus kein politischer Kopf, und ein radikaler am allerwenigsten. Man muß ihm zugeben: er geht seinen Weg allein. Viele müssen ihn heute allein gehen. Auch Proletarier, die gleich wenig von der tauben Subtilität des Bürgers haben wie von der verlogenen Simplizität des »Volksgenossen«. Es ist übrigens ein langer Weg. Er führt Bentsch in das Lager der Klassenkämpfer.

Sehr behutsam berührt das Buch den politischen Sachverhalt. Er ist dem Wurzelwerk zu vergleichen. Wo die Verfasserin es mit zarter Hand aushebt, haftet an ihm der Humus der privaten Verhältnisse – nachbarschaftlicher, erotischer, familiärer.

Diese Proletarier müssen bei ihrem immer geringeren Einkommen zugleich ein immer geringeres Erleben strecken. Sie verfangen sich in nichtssagende Gepflogenheiten; sie werden umständlich; sie führen über jeden Pfennig ihres eingeschränkten psychischen Haushalts Buch. Danach halten sie sich an Exaltationen schadlos, zu denen fragwürdige Raisonnements oder fadenscheinige Genüsse sie schnell bereitfinden. Sie werden labil, sprunghaft und unberechenbar. Ihr Versuch, so zu leben wie andere Leute, entfernt sie nur immer mehr von denen, und es geht ihnen wie ihrem Findlingen, dem Bergarbeiterdorf, wo sie zu Hause sind. »Die Menschen hatten auch an sonderbaren Stellen begonnen, die Erde umzugraben, um ein paar Bohnen zu ziehen oder Rhabarber, aber gerade dadurch wurde Findlingen einem richtigen Dorf immer unähnlicher.« (S. 100)

Zu jedem Segen der Arbeit kommt der, daß sie die Wonne des Nichtstuns erst spürbar macht. Die Müdigkeit des Feierabends nennt Kant einen höchsten Genuß der Sinne. Müßiggang ohne Arbeit ist eine Qual. Zu jeder Entbehrung der Arbeitslosen tritt sie hinzu. Sie unterliegen dem Zeitlauf als einem Inkubus, von dem sie wider ihren Willen geschwängert werden. Sie gebären nicht, haben aber exzentrische Gelüste wie Schwangere. Jedes einzelne von ihnen ist aufschlußreicher als ganze Enqueten über die Arbeitslosen. »Wenn seine letzten Gäste weg waren, hatte Bentsch immer den Wunsch, selbst auf die Straße zu laufen und seine Küchentür nicht von innen, sondern von außen zuzuschließen. Dieser Wunsch kam ihm aber selbst so sonderbar und sinnlos vor, daß er immer rasch gähnte oder sagte: ›Na, endlich‹«. (S. 115) Wievieler Heimatlosigkeit die Erzählerin in dieser Küche Quartier gemacht hat, ist zum Erstaunen. Sie ist das Gegenstück zu der ›großen, wenig benutzten Fläche des Bismarckplatzes‹ (S. 320), über der der ›steife und gelbliche‹ Himmel (S. 44) steht. Dort hat einer so wenig ein Dach über dem Kopf wie hier. Darum kann Bentsch sich nicht entschließen, zu Bett zu gehen, und er sitzt oft in der dunklen Küche als säße er auf einer Bank auf dem Bismarckplatz. Dann geht es ihm durch den Kopf, daß es seit Kriegsausbruch fünfzehn Jahre sind. »Die waren schnell vergangen. Er erschrak nicht; er war nur immer erstaunt, daß das alles gewesen war. Er wunderte sich. Einer mußte doch wissen, wer er war. Wieso hatte Er nichts anderes mit ihm vorgehabt?« (S. 115)

