Wörter sind Wind in Wolken

 

HEIKE SMETS
LANDSCHAFT

Mal mit dem Fahrrad
die Mohnblüte rauf.
Oder lieber laufen.

 

Immer wieder begegne ich nun – nachdem ich vor einiger Zeit Wörter sind Wind in Wolken zu einem Vers gefügt habe – dem Wind, den Wolken, den Wörtern in den Gedichten, heute erst in Ernst Stadlers Gedicht „Worte“, das seinen Band Der Aufbruch einleitet, und ich bin ihnen ja, seit ich Gedichte lese, immer schon begegnet, denn schier allgegenwärtig sind diese mit dem sinnlichen bilabialen Reibelaut beginnenden Wörter in der Lyrik – zu allen Zeiten und an allen Orten: Wen wundert’s? Allerdings habe ich mir schon die Augen gerieben, als ich am 4. Mai 2000, einen Tag nachdem ich diesen ersten Abschnitt schrieb, Jürgen Beckers über 700 Seiten dicken Band Die Gedichte (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995) irgendwo in der Mitte aufschlage und die folgenden Verse lese:

 

Wohin mit den Wörtern
pausenlos das Gesprochene verschwindet in der Luft
der Wind nimmt Grammatik und Syntax auf
der Zug der Wolken verwischt
zwischen Westen und Osten den Satzbau
im Regen kommt wieder
zurück das Geräusch vieler Sprachen
der Hagel erinnert an die Rede im Zorn
weiterhin bleibt der Schnee was er ist
ein Bote aus den Gebirgen
wohin mit den Wörtern und wo
bleibt die Sammlung der Zeichen
zum Wiederfinden, Wiedererkennen der Sprache
zum Austausch der Sätze
Fische und Vögel
und alle Tiere fragen so nicht

 

Soviel abschließend zu der Frage, wer nun wohl zuerst da gewesen sei, Henne oder Ei. 19 Dichterinnen und Dichter sowie 3 Künstler sind dem Aufruf gefolgt, Blätter für Wörter sind Wind in Wolken einzureichen. Daß von 24 eingeladenen Lyrikern 19 bereit sein würden, die harte Arbeit des 37maligen Schreibens (und das auch noch mehrfach) auf sich zu nehmen, war nicht unbedingt zu erwarten, erfüllte den Herausgeber also mit ziemlicher Freude. Herausgekommen ist dabei eine vielsprachige Dichterversammlung, die sich aus allen möglichen Jahrgängen bzw. (Himmels-)Richtungen zusammensetzt, die ich Ihnen kurz vorstellen möchte:

Hans Bender (*1919, lebt in Köln) hat sich seit einigen Jahren den Vierzeilern verschrieben, von denen er uns hier vier zur Verfügung stellt. Während der Jahrzehnte seiner akzentesetzenden Herausgebertätigkeit (beinahe unüberschaubar ist die Menge der Publikationen von Anthologien, Reihen und Zeitschriften) hat Bender viele, viele lyrische Talente entdeckt und gefördert und dafür mehr und mehr auf die Niederschrift eigener Gedichte verzichtet. Allerdings sind, was mancher Leser möglicherweise nicht weiß, mehrere Gedichtbände seit 1951 erschienen.

Walter Helmut Fritz (*1929, lebt in Karlsruhe) verfügt über eine der feinsten Lyrikstimmen im deutschsprachigen Raum, deren Intensität und Präzision beim Lesen tiefe Spuren in den lyrischen Gängen meines Gehirns hinterläßt. Mit seinen zahlreichen Gedichtbänden (darunter zwei Bände Gesammelte Gedichte) ist er einer der wesentlichen Bausteine im Bauhaus der Poesie.

Günter Kunert (*1929, lebt in Kaisborstel) gehört seit seinem ersten Gedichtband von 1950 zu den unentwegten Lyrikern, die sich darum bemühen, dem alltäglichen (unerträglichen) Zeitungsbrei beständig neue und originelle (kristalline) Wortformen entgegenzusetzen, die mit dafür sorgen, daß Sprache vorläufig noch am Leben bleibt. Dabei gelingt es Kunert immer wieder, aus negativen Nachrichten Gedichte zu machen. Und ich behaupte einmal kühn: Wer Gedichte macht, ist, um mit Thomas Bernhard zu sprechen, „naturgemäß“ Optimist (weshalb schriebe er sonst?) und somit ein Mensch, der anderen Menschen Zuversicht vermitteln kann – auch bzw. gerade mit: Elegien.

