Der Sprache aufs Maul schauen

Zähes Schreiben nährt den Geist. A.J. Weigoni belohnt seine Leser mit Erkenntnisgewinn.

Mischa Kuball

VerDichtung bedeutet für A.J. Weigoni ersetzen, tauschen, überschreiben, eskamotieren, reduzieren, übersetzen, selbst vom Deutschen ins Deutsche. Es ist eine unablässige Durchdringung von Sprachspiel und Gedankengang; eine ganz eigene Sprache, die nichts abbilden will, sich aber ständig mit unserer Alltagssprache verknüpft und für Neubildungen offen bleibt. Das erweitert die Ausdrucksmöglichkeit der deutschen Sprache: Umgangssprachliches mischt sich mit traditionellem lyrischen Sprechen, subversiver Witz mit Albernheiten, Latinismen mit Anglizismen, Technizismen mit sakraler Sprache und antikem Mythos. Jede neue Zeile dient dem Deichbau zur Regulierung anflutender authentischer Stoffmassen. Die Zerbrechlichkeit der Sprache thematisiert Weigoni in immer neuen Anläufen, sie ist in Gefahr zu verstummen, sich des Sinnes zu entledigen, doch sie füllt sich beim Sprechen und beim Hören. Seine poetische Wirklichkeitswahrnehmung ist immer eine subversive Wahrnehmung.

Poethologie des Mündlichen

Weigonis Verfahren in den Schmachspuren ist sprachlich autonom. Diese Gedichte leben aus der Überzeugung, daß man allein mit dem Welt- und Sachgehalt, den Wörter und ihre Verbindungen von sich aus haben, Poesie machen kann. Er versucht sich auf ihre Weise der Frage zu nähern, wie Denken und Sprechen, wie Dichtung und Musik im Lichte von neuronalen Aktivitäten zu begreifen wären. Geist und Körper sind kein Antagonismus, vielmehr führt die Reflexion zum Fleisch. Indem Weigoni die zum Objekt des eigenen Nachdenkens macht, nimmt er das Selbstbewusstsein die Komplexität, die Ambiguität, die Widersprüche, die Unsicherheiten, Schönheiten und Schrecken der Existenz wahr. Wer diese Gedichte hört, sollte sie vorher lesen. Und sich dann beim Hören Zeit nehmen. Viel Zeit. Dabei wird sich das eine Paradoxon doch nicht lösen lassen, daß wir stets nur entweder den einzelnen Knoten betrachten können oder  versuchen das gesamte Netz in den Blick zu nehmen, das sich da zunächst zwischen den Gedichten und weiter zu den vielen anderen Texten spannt. Diese Lyrik verleiht nicht nur dem Denken eine Stimme, sondern auch den Gefühlen und den Phantasien. Die fragmentierte Welt erscheint für einen Moment begreifbar.

A.J. Weigoni weiß, wie man Dichtung zu Klang macht.

Dr. Tamara Kudrjawzewa

Man kann das Hörbuch Gedichte aber auch als fernes Echo auf Niklas Luhmanns Liebe als Passion hören, als ein Kompositum, das zwischen phonetischen, pictografischen und onomapoetischen Formen oszilliert. Ob in phonetischen Gedichten, in Hörspielen oder in Prosastücken, stets hat Weigoni in Wörtern andere Wörter gesehen und gehört und eine kombinatorische Fantasie der ästhetischen Gestaltung in Schrift und Ton entfesselt, die gerade vor dem Hintergrund ihrer Regelpoetik eines nie wird: langweilig. Weigoni reflektiert die dichterische Arbeit und die Materialität der Sprache, es ist nicht die Dissonanz, die seine Lyrik auszeichnet, sondern die Kraft, mit der er diese Dissonanz erzeugt. Er ist nicht nur ein Virtuose der Sprache, er ist ein Meister in der Kunst ständiger Metamorphosen – und blieb sich gleichwohl treu ein Leben lang. Dieser Rezitator verlebendigt und gestaltet Gedichte, verschafft den Zeilen mit seiner Stimmgewandtheit einen Auftritt; bringt sie zum Klingen, zum Schwingen und zur Sprache, und zwar so, dass man sie, so schwierig auch sein mögen, verstehen, mitdenken und vergegenwärtigen kann. Es ist einer Feier der Sprache, der Interpunktion und Intonation, der Überraschung des Doppelpunkts, das Atemholen des Gedankenstrichs; und der Genuss eines Semikolons. Der Kern von Weigonis Rezitation, ist eine Recherche, die der einfachsten und schwierigsten aller Fragen nachgingt: Wie passen Körper und Sprache, Stimme und Physis zusammen?