Während der Gedanke der Ausgesteuerten hoch immer um ihre Grube kreist, hat, ohne daß sie viel darum wüßten, ein entscheidender Vorgang eingesetzt. Draußen in der Welt geht es nicht mehr um einen Montanbetrieb mehr oder weniger. Es geht um das Bestehen des Kapitalismus selbst. Die Nationalökonomen beginnen, der Lehre von der strukturellen Arbeitslosigkeit nachzugehen. Die Lehre aber, die die Leute aus Findlingen sich anzueignen haben, lautet: um wieder in die Grube fahren zu dürfen, müßt ihr den Staat erobern. Unendliche Schwierigkeiten hat diese Wahrheit auf dem Wege in die Köpfe zu überwinden. Sie ist erst bis zu wenigen vorgedrungen. Für die steht Lorenz, ein junger Arbeitsloser, der vor seiner Ermordung die leuchtende Spur in dem grauen Dorf hinterläßt, die Bentsch niemals vergessen wird.

Diese wenigen sind die Hoffnung des Volkes. Anna Seghers berichtet von ihm. Es bildet aber nicht ihre Leserschaft. Noch weniger kann es heute zu ihr sprechen. Nur sein Flüstern kann zu ihr dringen. Das Bewußtsein davon verläßt die Erzählerin nicht einen Augenblick. Sie erzählt mit Pausen wie einer, der auf die berufenen Hörer im Stillen wartet und, um Zeit zu gewinnen, manchmal innehält. »Je später auf den Abend, desto schöner die Gäste.« Diese Spannung durchzieht das Buch. Es ist weit entfernt von der Promptheit der Reportage, die nicht viel nachfragt, an wen sie sich eigentlich wendet. Es ist ebenso weit entfernt vom Roman, der im Grunde nur an den Leser denkt. Die Stimme der Erzählerin hat nicht abgedankt. Viele Geschichten sind in das Buch eingesprengt, welche darin auf den Hörer warten.

Nicht die Gesetzlichkeit des Romans, in dem die episodischen Figuren im Medium einer Hauptfigur vorkommen, wirkt sich in der Gestaltenfülle des Buches aus. Dieses Medium – das »Schicksal« – fehlt. Bentsch hat kein Schicksal: hätte er eines, so wäre es in dem Augenblick abgeschafft, wo er, am Schluß der Geschichte, unter den künftigen Illegalen als ein namenloser verschwunden ist. Der Bekanntschaften, die der Leser macht, wird er zuvörderst als Zeugen eingedenk sein. Es sind Märtyrer im genauen Wortsinn (martyr, griechisch: der Zeuge). Der Bericht von ihnen ist eine Chronik. Anna Seghers ist die Chronistin der deutschen Arbeitslosen. Die Grundlage ihrer Chronik ist eine Fabel, die, wenn man so will, den romanhaften Einschlag des Buches bildet. Am neunzehnten November 1929 werden unter 53 Verschütteten sieben, die noch am Leben sind, aus einem Stollen geborgen. Das ist »die Rettung«. Sie stiftet den Verband, den diese sieben bilden. Die Erzählerin folgt ihnen mit einer stummen Frage: welche Erfahrung wird neben der bestehen, die die Verlorenen im Schacht gemacht haben, als sie drunten das letzte Wasser und das letzte Brot mit einander teilten? Werden sie die Solidarität, die sie in der Naturkatastrophe bewährt haben, in der Katastrophe der Gesellschaft bewähren können? – Sie sind noch nicht aus dem Hospital entlassen, als die dumpfen Anzeichen dieser Katastrophe zu ihnen dringen. »Sie machen’s vielleicht wie drüben in L. Lohnt sich nicht mehr. Stillegungsantrag.« (S. 31)

Der Antrag wird gestellt und nach ihm verfahren. »Sechsundzwanzig Wochen lang kriegt man elf Mark fünfunddreißig Erwerbslosenunterstützung, dann kriegt man acht Mark achtzig. Sechsundzwanzig Wochen mindestens, kommt auf die Stadt an, das war die Krise, dann kommt die Wohlfahrt, macht sechs Mark fünfzig, pro Kind zwei Mark im Monat Zuschlag. Nachher kommt nichts anderes mehr.« (S. 94) Das erfahren die Leser aus dem Buche, die Betroffenen aus dem Mund einer Katharina, die als das Mädchen aus der Fremde durch die Erzählung geht. Sie ist von auswärts in mehr als einem Sinn. Und so gleicht diese vom »ungewohnten Klang« einer ruhigen Stimme getragene Auskunft einem. Urteile, das aus weiter Ferne über die Arbeitslosen gesprochen wird. Es bestimmt weiterhin das Leben, das sie aus der Grube gerettet haben.

