Vom Hölzchen aufs Stöckchen · Auf meine Art an Hans Bender denken (1)

 Matrix 29

Jeder auf seine Art für Hans Bender ∙ auf 136 Seiten zusammengestellt von Theo Breuer ∙ mit Wort- und Bildbeiträgen von Michael Augustin ∙ Rose Ausländer ∙ Franz Joachim Behnisch ∙ Hans Ben­der ∙ Gottfried Benn ∙ Wolfgang Bittner ∙ Johannes Bobrowski ∙ Theo Breuer (mit dem in Kulturnotizen zu lesenden Essay Vom Hölzchen aufs Stöckchen 1, 2 und 3) ∙ Rolf Dieter Brinkmann ∙ Jürgen Brôcan ∙ Werner Bu­cher ∙ Joseph Buhl ∙ Michael Buselmeier ∙ Hugo Dittberner ∙ Anne Dorn ∙ Georg Eisler ∙ Susanne Eules ∙ Manfred Gierig ∙ Peter Hamm ∙ Markus Haupt ∙ Walter Hinck ∙ Dieter Hoffmann ∙ Werner Irro ∙ Ger­hard Jaschke ∙ Walter Kappacher ∙ Michael Krüger ∙ Axel Kutsch ∙ Werner Lutz ∙ Re­nate von Mangoldt ∙ Friederike Mayröcker ∙ Volker Neuhaus ∙ Traian Pop ∙ Joachim Rönneper ∙ Hans Georg Schwark ∙ Arnold Stad­ler ∙ Tina Stroheker ∙ Jürgen Theobaldy ∙ Maximilian Zander

 

Das Gedicht verträgt kein Dogma.
Es ist offen für jeden, der es auf seine Art kann.
Rainer Malkowski

Ganz woanders

steht mir der Kopf in diesen Zeiten. Und den Ver­lauf des heutigen Tages, es ist Samstag, 18. Februar 2012, habe ich so nicht erwarten können, da hätte es schon erstaunlicher hellsehe­rischer Fähigkeiten be­durft. Am Vor­abend habe ich, vorsorglich, Bücher von Ulrich Koch, Bleibe, und Jan Decker, Der Abdecker, als Lek­türe für heute bereitge­legt. Mit der Post kommt, wie erwar­tet, Ro­land Bärwinkels Bevor es zu spät wird. Was nicht kommt, obwohl überfällig und ersehnt, ist Friederike Mayrö­ckers Das Licht in der Landschaft. Und während ich mit der Be­antwortung der eingegan­genen E-Mails beschäftigt bin, funken, ab 9 Uhr 30, Julietta Fix, Jürgen Brôcan und Hans Bender da­zwi­schen, daß es seine Art hat, und längst befinde ich mich, unaufhalt­sam, im freien Fall der un­verhofften Wörter:

Bleib noch / eine Weile

Seit einigen Wochen bin ich mit der Vorbereitung des in Matrix 28 »atmenden Al­phabets für Friederike Mayröcker« be­faßt, für das ich rund 77 Menschen gewinnen kann, sich mit Aufzeichnung, Besprechung, Bil­d, Essay, Ge­dicht, Ge­spräch, Graphik, Kurzprosa, Lobrede, Noti­z (usw.) an die Seite eines guten Dutzends neuer FM-Ge­dichte zu stel­len: damals die Ästchen der Kirschbäume ins of­fene Fenster tastend … Ich lese, entfesselt gleichsam, Mayröcker-Buch um Mayröcker-Buch, ges­tern die Lie­besge­dichte, vorgestern Die kommuni­zierenden Gefäße, heute sollte es Das Licht in der Landschaft sein, bevor ich mich bald dem Prosabuch brütt oder Die seufzenden Gärten zuwen­den will.