Aldona Gustas (*1932, lebt in Berlin) hat über 20 Lyrikbände seit 1962 publiziert: Aus ihren zumeist sehr kurzen Gedichten, die immer wieder mit unverhofften Überraschungen aufwarten, strahlt eine herrliche Lebendigkeit, die mich begeistert, ja: begeistert, immer wieder: begeistert. Ich habe bislang über dieses Wort nie so bewußt nachgedacht wie jetzt: es hat urplötzlich einen eigentümlichen, einmaligen Klang und steht vor allen anderen Wörtern vor meinem geistigen Auge, das begeistert zuhört.

Ursula Sachau (1934-2000) ist in erster Linie durch historisch-biographische Romane bekannt geworden, hat daneben aber auch, natürlich, immer wieder Gedichte geschrieben. Welcher Schriftsteller wollte im innersten seiner schreibenden Seele nicht Lyriker sein (oder wie sehen Sie das, Herr Walser?). Ein solcher ist – durch und durch, bin ich geneigt zu sagen –

Peter Will (*1942, lebt in Berlin), der nach 1989 endlich zu (bislang drei) poetischen Publikationen kam, die ihm davor untersagt waren. Ruhig, aber unmißverständlich im Ton, geben mir Wills Gedichte in jedem Vers zu denken.

Bert Brune (*1943, lebt in Köln) ist für mich der Lyriker, der mir mit seinen Gedichten die Leichtigkeit des Seins vermitteln kann, die ich im Alltag allzuoft vermisse. Seine Gedichte verlegt er aus Freude am Büchermachen immer wieder selber. Darüber hinaus ist unbedingt zu erwähnen, daß er der Stadtwanderer unter den Dichtern ist, der – welch wunderbar anachronistisches Bild – seine Gedichte oft noch in Cafés schreibt. Hören wir hierzu Henry Miller: „Along the Champs-Elysées, ideas are pouring from me like sweat. I ought to be rich enough to have a secretary to whom I could dictate as I walk because my best thoughts always come when I am away from the machine.“ (The Tropic of Cancer).

Frieder Döring (*1942, lebt in Troisdorf) ist nicht nur Autor, sondern auch Verleger: In „seinem“ Wolkenstein Verlag erschien 1999 Ohne Punkt & Komma, in dem ich auch einen der vier Lyrikbände von Frieder Döring vorstelle: mit prallem Leben gefüllte Gedichte, die auch das Lied (Leid?) der Sehnsucht singen.

Axel Kutsch (*1945, lebt in Bergheim) gehört mit der Herausgabe von über 20 Sammelbänden zu den fleißigsten Lyrikanthologisten seit den 1980er Jahren, und ein Ende ist erfreulicherweise nicht abzusehen. Daß seine lyrische Produktion darunter offenbar nicht gelitten hat, beweisen die mittlerweile acht mit spitzer Feder verfaßten Gedichtbände, aus denen hier drei Kostproben zu lesen sind.
Joachim G. Hammer (*1950, lebt in Edelstauden) gehört mit elf publizierten Gedichtbänden ebenfalls zu den Lyrikern mit mehr als drei Lesern. Ob es noch 1000 „waschechte“ Lyrikleser gibt? Und ob diese den einen oder anderen Band des Österreichers Hammer kennen? Wenn nicht, sollten sie das vielleicht ändern und auf Gedichte treffen, die nachklingen.

Norbert Scheuer (*1951, lebt in Keldenich/Eifel) hat sich mit seinem bislang einzigen Gedichtband Ein Echo von allem (übrigens von Hans Bender herausgegeben!) in die Gemüter einiger der eben angesprochenen Lyrikleser geschrieben: Bitte lesen Sie in dem langen Essay in Ohne Punkt & Komma nach, was es zu Norbert Scheuers Gedichten sonst noch zu sagen gibt. Our special guest from abroad is

Guido Vermeulen (*1954, lives in B-Brussels) with whom I have been in artistic contact via the mail art network since 1993. Guido makes (visual) poetry in different languages (not in German!) and I am happy to present him here among the German writing poets. In 1996 he edited the lyrical anthology Signs & Stones in the Moonlight (in which I published an English poem) which he dedicated to Federico García Lorca. In the preface of that beautiful book Vermeulen writes: „Poets have become aliens.“ (And that’s that!).

Siggi Liersch (*1954, lebt in Walldorf) schreibt in seinem Begleitbrief zu den Gedichten: „Manchmal der Gedanke: jetzt nur nicht verschreiben! Ich begann, über die Zeilen hinwegzuträumen, aber dann merkte ich rasch, daß ich nicht mehr weiterschrieb. Da kommt kein Computer mit beim Handüberschreiben, beim Handweiterschreiben. Gedanken, die sich nicht beim platten Befehl Entfernen einstellen. Eine andere Automatisierung.“ Liersch kann zwar keinen lyrischen Einzeltitel vorweisen (1997 erschien ein Band mit Kurzprosa und Collagen), gehört aber seit Jahren zu den Bild und Wort collagierenden Beiträgern der Künstlerbücher und Zeitschriften, die sich in erster Linie der kosmographischen Poesie widmen. Daß diese auch eine meiner Leidenschaften ist, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Als 1956 geborener und in Sistig im Nationalpark Eifel lebender Theo Breuer schätze ich mich glücklich, seit Beginn der 90er Jahre inmitten dieses Netzwerks, aus dem ich mit diesem Buch ein paar Maschen vorstelle, mitzulesen und mitzuschreiben.