Beim Komma hebe die Stimme, beim Punkt senke sie. Wer klüger ist als ein Komma, Punkt oder Gedankenstrich, der ist öde, leer und uninteressant.

Rolf Boysen

Die Weltflucht ist ein populärer Topos in der Literatur. Im lyrischen Monodram Señora Nada beschreibt Weigoni eine Melancholerikerin. In dieser Hörspielfassung paart sich ein trügerischer Naturalismus, listig mit einem Wiedererkennungs- und Verfremdungseffekt. Diese bibliophile Erstausgabe ist leider vergriffen, umso erfreulicher ist es, daß dieses Monodram in einer Hörspiel-Version auf dem Hörbuch Gedichte erhältlich ist (Und jüngst in den Parlandos wieder greifbar ist).

Es gibt in der neueren Literatur nicht viele überzeugende Langgedichte. Das Geheul von Ginsberg, Der Untergang der Titanic von Enzensberger – und es ist nicht übertrieben, wenn man in diesem Zusammenhang auch das lyrische Monodram Señora Nada von A.J. Weigoni erwähnt, vielleicht das faszinierendste deutschsprachige Langgedicht der letzten Jahre.
Axel Kutsch

Es gibt viele großartige philosophische Poeme, politische Oden, geistreiche Epigramme. Und so weiter. Aber wer Gedanken mitteilen möchte, der kann ja Artikel schreiben oder Interviews erteilen oder Essays verfassen. Von Gedankenlyrik will A.J. Weigoni nichts wissen, das Pädagogische ist seine Sache nicht, der Gestus des Agitators ist ihm so fremd wie der Ehrgeiz des Aufklärers. Bei Señora Nada provoziert Weigoni, mit einem stream-of-consciousness durch Inhalte, und nicht durch Dolby-Surround. Darin wird er von Tom Täger begleitet mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition zu Señora Nada ist durchsetzt mit minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Der Poesiebegriff mutiert von der Textgattung zum Klangerlebnis. Dies verdeutlicht auch die Hörspiel-Inszenierung der Regisseurin Ioona Rauschan, ihre Deutung ist texttreu, eine Texttreue, die bis zwischen die Zeilen geht. Diese Inszenierung ist so intensiv, man hat den Eindruck, als könnten Worte Wellen schlagen.

Wesentlich dazu trägt die Schauspielerin Marina Rother in der Rolle der Señora Nada bei. Sie interpretiert ihre Rolle so leise, klar und eindringlich, dass der Text einerseits zum Bild wird, anderseits zu Sprachmusik von schmeichlerischer Sinnlichkeit. Ihre Stimme ist ein sonderbar unfestes Element in ihrem Spiel. Hören wir eben noch den silbern, fast singenden Ton, so ist er im nächsten Augenblick um ein jähes Intervall abgesenkt zu einem kehligen, zuweilen ordinären Schall. Die schnell wechselnde Stimmlage ist keine Koloraturgeste, sie gehört zum Repertoire der dialogischen Bindungsstärke, die diese Sprecherin vor so vielen anderen auszeichnet. Ihre bruchstückartigen Bekenntnisfragmente laden zu einer intellektuellen und geistigen Nähe ein. Die lyrische Rede vollzieht sie als eine Form von Rollenrede.

Die Letternmusik ist ein im ontologischen Sinn strikt nihilistischer Hörtext. Dass wir es zugleich mit einer hoch artistischen Demonstration, einem verbalen Theaterspiel zu tun haben, wird nicht zuletzt signalisiert durch die Einteilung der Texturen in fünf Akte mit musikalischer Bezeichnung der jeweiligen Tempi und Stimmungen, ausgezeichnet vorgetragen vom Autor.

