Schlagwort: Holger Benkel

überwältigtes

  jede sublimierung läßt etwas überwältigtes zurück.     *** Eine Vorschau auf: Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität – was für Roland Barthes Brecht im Theater…

Twitteratur, die Denkgenauigkeit der Spätmoderne

Mit der Schneckenpost setzte sich der Briefroman durch. Mit dem Photokopierer konnte jeder Nonkonformist zum Verleger werden. Mit dem Microbloggingdienst kam die 140-Zeichen-Twitteratur. Literarisch befasst sich KUNO seit 1989 mit der Unerforschlichkeit des Subjekts, mit der Abgründigkeit des Ichs, mit…

KNOCHEN

wo ich fraß und fäule übersteh leb ich erlöst vom körper lieg ich zerlegt im abgrund unter der landschaft versteinern meine knochen werd ich zeichen nutzen mir die besten prothesen nichts selbst wenn sie häuserwände erklimmen in mauerspalten ragen leibabrisse…

Gedanken, die um Ecken biegen

  weshalb finden wir landschaften mit gräbern schön? * allein der tod heilt alle wunden. * einzig die ewig gealterten haben ewige jugend.       *** Holger Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text;…

Nachrichten aus der Wolfs- und Knochenzeit

  Zuweilen erzeugt das Gerücht des Nichtvorhandenseins womöglich den eigentümlichen Ruch der Präsenz. Über einen Autor gilt es zu sprechen, der laut Ulrich Bergmann, der in einer Laudatio einen eingehenden Blick auf die Arbeit eines solchen Einzelgängers wirft, gar nicht…

SCHALEN

   zerteilt die wunde die kuppel der brust birgt das knochendach den kopf fliegt ein schwarm stümpfe  der klippe der schulter entgegen hängt der mantel der erschöpften haut überm schacht des leibes  streckt sich der fuß im gliederschoß  in der…

FEUER

die fackel gesenkt der salamander gehäutet die gewürznelke zerbrochen das farnkraut vertrocknet das blatt organ einst zu papier verflacht steh ich  scherben auf den augen efeu im mund gescheitert  über der glut zersplittert mir die glashaut  lodern die haare weiter…

KRATER

fließt flammenlos das feuer eines traumas impression sprühen die funken in der furche aus dem körper stein überm mutterleib der energie erkaltet der ofenmund führt mich letzter widerschein der feuerstätte in spiralen hinauf am schorfgeröll der haut der lebenslangen inschrift…

SCHALEN

 zerteilt die wunde die kuppel der brust birgt das knochendach den kopf fliegt ein schwarm stümpfe  der klippe der schulter entgegen hängt der mantel der erschöpften haut überm schacht des leibes  streckt sich der fuß im gliederschoß  in der bremsspur…

VERWANDLUNG

führt der hund die toten über die grenze indem er sie frißt kann er sie begreifen und besitzen  glaubt der mensch in seinem geist der andern kreatur  steh ich auf der schwelle im zwielicht der sinne  leg ich mich nieder…

FEUERPROBE

vergräbt die brust den brennpunkt die seele  sitz ich gesalbt mit blut milch honig öl  im rauchfang des körpers rotieren die organe lecken glutzungen den eiter trocknet die wunde  unter der asche hör ich über mir ein schaben aus dem…

Ecken biegen

  Skurrilität schafft ein Gespür fürs Überwirkliche.         *** In Vorbereitung ist der Band: Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel. Weiterführend → Ein Porträt von Holger Benkel lesen Sie hier. Über die Literaturgattung Twitteratur…

Leben, ein Rohstoff

Holger Benkel denkt in jahrtausenden und quantensekunden. Er überschaut kontinente und hört das knacken im tausendfüßlerbein. Und er lebt richtig: ohne mäusekino und tief unter der erde. er sagt einen satz, aus dem hätten andere einen wälzer extrahiert, hätten sie…