In seinen trüben Verlauf fällt der erste Jahrestag der Begebenheit, die »die Rettung« heißt und den Untergang eben der Geretteten mit sich führt. »Ist es erst ein Jahr her?« heißt es. Den Arbeitslosen scheint dieses Jahr länger als die, da sie ihre Schicht machten. Sie sitzen in der Kneipe bei Aldinger. »›Bentsch, Du hast Dir die Zunge an uns fusselig geredet. Daß wir ja aus diesem Rattenloch herauskommen. Wenn Du gewußt hättest, daß es hier draußen wird, wie es geworden ist, hättest Du Dich dann auch angestrengt?‹ ›Ja.‹ Er hatte sich das noch nie überlegt, aber er wußte das doch. ›Ja?‹ sagte Sadovski erstaunt. Nebenan an den Tischen horchten sie auch scharf hin. ›Ganz gewiß will man immer wieder raus. Mit allen andern zusammen sein.‹ Bentsch machte eine Bewegung mit dem Arm über die, die herum saßen.« (S. 219/20) Kaum weniger stumm als die stumme Frage, von der die Rede war, ist die Antwort, welche ihr so zuteil wird.

Es unterscheidet die Chronik von der Geschichtsdarstellung im neueren Sinne, daß ihr die zeitliche Perspektive fehlt. Ihre Schilderungen rücken in nächste Nähe derjenigen Formen der Malerei, die vor der Entdeckung der Perspektive liegen. Wenn die Gestalten der Miniaturen oder der frühen Tafelbilder dem Betrachter auf Goldgrund entgegentreten, so prägen sich ihm ihre Züge nicht weniger ein als hätte der Maler sie in die Natur oder in ein Gehäuse hineingestellt. Sie grenzen an einen verklärten Raum, ohne an Genauigkeit einzubüßen. So grenzen dem Chronisten des Mittelalters seine Charaktere an eine verklärte Zeit, die ihr Wirken jäh unterbrechen kann. Das Reich Gottes ereilt sie als Katastrophe. Es ist gewiß diese Katastrophe nicht, die die Arbeitslosen erwartet, deren Chronik »die Rettung« ist. Aber sie ist etwas wie deren Gegenbild, das Heraufkommen des Antichrist. Dieser äfft bekanntlich den Segen nach, der als messianischer verheißen wurde. So äfft das dritte Reich den Sozialismus nach. Die Arbeitslosigkeit hat ein Ende, weil die Zwangsarbeit rechtens geworden ist. Nur wenige Seiten im Buch der Seghers haben es mit dem »Aufbruch der Nation« zu tun. Aber das Grauen der Nazikeller ist schwerlich jemals so wie auf ihnen beschworen worden, die von deren Praktiken nicht mehr verraten als ein Mädchen erfahren kann, das in einer S. A.-Kaserne nach ihrem Freunde, der Kommunist war, fragt.