In dem am 3. Januar begon­nenen Essay Über­schwemmt, die Lust am Taumel über Mayröckers Flocken der Syntax schreibe ich: »Die Wörter der Friederike May­rö­cker überglänzen ein­fach alles, was ich ansonsten in diesen Tagen an Wörtern lese, nicht gerade wenige, alles andere als ›stumpf‹ – und trotzdem«, in den, naturge­mäß, auch Hans Bender mit dem druckfrischen und ohne Abschweifung zweimal hin­terein­ander gelesenen Buch Auf meine Art (dem Mal­kowskis oben zi­tierte Worte vorangestellt sind) einfließt: »und fühle mich in den Versen von Benders Ein Dichter zu Besuch // Bleib noch / eine Weile. / Hilf mir finden / die letzte Zeile, in Mayröckers sich in mich hi­nein­gießenden, sich in mir verströmenden Strömen – bin durchsägt von Universum – auf unendliche Weise daheimlich«.

Ich amal­gamiere · brilliere (I celebrate myself · Walt Whitman) · col­lagiere · da­tiere · exzerpiere · fingiere · gene­riere · hantiere · imagi­niere · jongliere · korrespondiere · lekto­riere · montiere · notiere · oszilliere · plagiiere · quadriere · reflektiere · spinti­siere · telefoniere · usurpiere · variiere · wünschelrotiere · xerographiere · yubiliere · zitiere: Wo sind die Ro­sen und die Gitarre, die Hunde und Katzen / die Steine und die He­ckenzäune / die Münder, die sangen, die Kalender, die Flüsse / und die Brüste voller Milch? · Tonino Guerra – usw.

Die Tauben kommen zurück

Die E-Mails zwischen Christel Fallenstein aus der Hauptgasse der Poesie in Wien und Theo Breuer aus der ›Neugasse‹ in Sistig/Eifel mit der Betreffzeile FM-Edition flattern, nonstop gleichsam, in die jewei­ligen Rechner wie Brieftauben, die, oft in kur­zen Abständen, von viele hundert Kilometer langen Wettflügen heim­kehren und, gleichsam zu Tode gejagt, in die Schläge stürzen. Leben­dig die Erinnerung an die Ferienzeiten bei Onkel Johannes und Tante Thekla und deren Kindern Rita, Hans und Heinz in Zülpich-Ho­ven, wenn es hieß: »Die Tauben kommen zurück.« … Als Kinder fan­den wir’s lustig. / By the way: Obwohl sechs Kilometer bloß von Bürvenich entfernt, empfand ich’s als ›wunderbare‹ Reise in die ersehnte Ferne, ja, damals ›reiste‹ ich gern, wollte immerzu weg, weg vom Bauernhof mit in Erntezeiten schier unerträglichem Lärm und wüster Hektik, was waren das für Zeiten, ›damals‹: Vom Kindergarten heimgekehrt, wußte ich, zeit­weise, auch die Mutter im Feld, und wenn deren Schwester, Tante Thekla, mit dem Fahr­rad spontan aus Hoven zu Besuch kam und mich ganz allein zu­hause vorfand, na ja, das Vieh im Stall war da, packte sie mich kur­zerhand auf den Sattel, kaum eine Notiz hinterlassend: »Hab Theo wieder mitgenommen.« … So war das. Und es war gut.

Comeback

Wo blieb ich stehn? Der Kopf wird mir also heftig durchwirbelt am Morgen des 18. Feb­ruar 2012: Julietta Fix, mit der ich über neue Bü­cher in ihrem fixpoetry.Verlag korrespondiere – in der Nacht habe ich Kerstin Beckers Fasernackte Verse gelesen, stoße auf den verwun­schenen Wieder­gänger –, macht mich auf eine von ihr ins Netz ge­stellte Besprechung aufmerksam: »Das könnte Dich interessie­ren, habe ich eben gepostet.«

Ob mich das interessieren ›könnte‹??? Wiewohl mir der Kopf doch ganz woanders steht, ich bis eben vertieft bin in Herbert J. Wim­mers Ganze Teile (schon vergangen­heit / nicht mehr gegenwart / zu­kunft noch nicht / abgrund jetzt) und mit Christel Fal­lenstein per E-Mail-Korrespondenz hin und her über­lege, ob wir diesen Autor, jene Künstlerin noch einladen sollen oder nicht – »Wird denn der Platz auch rei­chen?«, reiße ich, hochgradig kopflos, wie von Ka­pitän Ahab befohlen, ferngesteuert also, wil­lenlos, das Ruder herum, lese Jürgen Brôcans »I wrote it my way. Hans Benders neue Vierzeiler« über­schriebene gute Worte zum neuen Buch und rufe ohne Verzug Hans Bender an, das Ge­spräch ist eh überfällig, eine Woche ist schon wieder, wie im Flug, vergangen, und Bender fragt, noch vor der Begrüßung: »Ist es bei Ihnen auch so dunkel heute?«

