Wo man in diesem deutschen Herbst auch hinschaut, man registriert eine Unterwerfung unter falsche Logiken, intellektuelle Hasenfüßigkeit. Jede Gegenwart braucht jedoch Erzählungen, um nicht der Banalität anheimzufallen. Die Deutschen Schriftsteller bleiben unter ihren Möglichkeiten, in einem erklärbaren Ausmaß. In Neuss-Holzheim ist Enno Stahl nicht auf den Holzweg geraten. Er stellt aus dem Hinterland interessante Fragen:
Warum ist realistische Literatur oft nur pseudorealistisch und die sogenannte Popliteratur lediglich ein erfolgreiches Marketingprodukt?
In drei Kapiteln analysiert der in Siegen zum Dr. promovierte Enno Stahl – teils kritisch und konfrontativ, teils verwundert – die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen, die Politik unserer Zeit und die (seiner Analyse nach, fehlende) Auseinandersetzung damit in der deutschen Gegenwartsliteratur. Er untersucht eine Generation, die geprägt ist von den politischen Aktivisten der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts, die sich geschworen hatten, die Fehler der vorangegangenen Generationen nicht zu wiederholen.
Wir überlassen den Markt den Amerikanern, beten sie an wie Gottheiten und sagen dann: Das können wir nicht, da haben wir kein Geld für. Nein: Wir haben keine Phantasie, keinen Mut, und wir können das nicht, weil wir noch alle rechtzeitig unsere Pensionen erreichen wollen. Risiken sind da gefährlich.
Leander Haußmann
Stahl betrachtet eine Mosaiklinke, die irgendwie zusammengehört, aber ganz sicher auch irgendwie nicht, darunter u. a. Christian Kracht, Ernst-Wilhelm Händler und Juli Zeh mit ideologiekritischer Verve, analysiert die sich selbst so etikettierte ‚Social-Beat‘-Bewegung, den US-Import ‚Poetry-Slam‘ und die Anfänge des deutschen Punk im Ratinger Hof in Düsseldorf (siehe auch den KUNO-Artikel von Die neue deutsche Wanderdühne. Atrappe einer Kulturgeschichte von neulich. von Peter Glaser), fast möchte man hinzufügen: Verschwende Deine Thesen.
Was das Literarische angeht, weiß ich nicht, ob politisch das angemessene Wort ist. Es ist nicht alles richtig, nur weil man sich selbst für politisch hält.
A.J. Weigoni auf KUNO.
Warum begehren die Menschen weltweit auf, nur nicht in Deutschland, wo doch um die Jahrtausendwende gleichfalls eine globalisierungskritische Aufbruchstimmung herrschte, fragt sich Stahl in Diskurspogo und thematisiert die Ausbeutung in der heutigen Arbeitswelt, die katastrophale Lohnsituation bis hin zum Schlafentzug. Diese wird nach seiner Analyse in der Gegenwartsliteratur kaum thematisiert, da Erwerbsarbeit hier keine Rolle zu spielen scheint. Demgegenüber entwickelt Stahl eine Programmatik, in der er zeitgenössisches literarisches Engagement fordert, eine Literatur, die sich den gesellschaftlichen Aporien stellt. Mit Palais Schaumburg könnte man hinzufügen: Zeit für einen Neubau.
Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.