Twitteratur

Zum Welttag der Poesie präsentiert KUNO eine neue Form für ein Erzählen in Zeiten flüchtiger Kommunikation. Am 21. März 2006 verschickte Jack Dorsey den erste „Tweet“ mit dem Inhalt „just setting up my twttr.“. Drei Jahre später erscheint die Textsammlung:…

Gedanken, die um Ecken biegen

  der imagination, die im toten das ahnbare wittern läßt, wird das grab zur passage in den innenraum. aufblühen und verwelken, lieben und sterben, ekstase und askese, glut und frost sind ihr jeweils verwandte kräfte, ereignisse, zustände und prozesse, ausprägungen…

EINE WANDERUNG

  der boden des waldes schimmert golden. ich wandere durchs gebirge. am wegrand abgelagertes geröll, zerschrammt, verkrüppelt, schroff. darüber hagebuttensträucher. die augen entlang das rote leuchten. vom holunder fliegen meisen auf. die gelbbraunen blätter der bäume taumeln dem rachen der…

BLAU

zieht der tag seine waffe die sonne aus der scheide liegt das licht auf der haut schimmern die adern mir im taumel tanzt der leib befleckt sein glanz das fleisch verzerrt ein lachen das gesicht steig ich dem raum entgegen…

Publizieren ist eine Form des Denkens

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beissen und stechen. Franz Kafka Es kann von Vorteil sein, sich unbequemen Dingen aus der Distanz zu nähern. Wie Walter Benjamin bereits 1935 in seinem Essay Das Kunstwerk im…

Laudatio für Holger Benkel

  Der Dichter Holger Benkel, der 1959 in Schönebeck an der Elbe geboren wurde, dort in der Lessingstraße wohnt und ganz von seiner Arbeit als Schriftsteller und Lesender lebt, ist ein Gewächs auf dem Seelenboden der Magdeburger Börde. Das führt…

STÖßE

    lautlos mit dem druck der hand in den schädel eingraviert verwurzelt der dorn das distelmuster trennen stromausfall und gnadenstoß ohne fallbeil oder grünspan auf der haut das fleisch vom walten der organe  schon stößt fäulnis das wachstum wieder…

NADELNETZ

drehen flammen fäden in der haut trifft feuer die wunden von innen verschorft das gewebe unterm fell nadelt das netzwerk aus adern  im reservat des wildparks der organe  dem schlachtfeld der chirurgen zerschneide ich mich selber längst  vereine ich brennessel…

MÖRSER

zerfall bleibt mein ferment gärung mein trieb bin ich aufs rad der zeit geflochten  zerstoß ich die haut mir schütte ich schorfe schuppen schutt über mich rinnt weiter das blut  im paternoster des körpers zu den organen  durch die etagen…

märchen und sagen

… je weiter ich in diesem Studium fortgehe, desto klärer wird mir der Grundsatz: daß kein einziges Wort oder Wörtchen bloß eine Ableitung haben, im Gegenteil jedes hat eine unendliche und unerschöpfliche. Alle Wörter scheinen mir gespaltene und sich spaltende…

SPLITTER

jeder durchbruch ist ein tod im spalt des augenblicks lauert geflügelt die lichtechse unterm geröll der haut halten fasern die nerven zusammen wird verwestes nur zum wesen durchgelassen was von der mahlzeit übrigbleibt schädel und knochen abgeschabt und abgefallen schuppen…

Zweikörpertheorie

  Der Lyriker Holger Benkel lebt in Schönebeck bei Magdeburg, studierte 1987-1991 am Literaturinstitut Leipzig und veröffentlichte im Magdeburger Verlag „Blaue Äpfel“ 1995 Gedichte („Kindheit und Kadaver“) und Prosa („Reise im Flug“, Traumnotate). 1996 erhielt er den Georg-Kaiser-Preis des Landes…

AM FADENSCHEIN

webt die spindel der frau das fangnetz der arme kreuzen sich fäden licht in lust entrollen knäuel knoten aus draht fallen körper automaten übereinander umschlingt das holz den rumpf rotieren die gelenke blankgeschabt wie messer hält sie der lanzensplitter sonnenstrahl…