Ich will, eingedenk des Vierzeilers Zu spät // Ach, wäre ich doch / gestern schon ge­storben! / Heute hat ein Rezensent / mein Come­back verdorben, unbe­dingt und je­denfalls der erste sein, der dem Freund die frohe Botschaft der ersten – und fundier­ten, sachlichen, unterhaltsa­men – Be­sprechung des wenige Tage zuvor erst ausge­lie­ferten Ge­dichtbuchs übermittelt, und ich lese vor:

Bender mischt sich ein, kom­mentiert, stellt Fragen, unaufdringlich und schlicht, aber durchaus ziemlich scharfzüngig: »Dichtendes Ehe­paar // Beide schreiben schöne Gedichte. / Wie aber spre­chen sie mitein­ander / in der Küche? Warum hat ihr Sohn / so schlechte Noten in Deutsch?« Oder: »Nach­kommen // Sie haben eingeebnet, asphal­tiert, / was meine Erinnerung behält. / Doch welcher Barbar hat hin­term Haus / am Bach die Sil­berpappel gefällt?«

Im Nu ist es hell in Taubengasse und ›Neugasse‹, die Wörter fliegen nur so hin und her, Hans Bender ist, naturgemäß, herrlich aufge­kratzt von einer Minute auf die an­dere, berichtet, daß während der Woche ein Radio-Redakteur da war, ihn zu seiner Art, Vierzeiler zu verfassen, zu befragen. Keine Zeit zum Trübsal schwitzen, feine Zeit für Lyrik.

Während des gut halbstündigen Gesprächs erzählt Bender, wie er 1968 mit Friede­rike Mayrö­cker und Ernst Jandl im Kölner Café Rei­chert sitzt und durchs Fenster Paul Celan vorbei­hetzen sieht, der ihm im Brief vom 18. Mai 1960 schreibt: Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe kei­nen prinzipiellen Unter­schied zwischen Händedruck und Gedicht. Benders Arbeit als Ak­zente-Herausgeber kommt zur Sprache. 1965 bringt er, beispiels­weise, erstmals Ge­dichte von Friederike May­röcker, die Erinne­rung trügt nicht, wie er inner­halb weniger Sekunden recher­chiert, in denen es ganz still ist, ich höre nicht einmal, wie Bender sich vom Telefon wegbe­wegt und sehr schnell mit der Bestätigung zurückkehrt. Wir kommen auf Ilse Ai­chin­ger, Günter Eich, Rainer Bram­bach zu sprechen, die beiden Män­ner zwitscherten wohl gern einen zusammen. Schließlich sagt Bender zu, mir einige Vierzeiler für die FM-Edition zu überlassen. In unmittel­barem Anschluß an das Tele­fonat beginne ich, nachdem ich die neuen Ge­dichte in vier Zeilen aus dem Regal gezogen habe, wie wild und naturgemäß auf meine Art, in die Tasten zu schla­gen, das Ergebnis ist ja hier nun zu lesen … kunter­bunt … durcheinandergewirbelt … im­mer schön der Reihe nach … und das letzte Gedicht des Bands geht so:

post mortem
 
Mir die ewige Ruhe zu vertreiben,
könnte ein Spalt nach oben blei­ben.
Zu sehen, wie Leben sich fortbewegt.
Wer stehen bleibt. Blu­men niederlegt.

