Arrièregarde

 

´Gibt es den Underground noch oder ist er nicht längst im Mistkübel der Geschichte gelandet?`, fragte sich anläßlich des 25. Todestages von Josef „Biby“ Wintjes nicht nur KUNO, sondern – im erweiterten Sinn – auch die „perspektive : hefte für zeitgenössische literatur“, eine Grazer Literaturzeitschrift, die kontinuierlich seit 1977 erscheint. Die Redaktion um Silvia Stecher, Ralf B. Korte und Nora Tunkel der perspektive nummer 100\101 stellte mit folgendem Teaser eine vollmundige These in den Raum:

die von den avantgarden des vorjahrhunderts aufgeworfene infragestellung des autonomie-status von kunst sowie die forderung nach künstlerischer durchdringung der lebenswelt und aufhebung der differenz zwischen leben und kunst blieben großteils unrealisiert oder wurden zu vermarktbaren versionen des kulturschaffens geschrumpft. dieses schaffen stellt sich sodann in dienst: füllt lücken des selbstverständnisses der sich noch in bildung meinenden schichten einer auseinanderfallenden gesellschaft. nachahmung des verbürgten tritt an die stelle von erkundung des möglichen. verniedlichung und rebranding revolutionärer momente ermöglichten den erfolgreichen einzug neo-avantgardistischer praktiken in die institution kunst / literatur; anwendungslos gewordene verfahren mutieren zu schönen beispielen avancierten schreibens. belege des schönen in unschöner zeit? wozu (also noch) literatur?

Der Inhalt der Zeitschrift perspektive setzt sich vorwiegend aus deutschsprachiger Literatur zusammen. Dieses Lit.-Mag beschäftigt sich mit der Entwicklung eines Literaturbegriffs, der sich aus den klassischen Avantgarden und Neo-Avantgarden speist. Hierbei „befaßt sie sich – zeitgenössisch – mit dem Avantgardethema, ist weder ‚Museumswärterin‘ für historische, noch Küstenwache‘ für Neoavantgardebewegungen“ In der deutschsprachigen Literatur stellt perspektive eine „singuläre Zeitschrift“ dar. Das Selbstverständnis der perspektive-Herausgeber zielt auf Distinktion sowohl in bezug auf den mainstream des Literaturgeschäfts als auch in bezug auf avancierte literarische Teildiskurse wie z. B. jenen der sogenannten „experimentellen Literatur“. Inzwischen sind die Ausgaben 100 und 101 erschienen und die Frage darf erlaubt sein, ob es sich hierbei nicht um Aufräumarbeiten einer Arrièregarde handelt. Dort, wo die geistige Avantgarde einst ihren Sitz hatte, bewegen sich offensichtlich nun die Vertreter der geistigen Nachhut. Das Thema der aktuellen Ausgabe lautet:

Wozu (noch) literatur?

Der „Listenschreiber“ Clemens Schittko hat für die perspektive Ausgabe 100\101 unter Zuhilfenahme einer amerikanischen Suchmaschine eine Art „Gegen-Kanon“* erstellt:

 

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perspektive : hefte für zeitgenössische literatur, nummer 100\101. Herausgegeben von Silvia Stecher, Ralf B. Korte und Nora Tunkel. Graz 2020

 

* Nach der VÖ  hat der „Listenschreiber“ in einem sogenannten sozialen Netzwerk nachgelegt: „Ich entschuldige mich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die ich vergessen habe, zu erwähnen.“ Selbstverständlich gehört zum menschlichen Dasein die Frage: „Was wäre gewesen, wenn?“ Meist enden solche Überlegungen nach wenigen Sekunden, kaum zu bändigen ist schließlich die Vielfalt der sich plötzlich entfaltenden Möglichkeiten. Die Frage sollte daher nicht lauten, wer dieser Liste noch hinzugefügt werden sollte, sondern eher:

Wer gehört nicht dazu?

 

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.