Werkstatt für potenzielle Literatur

Kein Spiel funktioniert ohne Regeln

Im Jahre 1960 gründeten französische Literaten (die Werkstatt für potentielle Literatur (Ouvroir de littérature potentielle, abgekürzt Oulipo) als eine lose Vereinigung in Paris. Hier treffen sich Vertreter potentieller Literatur zu Gedankenaustausch und veranstalten Lesungen im „Auditorium du Forum des Images“. Mitglieder sind bzw. waren unter anderem François Le Lionnais, Marcel Duchamp, Claude Berge, Georges Perec, Hervé Le Tellier, Jacques Roubaud, Marcel Bénabou, Harry Matthews, Italo Calvino, Raymond Queneau und Oskar Pastior als einziges deutschsprachiges Mitglied.

Grundgedanke der potentiellen Literatur ist es, den Regeln der Sprache erfundene, aber auch wiedergefundene Regeln gegenüberzustellen. Dabei werden auch Regeln verwendet, die schon seit Jahrhunderten in immer wieder verschiedenen Kontexten in Gebrauch sind.

Nur wer spielt, kennt den Widerstand der Regel – und den Widerstand gegen die Regel, formuliert Oskar Pastior ein weiteres Motiv zur Arbeit mit Regeln. Der Satz „Kein Spiel funktioniert ohne Regeln“ wird von den Vertretern potentieller Literatur auf das literarische Schaffen angewendet: Zunächst wird eine Regel vorgegeben, die eine sprachliche oder auch eine mathematische Vorgabe sein kann. Dann wird darauf aufbauend das Gedicht oder der Essay erstellt.

Ein Prototyp für diese Art von Literatur sind die Hunderttausend Milliarden Gedichte von Raymond Queneau: zehn Sonette, in denen alle Verse miteinander kombiniert werden können.

Beispielhafte Werke, die dieser Idee folgen, sind unter anderen:

La disparition (deutsch: Anton Voyls Fortgang) – Roman von Georges Perec – verwendete Regel: Es kommt kein einziges Wort vor, das den Buchstaben e enthält. Von Georges Perec existiert auch ein monovokales Buch mit dem Titel Les Revenentes (deutsch: „Dee Weedergenger“, übersetzt von Peter Ronge), in dem als Vokal nur das e verwendet wird.

Oskars Moral, von Ilse Kilic. Ritter Verlag 1999. Verwendete Regel: Die Personen dürfen nur Dinge tun oder sagen, für die sie als Vokale nur jene in ihren Namen enthaltenen benötigen. Treffen sich mehrere Personen in einem Satz, gelten die Vokale aller Namen, und es erweitert sich somit der Wortschatz der Personen.

Als Fragmenttexterin spielt Angelika Janz mit der Ergänzungsleistung des Lesers / Betrachters. KUNO schätzt sie dafür, weil ihre Fragmenttexte sowohl in Print als auch online funktionieren.

Die zwischen 1991 und 1995 entstandenen Top 100 von A.J. Weigoni bilden den Höhepunkt und die wahre Sprengung der sogenannten Pop-Literatur. Stellen Sie vor dem Einschalten des CD–Players die Funktion ›Random‹ oder ›Shuffle‹ ein. Der Zufallsgenerator komponiert dann das eigentliche Hör–Spiel. Das chrono­logische Abhören von Top 100 ist aus künstlerischen Gründen nicht gestattet. Am Ende wird Top 100 ein Ganzes, das wiederum in seine Teile zerfällt. Das Hör-Spiel kann von neuem beginnen.

 

 

 

Top 100 bildet den Höhepunkt und die wahre Sprengung der sogenannten Pop-Literatur.

Weiterführend

Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.