KRATER

fließt flammenlos das feuer eines traumas impression sprühen die funken in der furche aus dem körper stein überm mutterleib der energie erkaltet der ofenmund führt mich letzter widerschein der feuerstätte in spiralen hinauf am schorfgeröll der haut der lebenslangen inschrift…

FLUGSCHRIFT

bin ich im aas geboren wachs ich  in gerüchen schwillt mein leib goldgrün verbreite ich krankheiten wie das schriftzeichen nachrichten vertreibt mich weihrauch nicht lockt mich kein pfeffer verführt mich abgekocht mit milch allein der pilz der seelen nährt rettet…

Miniaturen I-III

Abstrakte Sprache ist Leistung der Kultur, konkrete Sprache des Erlebens. Herr Nipp Die Miniatur bezeichnet als Gattung in der Literatur ganz allgemein einen sehr kurzen Text, und wird – undifferenziert und je nach thematischem Zusammenhang – als Synonym für Begriffe…

Gedanken, die um Ecken biegen

  manche träume gleichen der aus dem grab gestreckten hand des scheintoten kindes, dessen körper leben will. sie sind implosionen der ungelebten, zerlebten, abgelebten, zu früh oder spät oder verkehrt durchlebten, totgemachten, totgesagten, totgedachten, totgefühlten inneren, also anderen welt, die,…

SANDSPUREN

hält mich das rinnen der zeit unter glas nicht in fluß seh ich mich erschöpft verschüttet schon zur welt gebracht treiben reisig und schwefel gelb und weiß hervor das salz des körpers erheb ich glänzend mich zum flug krümmt der…

Gedanken, die um Ecken biegen

  der tod ist die radikalste aller gegenwelten, und damit ein urgrund der phantasie, die nichts so herausgefordert hat wie das unsichtbar gewordene tote und das noch nicht geborene oder lebbare leben.     *** Holger Benkels Gedanken, die um…

beruhigt der fiktive tod im leben?

Grandios – im Großen wie im Detail, brachialer Existenzialismus im Gewand einer hochästhetischen Sprache. Wie immer man es nennt, es ist Gefühl, pur, Macht, vollkommene Hingabe, Gewalt eher nicht. Ich mag die Freiheit zu sehr, um ihr Schranken zu setzen…

GERONNEN

ersetzt die gerade linie im beton die wurzeln wachsen hohl aus fundamenten steingeschwüre in den schößen der stadt stehn brüchig die statuen auf den sockeln erstarrte feuer der geburt erkalten weiter kopf und glied verbrennt zum frost der ruf der…

#Gedanken, die um Ecken biegen

  kunst, die aus sich selber lebt, braucht anregungen, korrespondenzen und herausforderungen, aber keine konkurrenz. das originäre muß nicht konkurrieren. zur konkurrenz gehören profane gegenstände. das wort konkurrenz ist mit konkurs verwandt.       *** Eine Vorschau auf: Gedanken,…

SÜMPFE

ruht gedüngt die landschaft unter zweigen und blättern lauern dunkel die schatten der fäulnis an der schwelle zwischen erde und wasser zeugen mücken das fieber im körper sind frost und hitze wie ebbe und flut himmel und hölle  in mir…

FLUß

beherrschen rinnen das wasser  wie rechner die menschen  im spiegelbild der täuschung  öffnet erst die flut die wunden  treiben puppen aus stroh durch die adern  der landschaft sinkt hinab die brust zu der das leben einst ans ufer stieg find…

Das Hungertuch für Holger Benkel

Holger Benkel aus Schönebeck an der Elbe erhält in Anerkennung seines lyrischen Werks das Hungertuch für Literatur 2005 Holger Benkel verfügt über kulturelle Deutungsmuster und Übersetzungsmöglichkeiten, die anderen fehlen. Seine Biographie erscheint als Zwischenexistenz, als interkulturelle Existenz, aber sie dient…

