Poeterey

Diese Dichtergeneration ist nicht bereit, hinter die Standards einer kritischen Sprachbehandlung und also Wirklichkeitsauffassung zurückzufallen.

Thomas Kling

Lyrik ist eine Gattung, die zwischen den Zeilen Zeit und Raum gibt, weil diese Leerstellen dann ihrerseits vom Leser Raum und Zeit einfordern. Gedichte dehnen sich aus, wenn man sie liest. KUNO widmet dem Gedicht auch in diesem Jahr den genauen Blick, das aufmerksame, geduldige, ins Denken gedrehte Lesen und Wiederlesen. Das Abtragen der Schichten, Auffächern der Bedeutungsstränge, der Rhythmen und Klänge, der Brüche und Widersprüche, die es, diese Königsdisziplin, in sich trägt. Poesie zählt auch weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Es geht  für KUNO um die Frage der poetischen Produktion. Es entstehen neue Textformen, mit denen die Gesellschaft sich von sich selbst erzählt: Soziale Poetik, Sound–Poetik und Social Reading. Geht das Verständnis für die Kulturleistung Poesie verloren, zerfällt Gemeinschaft buchstäblich aufgrund von mangelndem Verständnis. Die Redaktion stellt hiermit drei Autoren vor, für die Gedichte andauernde Suchbewegungen nach einer Sprache sind, die der Erkenntnis einen Ausdruck verleiht. Die Schreibstrategien wie sie Ulrich Bergmann, Holger Benkel und A.J. Weigoni anwenden, verlangen den Rezipientinnen einiges ab. Die Leser werden dazu angehalten, sich ein Wissen anzueignen, um den mal offensichtlichen, mal versteckten literarischen Fährten nachzugehen.

Das Spiel mit dem Paradoxen ist eine Art geistiges Perpetuum mobile. (U.B.)

Ulrich Bergmann

Wir schätzen beim Online-Magazin Kulturnotizen im Poetenpingpong der Positionen die ästhetische Gegenposition eines Ulrich Bergmann, die meistenfalls hinreichend begründet daherkommt. Er ist ein Glücksgeborener. Und damit meint KUNO nicht nur das äußerliche Glück, sondern die seelische und psychische und, davon ausgehend, geistige und kulturelle Prädisposition und Begabung für Glückswahrnehmungen, die ihn selbst noch die Ironisierungen und Parodien seiner eigenen glücksbezogenen Größenphantasien als Glück erleben läßt. Gegen die Auffassung, dass die Verschmelzung von Glück und Kunst eine vormoderne Vorstellung sei, setzt er seine Modernisierungen des Glücksempfindens. Wenn er sein Leben in seinen Texten dialektisch paradox durch Spiel, Theater, Phantasie erweitert, weiß er, daß die ungedachten Gedanken und die unrealisierten Pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale Text eigentlich Liebesakt, Geburt und Erleuchtung vereint. Sein Werk reicht von intensiven Alltagsbeobachtungen über die Wiederbelebung historischer Figuren bis zur reinen Fiktion. Er ist ein Freigeist, ihm gelten nur die Regeln der Syntax, er geht mit kühler Distanz an allen kunstideologischen Prämissen und saisonalen Tendenzen vorbei, ohne sich in der Attitüde zu verhärten. Wir verliehen Ulrich Bergmann für die Reihe „Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben” den KUNO-Lyrikpreis 2016. Drüber hinaus schätzt die Redaktion seine redaktionelle Arbeit für den Dichtungsring. Diese Literaturzeitschrift widerlegt die Annahme, das Netzwerk sei erst mit dem Internet erfunden worden, es gab jedoch eine Zusammenarbeit von Individuen bereits auf analoger Ebene. KUNO dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck. Auf KUNO ist die Reihe Kollegengespräche wieder aufgelebt, daher stellen wir auf KUNO den Briefwechsel von Ulrich Bergmann mit dem Lyriker HEL näher vor.

Wie ein Archäologe hebt Benkel Dinge, Gedanken, Zusammenhänge, die begraben wurden von der Zeit, ans Licht unserer Tage. Und beläßt ihnen dabei doch ihr Geheimnis.

Ein Schreiben im Zeichen von Brüchen und Rissen. Gedichte bedeuten für Holger Benkel etwas, das Seamus Heaney so beschreiben hat: “die Authentizität archäologischer Funde, wobei die vergrabene Tonscherbe nicht weniger zählt als die Ansiedlung; Dichtung als Ausgrabung also, als das Ans-Licht-Holen von Fundstücken, die am Ende als Pflanzen dastehen.” Es um eine Phantasie, die zugleich frei und verbindlich ist. Klarheit und Magie waren für Benkel keine Widersprüche.