Widerstand

Indem ich einleitend schreibe, daß der Kopf in diesen Tagen gleich­sam ›besetzt‹ ist von Friede­rike Mayröckers fabelhaften Wörtern, so stimmt das natürlich – und doch auch wieder nicht. Je­dermann kann die Einleitung zu den Abenteuern von Asterix und Obelix (von Idefix ganz zu schweigen) auswendig hersagen: Wir befinden uns im Jahre 50 vor Christus. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt … Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindring­ling Wider­stand zu leisten. Ich erlaube mir, es dient ja der guten Sache, den Satz für unsre Zwecke einmal kurz um­zuschreiben: Wir befinden uns im Jahre 2012 AD. Der ganze Kopf ist von den Wörtern einer Wienerin besetzt … Der ganze Kopf? Nein. Ein von unbeugsamen Wör­tern bevölkertes Büchlein eines in Köln leben­den Autors hört nicht auf, den eindringlichen Wör­tern aus Wien Wi­derstand zu leisten:

Vergeblicher Protest
 
Ich protestiere.
Keiner stimmt mit ein.
Spreche ich zu leise?
Ich will nicht schrein.

Ich gehe ins Prosazimmer, greife Ekkehard Rudolphs 1971 bei List in München he­rausgege­benes Buch Protokoll zur Person. Auto­ren über sich und ihr Werk aus dem Regal und lese, was Hans Bender kundtut:

Ich bin kein Naturalist, aber dieses Leben um mich herum, die Wirklichkeit, wie wir leichtfertig sagen, die stößt auf mich, die rührt mich an, das eine mehr, das andere weniger. In einem Auf­satz habe ich einige An­stöße zu mei­nen Ge­schichten angeführt. Ich habe zum Beispiel gehört in einer Stra­ßen­bahn, wie ein Mäd­chen zu einem anderen sagte: »Am Sonntag habe ich Frei­tisch«, und dieses Wort ›Freitisch‹, das hat die Ge­schichte Fondue oder Der Freitisch ausgelöst. Ich glaube, alle meine Geschichten, Romanszenen, auch Gedichte wurden von solchen Signalen angeregt … Es gibt zwei Grundarten von Literatur, wie sie zuletzt Benn und Brecht bei uns ver­treten haben: Benn, der sagte, das Gedicht ist an eine Muse gerichtet, aber die Muse ist gar nicht da; Brecht, der sagte, Li­teratur muß etwas bewirken, Li­teratur hat einen Gebrauchswert. Diese zweite Auffassung von Brecht ist mir sympathisch. Ich glaube an eine Wirkung der Litera­tur, obwohl ich nicht ein­deutig nachweisen kann, ob das, was ich ge­schrieben habe, etwas be­wirkt hat. Bei den großen Werken der Weltliteratur läßt sich’s nachwei­sen.

Hans Bender, es ist seit langem bekannt, gehört zu den Autoren, deren Wörter stets bei mir sind, manche Vierzeiler spreche ich bei Gän­gen durch den Wald »so für mich hin«:

Lebenslang
 
Die kleinen, gelb­roten Äpfel
ganz oben in den Zweigen.
Lebenslang behalten wir
ihren süßen Ge­schmack.
 

Ob ich wohl alle Bücher Benders gele­sen habe? Angesichts der Vielzahl der zwi­schen 1951 und 2012 veröffentlichten mehr als 40 Einzeltitel, von Fremde soll vor­über sein bis Auf meine Art sowie der gleichsam unendlich er­scheinenden Liste der Heraus­gaben (angefangen 1952 bzw. 1954 bei den Literaturzeit­schriften Konturen und Akzente über ebenfalls längst legendäre Sam­mel­bände wie Mein Gedicht ist mein Messer, Widerspiel, In diesem Lande leben wir – ›usw.‹ – bis hin zu Was sind das für Zeiten von 1988), frage ich mich auch jetzt wieder, ob ich nicht den einen oder anderen Titel übersehen habe, und tatsächlich entdecke ich immer mal wieder noch ein Büch­lein, denn Bender hat außer bei Hanser, dem Hausverlag seit den 1950er Jahren, gern mit buchkünstlerisch engagierten Verle­gern wie V.O. Stomps, Richard Müller, Ulrich Keicher, Toni Pongratz oder Hendrik Liersch zusammengear­beitet, die im Verbor­genen gleich­sam Buch um Buch hervorbringen und von denen er bis heute aufgefordert wird, ihnen Manuskripte zu überlas­sen.

 

* * *

Lesen Sie hier den zweiten Teil des Essays. Und dort Teil 3.

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.