HIMMEL

verschlingt ein tiefes blau das lager der gestirne bleibt allein der morgenstern als kopf mit nägeln scharf nach dem nachtbad der sonne fliegen adler dem licht entgegen erweckt die kühle ihres schnabels bricht der tag herein rinnt tau wie blut…

BAUM

versperrt der schlagbaum kahles holz den dreiweg seh ich über mir kopf krone sonne die figur hängt herab am eignen material geopfert das blatt noch im haar tötet der ast ein kind das licht aus blüten treibt zur falschen zeit…

Transmediale Poesie

Wenn man sich den Ursprung der Lyrik ansieht, so kommt der Begriff selbst von „Lyra“, Leier, sprich, Lyrik war auch Wort in Verbindung mit Klang und Rhythmus. Das bedeutet, in gewissem Sinne ist die Wurzel der Poesie ja schon „interdisziplinär“,…

NÄCHTE

  umschließt das moor der mitternacht den himmel steh ich im chaos in der fülle ohne licht  reifen die erze verborgen weiter unter der erde  fault das korn bevor es keimt erholt das brachland sich  allein erlebt der vagabund sein…

BUCHT

fliegen wasser durchs gebirge zittert stumpf das licht überm bogen der landschaft öffnen schleier ihr gewand entrollt der himmel die furchen der berge  fließt glühendes gestein in fallenden tönen  zwischen felsen und füßen wächst ledern die haut erscheinen menschen flache…

UNTER WELLEN

strömt des wassers masse in den wunden schoß der erde sink ich nach innen wogend unterm wellenglanz zwischen grund und spiegel läßt das fließen hoffen treiben im seegras vorüber die weiden der fische bis sie humus werden mit der zeit…

Verlag Blaue Äpfel

  Will ein Teil der hier vorgestellten Verlage eher der Subkultur zugerechnet werden? [Die Frage, ob es noch Sinn macht, in den 1960/70er Jahren demonstrativ getrennte Strömungen wie Mainstream (Establishment) und Subkultur (Underground) im Delta deutschsprachiger Lyrikflüsse zu isolieren, ist…

TIERE

mensch der einst noch selber blinde kuh geschöpfe die er sprechen hörte zähmte rief als er gebot herab die höheren wesen darin schuf er den schlachthof das rohe in uns töten wir fortan die kreatur im eignen blut wie eine…

FLUCHTRAUM

  ich gerate unterwegs auf der straße in einen gewitterregen und fliehe in ein buchgeschäft, das ich zuvor noch nie betreten hatte. ich schaue mir die bücherregale an, um die zeit zu überbrücken, bis der regen aufhört. dabei finde ich…

TOTENSCHÄDEL

lieg ich unterm hügel auf kräutern gebettet bedeckt nur haut noch meine knochen  taumle ich in den tag hinein trag ich meinen kopf  am gürtel wieg ich ihn im nest der hände  leuchten lichter in der urne des gesichts  hinter…

Durch Sprache kenntlich werden

Kretins… it was perfectly horrible… they should certainly be killed. Virginia Woolf A. J. Weigoni, Schriftsteller und Literaturpädagoge, stellt in seinem Originalton-Hörspiel »Zur Sprache bringen…« Bewohner des Benninghofs der evangelisches Stiftung Hephata vor, die im landläufigen Vokabular Behinderte heißen. Das…

ABGESCHABT

reißen tapeten in speichern und küchen komm ich aus zerfallenem papiergeröll im kopf such ich brot und fleisch stieben tropfen wie funken unterm dampf der kessel seh ich schwarz flieh ich in zerstrahltem staub schützt mich mein skelett auf der…

GELBGEFLÜGELT

nähr ich mich im flug an blüten beflecke ich das haarkleid meiner lust  glüht der rumpf bebt die haut zittern die fühler  grab ich am abgrund unter disteln bau ich  im grellen licht ein nest für die brut  trag ich…

