DIE INSEKTENFRAUEN

 

ich stehe im licht des mondes vor einer verlassen wirkenden häuserfront, über deren zerbröckelnde mauern wein wächst, und versuche, zu erkunden, ob dort nicht doch noch jemand wohnt. da entsteigen fünf winzige weißhäutige nackte frauen mit insektenleibern einem geflochtenen korb, der im wein hängt, und klettern in schwingenden, wippenden, federnden bewegungen dem erdboden entgegen, wobei sie mitunter auf einzelnen reben verweilen, um dann umso rasanter hinabzugleiten. unten angelangt, legen sie ihre rucksäcke ab, zünden kleine kerzen an, entfachen aus eilig herbeigeholten ästen ein harzig riechendes feuer, über dessen gelben flammen rauch aufsteigt, der schon bald mit narkotischen dämpfen durchmischt ist, bereiten in einem kessel glühwein, kochen danach genauso schnell eine suppe aus weißem fleisch, die sie hastig schlürfen und wovon sie mir abgeben, während sie kleinere knochenstücke, die sie finden, sorgsam in papiertüten stecken und aufbewahren. mich aber befremdet der salzige geschmack, und daß ich nicht weiß, wessen fleisch ich esse.

nach dem mahl gießen sich die frauen abwechselnd und gegenseitig den heißen glühwein in ihre münder und über ihre körper, die jetzt klebrig glänzen, tanzen übermütig hüpfend ums feuer, wälzen sich mit weit ausgebreiteten armen durchs gras, springen jedoch sofort wieder auf, brechen im vorübergehn die triebe frischer fliederzweige ab, erreichen einen spielplatz, wo sie schaukeln und karussell fahren, laufen weiter zu einer baustelle, überqueren auf stelzen förderbänder und hangeln an seilen über ein gerüst, das im dämmerlicht einem schafott ähnelt. und ich beobachte sie, unter halbfertigen häusern stehend, deren mauernischen mir wie grabkammern vorkommen, und frage mich, was das alles mit mir zu tun hat.

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traumnotat aus reise im flug, von Holger Benkel, Verlag blaue Äpfel, Magdeburg 1995

Weiterführend

 

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.

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