Norbert Sternmut (*1958, lebt in Asperg) hat in seinen bislang 9 zwischen 1984 und 1998 erschienenen Gedichtbänden immer wieder die sinnliche Kraft seiner Lyrik aufblitzen lassen. Er ist ein Dichter mit langem Atem, dessen Gedichte sich nicht selten über Seiten hinziehen.Frank Milautzcki (*1961, lebt in Klingenberg) holte ich mit der Einladung zu diesem Buch aus einer längeren Versenkung. Er erstaunt immer wieder mit taufrischen Versen, von deren Zauberton ich mich gern verführen lasse. Er hat einmal Gedichte in Akzente veröffentlicht, aber der erste Gedichtband läßt auf sich warten: nicht mehr lange allerdings, denn in der edition bauwagen soll es 2001 soweit sein.

Heike Smets (*1967, lebt in Kreuzau) lernte ich zu Beginn des Jahres 2000 kennen, als sie mir unverlangt Gedichte zusandte – mit der Bitte um eventuelle Stellungnahme. Es war ihr erster Schritt in die „Öffentlichkeit“. Der anmutige Grundton der Gedichte von Heike Smets sprach mich unmittelbar an, und demnächst bringen wir ihren ersten Lyrikband in dieser Reihe.

Andreas Noga (*1968, lebt in Alsbach) hat sich der kurzen lyrischen Form verschrieben und zeigt in letzter Zeit auch die Tendenz zur kreativen Auseinandersetzung mit Vorbildern. Eins seiner hier auf handkoloriertem Papier geschriebenen Gedichte zeugt davon: „ottos mops“ gehört zu den unvergänglichen Gedichten Ernst Jandls, der uns in diesen Tagen in die ewigen lyrischen Jagdgründe vorausgegangen ist und als einer der großen Lyriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Lyrikgeschichte eingeht.

Günter Vallaster (*1968, lebt in Innsbruck) schreibt in erster Linie „experimentelle“ Lyrik konkreter, visueller, kosmographischer Natur. Um seine Wort- bzw. Stabenspiele poetisch umzusetzen geht er jedes Risiko ein. Zu seinen Texten für dieses Buch schreibt er: „anbei 3 x 37 texte, in denen ich durch die weiße papierdecke (oder durch die weiße papiereierschale: eins(t), ein(st), ei(nst):) das blaue vom himmel zu kratzen versuchte…“ Engagiert bis in die Haarspitzen, ist er ein Autor, der konsequent seinen Weg geht und dabei auch sehr genau wahrnimmt, was um ihn herum geschieht: 2001 wird er mit dem Erscheinen seines ersten Gedichtbandes belohnt. Mittlerweile zeigt der Kalender bereits den 12. Juni 2000 an, und sämtliche Beiträge sind ins Haus geflattert. Vor ein paar Tagen entdeckte ich in Peter Webers Kölner Antiquariat das Buch Die Pflugspur (Hegner, Köln 1952) von Julius Overhoff, der mit den Versen aus dem Gedicht „Zwei bei der Lampe“ das letzte Wort in Wörter sind Wind in Wolken hat:

Einsilbig wurde der Wind
und läßt seine Wolken,
die tags gejagten,
stehen auf gilbenden Wiesen
des Himmels
am Tore der Nacht.

 

 

* * *

Wörter sind Wind in Wolken, edition bauwagen 2000

Erste handgeschriebene Anthologie mit Gedichten von Hans Bender, Theo Breuer, Bert Brune, Frieder Döring, Walter Helmut Fritz („VERMUTUNG // Wenn er unbeobachtet ist, / glaubt dieser Stein / (er wandert dann wahrscheinlich umher) / eine Schildkröte zu sein.“), Aldona Gustas, Joachim G. Hammer, Günter Kunert, Axel Kutsch, Siggi Liersch, Frank Milautzcki, Norbert Scheuer, Andreas Noga, Ursula Sachau, Heike Smets, Norbert Sternmut, Günter Vallaster, Guido Vermeulen, Peter Will, originale Linolschnitte von Karl-Friedrich Hacker und Bernd Reichert, bleigesetzte Textcollagen von Hendrik Liersch, Nachwort von Theo Breuer, 37 signierte und numerierte Exemplare, 64 unpaginierte Seiten.

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

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Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.