HINTERHOF

  ich gehe in den hinterhof eines halb verfallenen hauses, dessen bewohner als asozial gelten, und trage einen beutel bei mir. denn ich will flaschen im müll suchen, sie verkaufen und damit etwas geld erwerben. knapp kann ich mich vor…

Der Essay als Versuchsanordnung

Der Essay trägt dem Bewusstsein der Nichtidentität Rechnung, ohne es auch nur auszusprechen; radikal im Nichtradikalismus, in der Enthaltung von aller Reduktion auf ein Prinzip, im Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale, im Stückhaften. Theodor W. Adorno Eine Rückblende auf…

LEBENSRÄUME

solang der winter dauert lebe ich nach innen birgt mich der raum ein ausgehöhlter stumpf denk ich wie pflanzen wachsen nach der kälte leuchten blüten ultraviolett tastet sie ab das freie tier spielt es im kraut mit mir gekerbt der…

Dritte handgeschriebene Anthologie

  JESSE GLASS MY SYMPHONY Everything You hear While reading this. Lyrik findet in den Nischen statt. Lyrik ist nicht wichtig, aber wesentlich. Lyrik ist Sache der „happy few“. Diese wenigen allerdings würden krank ohne die Gedichte. Indem wir die…

SCHERBEN

zerteilt metall das fleisch leuchtet geröll  überm gesicht aus mauerschutt pocht der schorf  zerbrochen wie eine waffe im zwielicht des blutes  das ist der weg der kultur ihr humus der barbar das opfer  steht auf als narr gespaltnes holz das…

MEIßELBRUT

bin ich ganz form im übergang zwischen kopf und leib komm ich aus rissiger erde will ich immer fort züngeln die ähren im tanz des korns wie ein loderndes feuer wimmle ich am ursprung der saat schaff ich eine brut…

DER SCHÄDEL

  ich reise nachts mit der bahn auf einer strecke, die ich kenne. ich schaue aus dem fenster und versuche mir anhand der lichter draußen die straßen, häuser und fabriken vorzustellen, die gerade vorüberfahren. da sehe ich einen riesigen totenschädel…

WALD

abseits des weges nur beginnt das reich der geister  wer noch was werden will  der warte am waldrand  nicht im lichten garten steig ich aus dem hain hinab ins labyrinth erwachter nacht laß alle kleider hinter mir trag meine knochen…

DIE INSEKTENFRAUEN

  ich stehe im licht des mondes vor einer verlassen wirkenden häuserfront, über deren zerbröckelnde mauern wein wächst, und versuche, zu erkunden, ob dort nicht doch noch jemand wohnt. da entsteigen fünf winzige weißhäutige nackte frauen mit insektenleibern einem geflochtenen…

DIE FRAU MIT DEM PURPURTUCH

  ich sitze einsam an einer felswand im grellen sonnenlicht inmitten eines verwilderten apfelhains und bin vom purpurrot der früchte umgeben, aus deren geplatzten schalen, die wie wunden aufreißen, ohne daß ich sie berührt hätte, unablässig saft tropft. und während…

DIE REPARATURWERKSTATT

  ich laufe durch eine straße mit vielen geschäften. plötzlich entdecke ich am eingang eines schusterladens auf einem schild die aufschrift: »Repariere Gedichte. Nagle die Reime. Öle die Bilder. Löte die Verse. Garantiert wie im Tanz kopuliert.« ich schaue durchs…

SONNE UND EIS

  ich sehe die sonne allein und nackt mit ausgebreiteten armen und einem schemenhaft verschwommenen bleichen gesicht neben mir unter bäumen liegen. indem sie langsam verglimmend in meinen augen erlischt, weht blütenstaub auf mich herab, den insekten bestäuben, wodurch er…

