Die Humanisierung der Kommunikation

Eine Erinnerung von Ní Gudix an Hadayatullah Hübsch

 

Es war 1998, da klingelte bei mir das Telefon. Ich wollte gerade etwas vom Fernseher auf Cassette aufnehmen und war daher verärgert über die Störung, da mir das Klingeln die Aufnahme versaute. Ich hob also kurz ab, blaffte was und legte wieder auf. Dann eilte ich zurück zum Rekorder. Doch der Anrufer ließ sich nicht so einfach abwimmeln. Er rief nochmals an. Ließ es lange klingeln. Schließlich seufzte ich, stellte den Fernseher ab und ging ran. „Ja?!“ schnauzte ich. Zunächst hörte ich gar nicht richtig hin, was da am anderen Ende gesagt wurde, weil ich immer noch verärgert war über den vermeintlichen Telefon-Spammer. Aber dann hörte ich doch hin.

„Guten Tag, mein Name ist Hadayatullah Hübsch.“

Ich dachte danach lange, Hadayatullah wäre sauer wegen dieses verkorksten Kontaktbeginns. Aber nicht die Spur. Er hatte mich damals auf gut Glück angerufen, weil eine Postsendung von ihm an mich zurückgekommen war. Er wollte wissen, ob er einen Fehler bei der Adresse gemacht hatte. Er schickte mir die Materialien nochmals zu, es waren Texte über die literarische Subkultur der 60er und 70er Jahre, und alles war in Butter.

Das erste Mal persönlich getroffen habe ich ihn, glaube ich, 1999 auf der Mainzer Minipressen-Messe. Oder war es bei einem von Michael Schönauer organisierten Poetry Slam in Stuttgart? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls liefen wir uns immer mal wieder über den Weg. Wir sprachen nie viel miteinander, weil es wenig zu sagen gab – es war auch so klar. Ich hatte Bücher, Geschichten und Gedichte von ihm gelesen und fühlte mich in ihnen verstanden, und ihm sagte das zu, was ich schrieb. Das reichte. Wir lagen auf derselben Wellenlänge, wenn wir auch in unterschiedlichen Genres dichteten und mit unterschiedlichen Gewichtungen, aber wir fanden uns zusammen in vielen Zeitschriften. Es gab damals Leute, die mir rieten, mich an Hadayatullah „dranzuhängen“, denn mit ihm als „Zugpferd“ könne ich schneller berühmt werden, aber diese Denke war und ist mir fremd. Hadayatullah war ein Veteran, eine Koryphäe, klar, genau wie Biby Wintjes und Bruno Runzheimer (beide inzwischen auch tot), aber deswegen hatten wir dennoch kein Der-Star-und-sein-Fan-Verhältnis, sondern ein kollegiales, eins auf Augenhöhe. Wir schätzten und respektierten einander ohne viel Aufhebens, und das war mehr wert als das verlogene und lautstarke „Wow, ich find ja alles ganz toll, was du machst!“, das ich später oft in der „Szene“ hörte.

