Nornkonformismus in Bern

Die Figur dieses klassischen Antihelden ist auch deshalb ein gelungener Kunstgriff, weil durch sie die Schattenseite des Nonkonformismus vorgeführt und dadurch der Gefahr einer Verklärung entgegengearbeitetet wird.

Reto Sorg

 

Der Nonkonformismus der sechziger Jahre: Jugendszenen haben literarische Ambitione, in den Kellern der Berner Altstadt entstehen Lese- und Diskussionspodien, so die legendäre ‚Junkere 37‘. Sehr zum Ärger des Establishements, das die ‚Keller-Poeten‘ als ‚Nonkonformisten‘ beschimpft. Diese verstehen das als Ehrentitel und beginnen fortan, laut und deutlich gegenzureden – an heissen Themen fehlt es nicht: die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, das bernische ‚Asozialengesetz‘, die Expo in Lausanne. Man demonstriert in Ins und Witzwil gegen die Inhaftierung von Militärdienstverweigerern, trifft sich konspirativ am Bieler See, povoziert den Burgdorfer Literaturskandal, hisst die Vietconflagge auf dem Berner Münster.

Als kundiger Führer duch den non-komformistischen Untergrund fungiert der Gammlerpoet René E. Mueller. In seiner Kindheit wurde er als Unerziehbarer administrativ versorgt. Von 1934 bis 1982 stand er unter Vormundschaft. 1959 lernte er Friedrich Dürrenmatt im Berner Atelier-Theater kennen, wo Mueller als Inspizient arbeitete. Dürrenmatt und Dieter Bührle unterstützten seine schriftstellerischen Tätigkeiten. Er wurde als Kenner des Berner nonkonformistischen Untergrundes bekannt. Auf seinem Weg durch die Sechziger Jahre hat er als Bürgerschreck kein Fettnäpfchen ausgelassen.

René E. Mueller von Boltigen im Simmental hat wohlweislich die Schweiz verlassen. Seine Lebensführung stiess auf Schwierigkeiten. Einige seiner Gedichte sind gut. Vielleicht sogar viele. Der Roman, von dem er mir freilich nur berichtete, klingt elementar. Das Wort Dichter liebt er nicht. Wenden Sie es deshalb bei ihm nicht an.

Friedrich Dürrenmatt

Für die Recherchen zu seinen beiden Büchern „Begerts letzte Lektion: ein subkultureller Aufbruch“, 1996, und „Muellers Weg ins Paradies: Nonkonformismus im Bern der sechziger Jahre“, 2001, hat Fredi Lerch ein umfangreiches Dokumentationsarchiv („Nonkonformismus-Archiv„) angelegt, das unter anderem den erhaltenen Teil des Nachlasses von René E. Mueller (1929-1991), der seit den frühen sechziger Jahren von Friedrich Dürrenmatt finanziell unterstützt worden ist, und viele weitere Originaldokumente, insbesondere Unterlagen der verschiedenen Veranstalter alternativer Literaturveranstaltungen enthält (Kerzenkreis, Junkere 37 u.a.). Das Archiv dokumentiert die literarischen Strömungen in der Subkultur Berns, exemplarisch für die ganze Schweiz, von den 1950er bis in die frühen 1970er Jahre.

 

 

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Muellers Weg ins Paradies. Nornkonformismus im Bern der sechziger Jahre, von Fredi Lerch. Rotpunktverlag, Zürich 2001

Weiterführend

Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.