IM MOOR

  ich taste mich durch die aufsteigenden nebel eines moorwaldes und finde kein entkommen mehr aus dem labyrinth der bäume und sträucher. während der boden unter mir bei jedem schritt wankt, breche ich einen astknorren zum aufstützen ab und bewege…

DER ERHÄNGTE

  ich laufe eines frühen morgens zum bahnhof und halte den kopf nach unten gebeugt, sei es, damit mir der wind nicht ins gesicht schlägt, oder um beim schnellen gehen nicht abgelenkt zu werden. zudem bin ich in gedanken versunken…

GUTER RAT

  ich suche eine beratungsstelle auf, weil ich nicht länger als mensch leben möchte. ich eröffne dem anwesenden psychologen meinen wunsch, und daß ich mich erkundigen wolle, in welches tier ich am besten verwandelt werden könnte. der mann schaut mich…

REISE IM FLUG

  ich werde als rücksitzfahrer auf einem fliegenden motorrad transportiert, das im flug ständig gegen dachfirste, dachrinnen, schornsteine und straßenlaternen stößt, die mir wie riesige emporgestreckte finger schroff entgegenragen, so daß ich jeden moment abzustürzen drohe. ich klammere mich am…

Poetologische Korrespondenzen

Die Lektüre von Geschichten und Romanen dient dazu, die Zeit zweiter und dritter Ordnung totzuschlagen. Die Zeit erster Ordnung braucht man nicht totzuschlagen. Sie ist es, die alle Bücher totschlägt. Sie bringt einige hervor. Paul Valéry Mit Schriftstellern ein Interview…

SCHORF UND SCHÄDEL

  ich beobachte im licht der nachttischlampe einen schuppigen und zerschrammten schorf, der sich von meiner haut ablöst und drachenförmig aufsteigt. mit erstarrtem gesicht pflücke ich auf der schneide einer schere die bluttropfen, die daran herunterperlen, wie früchte in einer…

DER KLAVIERSPIELER

  ich habe eine wurst in der hand, die ich erst hin und her drehe und dann mit einem küchenmesser zerschneiden will. doch als ich das messer ansetze, ist sie verschwunden, so daß ich mir die eignen finger abtrenne, die…

DER KÜNSTLER

  ich kauere in der verborgenen ecke eines treppenhauses unter einer schrägen wand, die mit schimmelpilzen bewachsen ist. plötzlich bespringt mich von hinten eine käferförmige gestalt, krallt ihre hornigen und behaarten hände an meinem rücken fest und wirft ihren körper…

DIE JUNGEN

  ich besteige einen nachtzug und bleibe, da ich auf anhieb keinen freien platz finde, im gang stehen. der schaffner bemerkt dies sofort und geleitet mich, wortlos und mit wenigen, doch eindeutig wohlwollenden gesten, in ein abteil, das bereits von…

GUMMIKINDER

  es lebte einst der junge ferdinand, der aß jeden tag hunderte süße gummibären. und eines tages, als er sich an die nase faßte, war sie ebenfalls zu gummi geworden, daß man sie eindrücken konnte. er indes dachte, das macht…

DORFPLATZ

  ich sitze am fenster und sehe draußen hinterm glas den dorfplatz meiner kindheit unter einer dünnen staubschicht, die ständig aufwirbelt, in seltsam kubischen formen kreisen, die bei mir das gefühl eines taumelns hervorrufen, aber keinerlei rausch. es ist nicht…

EISLAND

  ich stehe auf einer eisfläche. unter mir liegen blaugrau geborstene schollen, die ineinander verkeilt sind. an anderen stellen glänzt das eis durchsichtig wie glas. ich überlege, welcher zustand gefährlicher ist. da erblicke ich einen riesen, der mir von einem…

AUF DER ENDMORÄNE

  mein vater läuft mit mir an der endmoräne nahe dem dorf meiner kindheit entlang. es erscheint der papst in entsprechendem gewand. mein vater bittet ihn, mich zu taufen. der papst aber weicht aus, erklärt, er müsse zuvor einen rundgang…