Die Erzählerin hat der Niederlage, die die Revolution in Deutschland erlitten hat, in die Augen zu sehen gewagt – eine männliche Fähigkeit, notwendiger als sie verbreitet ist. Diese Haltung kennzeichnet ihr Werk auch sonst. Sie ist weit entfernt von der Absicht, sich in Elendsschilderungen hervorzutun. Die Achtung vor dem Leser, die ihr den billigen Appell an sein Mitgefühl untersagt, verbindet sie mit der Achtung vor den Erniedrigten, die ihr Modell waren. Dieser Reserve hat sie es zu verdanken, daß ihr, wo sie einmal die Dinge beim Namen nennt, der Sprachgeist des Volkes selber zur Seite tritt. Und wenn ein Arbeitsloser von auswärts, auf die Findlinger Stempelstelle verschlagen, sich an der Feststellung orientiert: »Hier stank es genau so wie in Kaiingen« – so macht sie mit einem einzigen Griff die Klassengesellschaft selber dingfest. Sie besitzt vor allem einmal die Mittel, mit der Sprache auf eine Weise hauszuhalten, die nichts mit der verlogenen Schlichtheit zu schaffen hat, die in der modernen Heimatkunst üblich ist. Eher erinnert es an die echte Volkskunst – auf die sich einst der »Blaue Reiter« berufen hat – wie sie mit geringfügigen Verrückungen des Geläufigen abgelegene Kammern im Alltag freigibt. Als die Polizei die Stube bei Bentsch durchsucht, tauscht seine Frau einen Blick mit ihm. »Er lächelte ein wenig. Es war, als seien sie all die Jahre nur zusammengewesen, um für diesen Augenblick etwas einzuüben.« (S. 498/99) Oder: »Katharina machte aus zwei nicht drei, so wenig wie die Katze«. (S. 118)

Die Rede ist von der befremdlichen Kreatur, Bentsch’s Stieftochter, die in seiner Familie zu Gaste ist. Aber nicht behauster als Melusine, wenn sie auf eine Weile bei einem Manne wohnt. Es zieht sie in den Palast zurück, der auf dem Grunde der Quelle errichtet ist. So zieht es Katharina nach Haus. Doch das Menschenkind hat noch kein Zuhause. Es steht und putzt die Fenster: »Wo waren denn die Scheiben, die man nicht blank genug haben konnte, damit ein klares, aber nicht grelles Licht in alle Winkel der Stube schien, in der der Tisch gedeckt, das Bett bereit steht, nicht hastig und zum Notbehelf sondern von jeher und für immer – endlich Katharina!« (S. 118) Sie geht an einem Abortus ein, den man mit ihr vorhat. Ihren schmalen Weg hat sie stumm und ehe man es dachte zurückgelegt. Sie kam, sie wußte sich nicht zu helfen und sie verschwand. Doch wäre diese Katharina nicht was sie ist und um ihr Bestes ärmer, stünde sie nicht um soviel wie diesseits der Lebensklugheit auch jenseits ihrer. Darin ist sie die Schwester des Katherlieschen, mit der das Märchen so schön zu verstehen gibt, welche Verheißung die klugen Leute an den törichten Jungfrauen haben. Ihr Lächeln ist mit der Welt nicht stimmig, und sie sind es auch nicht mit sich. Ihnen eilt nicht, bei sich zu Haus zu sein, solange das Herz in der Welt nur eine Zuflucht ist, nicht die Mitte.

»Ich muß was erfinden«, denkt Katharina, die gerade eine kluge Auskunft von Bentsch mitanhört, die an einen Dritten gerichtet ist, »was ich ihn um Rat fragen könnte. Sie dachte nach. Es fiel ihr aber nichts ein. Sie hatte keine Hoffnung, die zu scheitern drohte. Ihr fehlte nichts und sie hatte nichts. Sie hatte nicht das Geringste vor, wozu sie Rat gebraucht hätte. Sie war völlig ratlos.« (S. 120) Diese Worte geben den Blick auf die epische Form des Buches frei. Ratlosigkeit ist das Siegel der inkommensurablen Persönlichkeit, an der der bürgerliche Roman seinen Helden hat. Ihm geht es, wie man gesagt hat, um das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Wenn das Buch, sei es auch unbewußt, dieses Geheimnis streift, so verrät es, wie fast alle bedeutenden Romanwerke aus den letzten Jahren, daß die Romanform selber im Umbau begriffen ist.