Hadayatullah Hübsch war für mich der Ruhepol in der hochneurotischen Subkulturszenerie. Ihm konnte man vertrauen, er sagte nicht heute hui und morgen pfui. Er war nicht so einer wie die vielen, vielen Spinner, die ihr Ego in den Wind hielten und an ihrem Image feilten, um möglichst schnell möglichst berühmt werden zu können, diesen Epigonen, die heute „alles ganz toll“ fanden, was man machte, und morgen nichts mehr von einem wissen wollten, diesen hechelnden Schwanzwedlern, denen ich später oft begegnen sollte, die keinen Stil, keinen Inhalt, kein Rückgrat hatten und die sich vor allem anderen Menschen gegenüber gern aufführten wie die Axt im Walde und das für „Subkultur“ hielten. Nein, so einer war Hadayatullah nicht, und das war das Beruhigende an ihm. Und noch beruhigender war, daß er die Schwanzwedler und Epigonen nicht schaßte oder sich von ihnen distanzierte. Er liebte alle: den kantigen Hegelianer, der sich selbst negiert, genauso wie den sich selbst vermarktenden Performancekünstler, den eifrigen Dilettanten genauso wie den alten Dichter. Was nicht heißt, daß er alles toll fand, aber er respektierte die Menschen. Das ist etwas, was viele – ich selbst eingeschlossen – von ihm lernen können: freundlich sein und freundlich bleiben. Nicht überheblich, nicht rechthaberisch, nicht elitär. Freundlich, offen, hilfsbereit. „Wer die Welt verändern will, muß sie lieben“, lautet ein christlicher Spruch, der aber in allen Religionen gleich lautet – und Hadayatullah, der progressive Muslim, hat ihn auch beherzigt. Lieben ist nicht gleichzusetzen mit unkritischem Verhalten oder naivem Idealismus, sondern hat zu tun mit Selbstrespekt, was auch wesentlich ist für den Respekt anderen gegenüber. Alternative, sagte Hadayatullah mal, sei „die Humanisierung der Kommunikation“. Ich weiß nicht mehr, wo ich dieses Zitat herhatte, aber es blieb mir im Gedächtnis und stand mir immer wieder vor Augen, wenn ich mich fragte, was Alternative denn überhaupt noch war außer dem neurotischen Ego-Schaulaufen um einen herum – „die Humanisierung der Kommunikation“. Ja. Das war es. Dafür waren wir angetreten, damals bei Wintjes. Damit konnte man arbeiten. Kürzlich las ich in der taz einen Leserbrief, wonach die, die die Gesellschaft weiterbringen, nicht die Kulturkämpfer sind, die unermüdlich nur die Fronten definieren und Gräben ziehen zwischen „links“ und „konservativ“, zwischen „uns“ und „den Spießern“, sondern die Brückenbauer. Die, die die Gräben zuschaufeln. Die, die einem die Hand reichen. Und ich hatte das Gefühl, dieser Leser schriebe über Hadayatullah.

Im letzten Jahr hatte Karlheinz Schreiber zum Spaß eine Rundmail zum Kommentieren herumgeschickt, einen Artikel über eine amerikanische Studie, nach der „Linke“ intelligenter sein sollten als „Konservative“. Es war eine dieser Studien zum hämischen Schulterklopfen: ha ja gell, „wir“, die Alternativos, ham halt mehr aufm Kasten als „die Spießer“, hehehe, jetzt ist das endlich amtlich bewiesen! Hadayatullah schrieb dazu: „Neben dem IQ gibt es auch noch einen EQ (Emotional Quotient) und der ist manchmal wichtiger als der IQ, denn einer mit einem hohen IQ kann auch ein großes Schwein sein. Klar ist natürlich, dass der, der seinen Kopf bewegt, auch mehr mitkriegt. Andererseits ist das Denken in Schablonen (rechts, links) mittlerweile doch ein bisschen fragwürdig, oder? Traditionell sich Verhaltende müssen nicht immer engstirnig sein und innovativ Stürmende können bisweilen auch ziemlich ausflippen. Also ganz schön ambivalent, diese Geschichte. Schöne Grüße an alle, Hadayatullah Hübsch.“

Der EQ, das ist auch der Herzblut-Quotient, der in einer halbherzigen und herzlosen Gesellschaft immer wichtiger wird.

Ein schönes Zusammentreffen gab es 2006 auf der Leipziger Buchmesse. Ich lief da so durch und sah Hadayatullah zufällig hinter seinem Stand. Er sah mich, kam hinter dem Stand herausgelaufen, rief „Gudix! Das ist ja schön!“ und umarmte mich herzlich. Wir standen dann etwa eine Viertelstunde da rum, mitten im Gang, und Hadayatullah redete und redete…

Das letzte Mal gesehen habe ich Hadayatullah, glaube ich, 2010 im „Labor“ in Neukölln, wo er mit Matt Grau eine Lesung mit Musik machte, zu der ich mit HEL hinging. Es erinnerte mich wie immer an einen Gottesdienst: Hadayatullah sang seine Gedichte voller Inbrunst, und man bekam seine Melodien und Worte nicht mehr aus dem Ohr. Als ich ihm das sagte, zuckte er mit den Achseln und lächelte.

Auch das „Labor“ in Neukölln gibt es inzwischen nicht mehr.

„Mit den Augen knipsen“, ein weiteres Zitat von ihm, an das ich denke, sei oft besser, als mit dem Fotoapparat panisch alles zu konservieren versuchen. 

RIP, Hadayatullah. Verstummen wirst du nie.

 

 

 

Der Urvater des Social-Beat. Hadayatullah Hübsch. Photo: Masroor-ahmad

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.