LEUCHTTURM

  ich wohne in einem leuchtturm auf einer winzigen felsigen insel im meer. am küstenstreifen steht ein windrad, das mir strom liefert, und auf einem plateau ein großer baukran. denn mir soll neben dem turm ein haus zum wohnen gebaut…

DAS VISIODROM TRÄUMT SICH SELBST

  ich stehe als kind mit drei jahren neben meiner mutter im fleischerladen und sehe an der wand blutige fleischstücke hängen, die violett schimmern. plötzlich zeige ich auf das fleisch und rufe: »da, ein mensch, ein mensch!« meine mutter und…

KLASSENTREFFEN

  ich bin mit erwachsenen schulkameraden der dorfschule, in der ich eingeschult wurde, im oberen saal des gasthauses »Zum schwarzen Adler« am dorfplatz meines heimatdorfes. vom kalten büfett nehme ich nur wenig. meine erste klassenlehrerin, inzwischen 90 jahre alt, unterhält…

Das sich erklärende Wort

Die Poesie ist ein Versuch, der Wirklichkeit auf nichtbegriffliche Weise zu begegnen Yves Bonnefoy Lyriker haben keine schlichten Vokabeln, weder im Leben noch in der Dichtung. Selbst Jugendgedichte verdeutlichen das Umkreisende, das eine Suche nach Identität birgt: loslassen, sich selbst…

ÜBERSCHAU

nur das gewitter der geruch die zeit der weht und tanzt ist frei also mild und gerecht und vergeht doch nicht die elemente schlagen an die tür mir der gesalbte die mumie der stifter der henker der retter in mir…

Eine Sprache finden, ein deutsch/deutscher Dialog

  WEIGONI: In deiner Vita lese ich, dass du zwischen 87 – 91 am Literaturinstitut Leipzig studiert hast, vor und nach der Maueröffnung, hat sich das auf das Studium ausgewirkt? HOLGER BENKEL: das leipziger literaturinstitut wurde, in einer aufbruchsphase, die…

GEWITTER

reißt das wetterweiß der wolken kreischen schwalben stürzen nieder halten frauen was sie haben jagen tropfen aufs gefieder pulsen hinter mauern stöße durch die wand die münder legen an die quelle sich und atmen nebel steigen nach dem regen ***…

STRAND

dein morchelfarbner mund ophelia ragt aus dem wasser und der leib hält muschelgleich an den stein geheftet sich im schlamm taumelndes kind die fettzungen des winds werden dich begrünen bevor noch dein rachen geölt ist vom meer erhebst du die…

Eine kleine Geschichte der deutschsprachigen Lyrik

Vorbemerkung der Redaktion: Die Lyrik ist eine der frühen literarischen Formen. Wenn auch die frühesten überlieferten lyrischen Texte nicht als Gedichte im heutigen Sinne verstanden wurden – das Vorkommen von Reim bzw. Alliteration, einer Metrik oder eines sprachlichen Rhythmus genügt,…

Interkulturelle Existenz

  Holger Benkel verfügt über kulturelle Deutungsmuster und Übersetzungsmöglichkeiten, die anderen fehlen. Seine Biographie erscheint als Zwischenexistenz, als interkulturelle Existenz, aber sie dient ihm der produktiven Herausforderung und nicht irgendeiner Verostung. Für jemanden, der auf dem Land zu Hause ist…

SICHEL

erscheint der morgenstern der falke der gestirne zerreißt das licht dem mond im schoß des himmels bleiben stücke fleisch losgelöst zurück wie wurzeln und keime unterm messer dem werkzeug des tags heißt schaffen spalten an jedem ende bestimmt der tod…

STRAßENBILD

  buchstabenverzerrt die gesichter durch asche gegangen fallen die köpfe der weißen statuen herab im gelbbewimperten tag träufeln aus konvexen fingern tropfen wein hervor unter nägeln die sich lösen schorfen gleich überm zwielicht des blutes ein abziehbild unterm wasser der…