Die Struktur des Werkes gibt dies vielfältig zu erkennen. Ihm fehlt die Gliederung in Episode und Hauptverlauf. Es drängt zu älteren epischen Formen, zu der Chronik, zum Lesebuch. Kurze Geschichten stecken in Fülle darin, bilden oft seinen Höhepunkt. So die vom 19. November 1932, an dem der Jahrestag der Rettung zum letztenmal im Verlauf der Erzählung wiederkehrt. Niemand feiert ihn mehr: Daran wird fühlbar, was er bedeutet hatte. Diesen Arbeitslosen steht er für alles ein, was jemals Licht in ihr Leben getragen hatte. Sie könnten zu diesem Tage sagen, er sei ihr Ostern, ihr Pfingstfest und ihr Weihnachten. Nun ist er in Vergessenheit geraten, und die Verfinsterung ist vollends hereingebrochen. »Die Stunde war längst überschritten, die man gewöhnlich einhielt um den Tag zu feiern. Wirklich, man hat mich vergessen, dachte Zabusch. Oder die wollen unter sich sein. Mit mir ist kein Staat zu machen. ›Knips das Licht an‹, sagte seine Frau. ›Knips selbst an‹, sagte Zabusch. So blieb es unangeknipst.« Schließlich hält er es nicht mehr im Dunkeln aus. Er geht die Findlinger Straße hinunter, öffnet die Tür zur Wirtschaft mit einem Ruck. »›Ein Helles, ein Dunkles?‹ Zabusch gab dem Wirt keine Antwort, er sah sich verstört um. Er glaubte zuerst, er hätte eine falsche Tür gegriffen. Doch in der Findlinger Straße gab es nur den Aldinger. Und Aldinger war es auch selbst, er erkannte ihn wieder. Nur seine Stube war ausgetauscht, kein bekanntes Gesicht. Man fing jetzt zu lachen an… Nur voran. Ist noch Platz. Setz dich, Kamerad.‹ All diese Naziburschen füllten Stühle und Bänke – diese Eckbank war voriges Jahr nicht gewesen, – mit den breiten Knieen und Ellenbogen von Einheimischen.« (S. 450/ 51) Dieser Sturz, der dem Menschen, den keiner braucht, dessen Tage selbst der Kalender zu zählen aufgibt, dem Verlassenen, der sich im Abgrund aufhält, einen tieferen Abgrund eröffnet: nämlich die strahlende Nazihölle, wo sich die Verlassenheit selbst ein Fest gibt – dieser Sturz konzentriert die Jahre, von denen das Buch erzählt, im Entsetzen eines einzigen Augenblicks.

Werden sich diese Menschen befreien? Man ertappt sich auf dem Gefühl, daß es für sie, wie für arme Seelen, nur noch eine Erlösung gibt. Von welcher Seite sie kommen muß, hat die Verfasserin angedeutet, wo sie in ihrem Bericht auf die Kinder stößt. Die Proletarierkinder, von denen sie spricht, wird kein Leser sobald vergessen. »Damals gab es dort oft solche Art Kinder wie Franz. Irgend jemand brachte sein eigenes mit oder sie kamen von selbst aus der Nachbarschaft oder auch ganz wo anders her, ragten ein wenig über den Tischrand hinaus, auf dem man die Flugblätter faltete, liefen einem zwischen den Beinen herum oder rannten und schnauften, um einen Brief wegzutragen oder einen Stoß Zeitungen, oder jemand, den man gerade brauchte, heranzuholen. Von einem Vater mitgeschleift, … oder durch Neugierde, oder auch angelockt durch das, was die Menschen anlockt, und vielleicht schon bis zum Tode verbunden.« (S. 440/41) Auf diese Kinder hat Anna Seghers gebaut. Vielleicht wird die Erinnerung an die Arbeitslosen, von denen sie stammen, einmal die an deren Chronistin einschließen. Bestimmt wird in ihren Augen der Abglanz der Scheiben sein, von denen die fensterputzende Katharina träumt – der Scheiben, »die man nicht blank genug haben konnte, damit ein klares, aber nicht grelles Licht in alle Winkel der Stube schien, in der der Tisch gedeckt, das Bett bereit steht, nicht hastig und zum Notbehelf sondern von jeher und für immer«.

 

 

 

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Die Rettung. Roman von Anna Seghers. Amsterdam: Querido Verlag 1937.

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