Prof. Dr. Franz Norbert Mennemeier

Wir nehmen das Sezieren oder Tranchieren von Wörtern wahr. Wetzte Weigoni bereits bei Lettermusik im Gaumentheater Silben und Konsonanten so scharf, dass Schere unweigerlich Papier schneidet, so läuft er bei Dichterloh zur geahnten Höchtform auf. Seine Lyrik ist auf der Höhe der Zeit, der poetologischen Kern wird in diesem Kompositum offenbar: das Abwesende beschreibbar zu machen, indem es als semiotisch umschlossene Leere erscheint, die das Anwesende imaginiert. Weigoni nutzt die sprachlichen Konventionen zu, um sie gleichsam zu desavouieren und dem individuellen Sprechakt anzuvertrauen. Er gestaltet dieses Kompositum in vier Akten zu einem ‚Ohr-Ratorium’ und beweißt bei Dichterloh ein feines Gespür für Timing und die richtige Tonlage. Auf alle melodischen Reize von außen antworten er mit der persönlichen Melodie, aktive Aufnahme. Hier wird aus Klang und Inhalt eine Kombination gewoben. Gedichte sind eindrückliche Beiträge zur memorialen Funktion von Literatur, als aufbewahrendes Gedächtnis.

 Weigoni und  Täger spüren der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach.

Dr. Christiane Schlüter, Buecher-Wiki

Diese Lyrik feiert die Musikalität der Sprache. Wir finden auf diesem Hörbuch alles, was mnemotechnisch war, also Reim, Rhythmus, Klanglinien, das sind Erinnerungsstrukturen, was eigentlich nicht mehr nötig ist, weil man es auch als Buch gedruckt vor sich. Trotzdem ist es nicht aufgegeben worden, und wir haben die Situation, dass, wenn man einen Lyrikband hat, man eigentlich so etwas hat wie die Partitur eines Musikstücks. Und dazu braucht es ein Instrument. Und das ist im Falle der Lyrik die menschliche Stimme, die das wunderbar transportieren kann, und schon geht es vom Körper ins Ohr. Wenn Weigoni hinter ein Mikrophon tritt, schafft er sofort Platz für die Sprache. Sie bekommt von ihm Körper, Gestalt, Wucht, Melodie, Tragik, Sehnsucht, Hochmögenheit, Sturmgebraus und Dunkelruhe. Entstanden ist ein Werk von luzider Strenge und ludistischer Scharfsinnigkeit, das nie die Realität aus den Sinnen verloren hat. Diese Medienkombination sichert diesem Sprechgestenspieler unstreitig den Rang als einer der wesentlichen deutschen Gegenwartslyriker. Der Kollege Hagedorn und ich sind uns einig, den Hörbuchpionieren Täger und Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben. Wieder erschienen sind die Gedichte in der Reihe Ohrenzwinkern, eine zeitgenössische Form, über Kunst- und Literaturgeschichte nachzudenken. Die formschönen DVD-Hüllen sind eine Zierde für jedes Bücherregal. Damit zusammenkommt, was zusammen gehört.

 

 

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Schmauchspuren, Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Original Holzschnitt, direkt auf das Cover gedruckt von Haimo Hieronymus

Weiterführend →

In 2015 erschien der Band Schmauchspuren. Als Forensiker der deutschsprachigen Lyrik anerkennt Jo Weiß diesen Lyriker. Das Dichten als Form des Denkens erkennt Erik Lauer. Holger Benkel betrachtet die Schmauchpoesie von Weigoni. Eine Übersetzung des Gedichts Ichzerlegung eines Wesensfallenstellers durch Lilian Gergely finden Sie im Literaturmagazin Transnational No.3 Die Schmauchspuren sind als Einzelband vergriffen und nur noch im Schuber erhältlich. Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen.

Juliane Rogge über die Symbiose der Gattungen Lyrik, Musik und Tanz. Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren und von An der Neige in der Reihe MetaPhon. Eine eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung. Lesenswert auch VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, einen Essay von A.J. Weigoni über das Schreiben von Gedichten.