Holger Benkel

Auch dieser Lyriker verfügt über kulturelle Deutungsmuster und Übersetzungsmöglichkeiten, die anderen fehlen. Er ist ein grabender Erkunder, von Bildern, von unterirdischen Bedeutungsströmen, von Sprache. Für ihn ist Literatur Topografie und Erinnerung, Landvermessung und Rekonstruktion in einem. Lyrik ist ihm eine übriggebliebene Form, die an vormoderne Reflexe appelliert und, zunehmend vergeblich, einen magischen Nimbus hegt und pflegt, der aus archaischen Zeiten stammt. In seinen Gedichten geht es oft um Abwesendes, um Vergangenes und Verlorenes, das mit Worten in eine andere Zeit, in die Gegenwart gerettet werden soll. Zugleich ist das Vertrauen des Lyrikers Benkel in die Sprache nicht ungebrochen. Deren Unmittelbarkeit ist verloren. Das weiss er, seine Gedichte wissen das. Sie wollen jedoch in Erinnerung rufen, was einmal war, und sie wissen zugleich um die Vergeblichkeit, an etwas zu erinnern. Für diesen Poeten leuchtet die Devise einer abfallgeplagten Epoche auch als Lebensdevise ein.

Holger Benkel beweist als Lyriker in seinem Band Seelenland ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Sein Beharren auf der ehemals kultischen oder liturgische Funktion der Poesie ist wohltuend. Er hat ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Sein Beharren auf der ehemals kultischen oder liturgische Funktion der Poesie ist wohltuend. Zugleich streicht Benkel das Dilemma aller heutigen dichterischen Bestrebungen hervor. In seinen Augen funktioniert die Verknüpfung des Sprachmaterials in der Lyrik wie die Technik des Aufnehmens und Schneidens der Bilder im Film (shots and cuts), wobei das beide Verbindende in der Dichtung wie im Film der Rhythmus ist. Wer das Handwerk der Verskunst aus dem Zusammenhang der kultischen Sinngebung herausreisst, wird mit dem Geschenk der Freiheit belohnt. Der Aufbruch in eine Freiheit ohne jegliche Verbindlichkeit ist das trügerische Geschenk einer Kultur, die nichts so sehr ersehnt wie Autonomie und Ungebundenheit. Benkel stellt die Fragen nach kultureller und nationaler Identität nicht rhetorisch, sondern als drängende Suche; auch nach dem Ich. Durch die Originalität seiner Wortfindungen kann er das Prestige des Schamanen und Geisterbeschwörers noch verwalten. Man muss sich auf dieses Schreiben einlassen, als buchstabiere man mit Benkel die Welt neu. Dann gehen einem Augen und Ohren auf, und viele Zeilen prägen sich nachhaltig ein.

Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern.

Peter Maiwald

Weigoni-Porträt: Jesko Hagen

Gedichte kann man als ästhetische Gebilde wahrzunehmen. In 2017 erschien das lyrische Gesamtwerk von A.J. Weigoni einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren. Auf jedem Cover findet sich ein Original–Holzschnitt von Haimo Hieronymus, den der Künstler direkt auf die Cover gestanzt hat – jedes Buch ist Sammlerobjekt und zugleich Kunstwerk. Dieses Ich ist kein anderer, es ist von Buch zu Buch und zu Hörbuch: A.J. Weigoni. Das Frühwerk Wiederbeatmung, die Trilogie Letternmusik – ein lyrisches Polydram in fünf Akten, Dichterloh – ein Kompositum in vier Akten und Schmauchspuren – eine Todeslitanei, ergänzt durch die Langgedichte & Zyklen: Parlandos, sind erscheinen in einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren, ergänzt durch das auf vier CDs erweiterte Hörbuch. Mit dem Holzschnitt präsentiert Haimo Hieronymus eine Drucktechnik, er hat ihn auf die jeweiligen Cover der Gedichtbände von Weigoni gestanzt. Bei dieser künstlerischen Gestaltung sind Gebrauchsspuren geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover haptisch nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken, die Aura des Handgemachten paßt zum Genre der Lyrik wie ein Handschuh.

In 2021 erschien das lyrische Gesamtwerk von Weigoni in einer TB-Studienausgabe.

 

 

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Leben’n’Werk, das lyrische Gesamtwerk von A.J. Weigoni in einer TB-Studienausgabe. Edition das Labor 2021

Coverfoto von Leonard Billecke

Weiterfühend →

Ulrich Bergmann hat zum Gesang des toten Jünglings eine Einführung verfaßt, sowie das Stück „Der Tod des Empedokles“ neu gelesen und fand ein Gedicht. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben.

Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft.

Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen.