Leben’n’Werk, eine Verlustanzeige

Auch ich werde sterben, und meine Werke werden verschwinden; es hat sich gelohnt, sie zu schaffen, aber es ist überflüssig, sich ihretwegen Sorgen zu machen. Sie leben ihr eigenartiges Leben, wie und solange sie es können.

Imre Kertész

Selbstironie pur, der rheinische Ungar A.J. Weigoni im Trikot von Helmut Rahn – Photo: Jesko Hagen

A.J. Weigoni gab der Lyrik das Sprechen zurück, ihre Entschiedenheit und Schärfe, ihren Charme und Witz. Er war kein dichtender Denker, sondern ein nachdenklicher Dichter. Ihn hat nicht die Philosophie interessiert, wohl aber die spartenübergreifende Zusammenarbeit mit Künstlern wie Tom Täger, Peter Meilchen und Haimo Hieronymus fasziniert. Diese Artisten arbeiteten mehrperspektivisch und interdisziplinär, sie betrieben mit der Literatur, assistiert von den Schauspielern Marion Haberstroh und Kai Mönnich, eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, und setzen Elemente der Minimalmusik ebenso ein, wie die des Jazz. Wie man einem Kollegengespräch entnehmen kann, hat eine frühe Erfahrung den Lyriker Weigoni – im wahrsten Sinne des Wortes – geprägt, sein erstes taugliches Gedicht hat er mit beweglichen Lettern in einer Druckerei selbst gesetzt und gedruckt. Er kam später darauf zurück. Bei der künstlerischen Gestaltung des Lyrik-Schubers waren Gebrauchsspuren geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover haptisch nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken, die Aura des Handgemachten paßt zum Genre der Lyrik wie ein Handschuh.

Die Zeit wird erlebt wie etwas, das man ausscheidet.

Michel Butor

Coverphoto: Leonard Billeke

Die Herkunft bestimmt nicht unweigerlich die Zukunft. Weigoni kam nicht nur aus einfachen Verhältnissen, er verfügte über die Gnade der Geburt, ein waschechtes Proletarierkind zu sein. Seine Seele hat diese Herkunftsscham nie ganz überwunden und er litt bis zum Ende daran. „Der Habitus präzisiert die Herkunft“, schrieb Pierre Bourdieu. Schreiben war für diesen Romancier eine Haltung zur Welt. Das Überschreitungsmoment trieb ihn an, er wurde hinausgetrieben über die Grenzen seines Ichs in Regionen, die ihm unbekannt waren und in denen er sich transzendieren konnte. Schreiben hatte für ihn mit einem Erkenntnisvorgang zu tun, mit einem Versuch, Welt zu versprachlichen, die ihm davor stumm und rätselhaft war. In seinem Werk verdichten sich Erfahrungen, die auf Umbrüche der Zeit zwischen dem Untergang der alten BRD und den Beginn der Globalsierung verweisen: der Zerfall ökonomischer Sicherheiten, die Erosion der Familie, die schroffe Entwertung tradierter Geschlechterrollen. Die Sprache spielt für ihn eine große Rolle dabei, Herrschaftsverhältnisse zu entlarven. Er hat von sich selbst nie viel Aufhebens gemacht, kaum gibt es einen Lyriker, der so selten Ich sagt. Es war eine frei gewählte Aussenseiterposition, Weigoni war ein Geheimtipp und erfolglos im Sinne von nicht populär.

Die Fiktion ist an Plausibilität gebunden, die Wirklichkeit nicht.

Emmanuel Carrère

Eine Künstlerbiographie ist selten eine gelungene Geschichte. Hier wird ein Schriftstellerleben gewürdigt, das in schönster Eigensinnigkeit und jenseits literarischer Moden voran geschritten ist. KUNO erinnert an eine künstlerische Autonomwerdung, die aus einer Kultur des Überlebens schöpfen mußte. Nach einen Autounfall durch eine Nahtoderfahrung in den 1970-er Jahren auch durch äußerliche Narben geprägt, thematisierte Weigoni seine eigene Begrenztheit, sein Zusammentreffen mit der eigenen Vergänglichkeit, mit seinem Tod. Pointiert ließe sich formulieren, daß Weigoni mit allen seinen Büchern und Hörbüchern an einem einzigen großen Text schrieb. Seit 1975 erkundete er als Archäologe des modernen Bewußtseins in Gedichten, Hörspielen, Erzählungen und Romanen die psychischen Deformationen der Unterprivilegierten und zeigte die Hilflosigkeit randständiger Figuren vor der Wirklichkeit. Seine Gedichte, Hörspiele und Prosa standen quer zum herrschenden Literatur-Betrieb und zu überkommenen Sichtweisen. So konstituiert sich aus dem Mosaik seiner Texte eine Gegengeschichte des Rheinlands, eine literarische Geschichtsschreibung von unten. Die Literaturbürokraten haben lange nicht wahrhaben, daß dieser Schriftsteller mit seiner Art, die Sprache aufs Genaueste zu vermessen, nicht nur ein kritischer Begleiter der Moderne, sondern auch ein Sprachakrobat sonder Gleichen war. Weigoni gehörte zu den Menschen, die sich gefunden und in ihrem Anderssein akzeptiert haben und daraus schöpfen konnten. Dieser Homme des lettres bezeichnete sich selbstironisch gern als ein spätes „Resultat der Massenalphabetisierung“.

Als könnte man die Zeit totschlagen, ohne die Ewigkeit zu verletzen.

Henry David Thoreau

In jeder Biographie gibt es Brüche. Im Oktober 2007 setzten Dachdecker bei Schweißarbeiten den Dachstuhl über seiner Wohnung in Brand. Das Feuer griff auf seine Wohnung über. Was die Flammen nicht vernichteten, wurde von den C-Strahl-Rohren der Feuerwehr unbrauchbar gemacht. Auf einen Schlag waren seine Bibliothek mitsamt Recherchematerial vernichtet. Er hat versucht seine eigenen Erlebnisse literarisch zu verarbeiten, diese Versuche sind gescheitert. Schreiben bedeutet Entbehrungen, für eine Weile glänzte Weigoni mit geschäftsschädigender Zurückhaltung. Er mußte lernen, bei Null anzufangen, nicht von eigener Erfahrung oder einer Recherche auszugehen, sondern buchstäblich mit nichts zu beginnen und zu begreifen, daß das Schreiben für ihn ein Akt des Zuhörens ist. Zuhören erfordert enorme Konzentration und sie fordert das, was Meister Eckhart als Abgeschiedenheit bezeichnet hat.

Leben heisst – dunkler Gewalten / Spuk bekämpfen in sich. / Dichten– Gerichtstag halten / Über sein eignes Ich.

Henrik Ibsen

Titelmotiv: Schreibstab von Peter Meilchen

Die im Alltag kaum noch wahrgenommenen Dinge vermochte Weigoni so darzustellen, daß man sie wie zum ersten Mal betrachten konnte. Nicht nur der Inhalte und die Strukturen dieser Novelle sind durch Präzision und Gewissenhaftigkeit gekennzeichnet, sondern jeder einzelne Satz. Mit den Vignetten definierte Weigoni im Alleingang eine Literaturgattung neu. Er praktizierte damit mehr als das Schreiben, diese Novelle ist ein Sich-Einschreiben in die Welt. Er hat eine Prosa geschrieben, der das Unaussprechliche in Worte verpackt. Mit seinem Einfühlungsvermögen schafft er es, die Trauer, Depression und Schuldgefühle einer sonst so strukturierten und starken Frau zu beschreiben, der von heute auf morgen der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Die verschiedenen Blickwinkel dieser Novelle zeigen die Vielschichtigkeit der Themen Tod sowie Trauer auf und Weigoni schlußfolgert, daß nicht, wie leichtfertig behauptet, geteiltes Leid halbes Leid darstellt, er betrachtet die Dunkelheit und Trostlosigkeit der Welt immer aus den Kammern seines Herzens heraus. In diesem 64-seitigen Band funkelt die fabulatorische Lust des Schriftstellers in Prosa auf, zugleicht zeigt sich hier der letzte Romancier des skeptischen Weltbürgertums. Diese Novelle war mehr als ein Vorspiel, sie war eine klug konzipierte Hinführung zu den längeren Erzählstrecken.

Morgen entschwindet mit schimmerndem Flügel / Wieder wie gestern und heute die Zeit.

Franz Schubert

Covermontage: Jesko Hagen

Das mittlere Prosawerk ist als ‚Konzeptalbum‘ bezeichnet worden. Die Zombies sind das Produkt eines literarischen Experiments. Untote als Metapher des verdrängten Bösen im Menschen sind nur der Anfang im narrativen Muster des Autors der sich mit Cyberspasz schlüßig fortsetzt. Die Vermessung der menschlichen Abgründe werden zur Grundfrage des narrativen Gesamtwerkes. Diese Erzählungen, Novellen und Romane sind in einem sehr klassischen Sinn prall gefüllt mit Lebensinhalt. Weigonis schriftstellerisches Lebensprojekt zielte auf die Errichtung eines Gesamtwerks, dessen einzelne Texte nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern eine organische Einheit bilden, er betreibt keine blutleeren Studien, sondern liefert Geschichten mit einem Matrjoschka-Charakter, in virtuos ineinander verschachtelten, zwischen historischen Ereignissen springenden Erzählpäckchen führte dieser Romancier sämtliche Schicksale und Handlungsstränge weiter aus. Es ist ein Oszillieren zwischen Hoch und Tief, zwischen Ironie und Ausnahmezustand. Die Lektüre ist ein Parforceritt, der die Gattung wie den denkenden Leser zu neuen Ufern führen will, es geht um die Beschreibung post-humaner Lebensformen, um die Fantasie im Dienste einer visionären Zukunftsvorstellung, die in den Gegebenheiten des Hier und Jetzt wurzelt. Ihre volle Wirkung entfalten die Texte in rhizomatischer Narrativik, sodaß man von einer gut durchstrukturierten Gesamtkomposition sprechen kann. Der Feingehalt an Surrealem, das als Spurenelement jeder einzelnen Erzählungen der Zombies innewohnt steigt in Cyberspasz zu beachtlicher Konzentration an. Es ist eine schonungslose Hingabe ans Erzählen.

Ich habe mich zwischen zwei Jahrhunderten befunden wie am Zusammenfluss zweier Flüße. Ich habe mich in ihre reißenden Wasser geworfen und mich mit Bedauern vom alten Ufer entfernt, an dem ich geboren wurde, bin aber mit grosser Hoffnung auf das unbekannte neue Ufer zugeschwommen.

François-René de Chateaubriand

Sondermarke zum 20. Jahrestag der DDR, abgestempelt am 9. November 1989

Diese Prosa bildet das Leben nicht nur ab, sie wird selbst zu verschriftlichtem Leben, indem sie die Realität in eine konsistente ästhetische Form überführt und damit aus den zeitlichen, körperlichen, sozialen oder politischen Determinierungen löst. In seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet stellt Weigoni die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Zwischen November 1989 und März 1990 komprimiert sich deutsche Geschichte unter dem Druck der Ereignisse. Das Rheinland wird zum Showroom globaler Zusammenhänge. Die Inhumanität eines Zeitalters ist integrales Element einer Kunst, die dagegen ihre humanen Gegenkräfte aufbietet. Weigoni vergegenwärtigt diese Phänomene bis an die Schwelle unserer Gegenwart. Die Gattung des historischen Dramas wird auf seinen historischen Hintergrund hin ausgeleuchtet. Er richtet auf die Wandlungen der Protagonisten, die er als Analogon zum „Wandel in Geschichte und Gesellschaft“ begreift, wie er durch die 1989-Revolution ausgelöst. Immanuel Kant hatte als „Widerstandsrecht“ gegen staatliche Herrschaft nur die „Freiheit der Feder“, nicht aber die physische und bewaffnete Gewalt gutgeheissen, eine Überzeugung, die der Kriegsdienstverweigerer Weigoni mit ihm teilt. Die Tyrannei der Fremdbestimmung ruft das Widerstandsrecht – und damit die friedliche Revolution auf den Plan. Der Sprache kommt vor allem der Bewußtseinswandel zu, den Weigoni als einen Erkenntnisprozeß verstand. Die doppelte Optik der zeitlichen Bezüge, also die Spiegelung der Gegenwart im Gewand historischen Geschehens, wird auf Rügen anschaulich. In diesem Roman bringt er fiktive Realität und reale Fiktion in immer neuen Mischungsverhältnissen zum erzählerischen Siedepunkt, indem er die Spirale immer weiterdreht, dem Realismus immer neue ironische Dimensionen abringt. Literatur wird zu einem Passierschein in eine Möglichkeitswelt. Auf einer Metaebene ist es eine analytische Erzählung des unwahrscheinlichen Jahres in der Bundesrepublik. Dieser Roman ist die Geschichte einer Erlösung durch das Erzählen. Prosa wie Abgeschlossenes Sammelgebiet kann man womöglich nur eingeschränkt mit Befriedigung lesen, man sollte ihn geniessen, die Heftigkeiten des Texts ertragen, man muss sich ihren Besonderheiten ausliefern, ihre Bewegungen mitvollziehen, zur Not der inneren Weigerung zum Trotz. Der Riß durch die Gesellschaft und in den zwischenmenschlichen Beziehungen wird in dieser Prosa deutlich. Es sind Figuren, die von der Norm abweichen ihre Identität beruht auf ihrem Dialekt. Es war seine Lust, die Paradoxien des Daseins durchzuspielen und dabei jede Art von Gewissheit zu pulverisieren: Wir sind, was uns unterläuft.

Deutschland soll umerzogen werden zur Demokratie. Wann hätte je Erziehung ein gewünschtes Resultat gehabt?

Irmgard Keun

Auch sein zweiter Roman Lokalhelden läßt sich als Heimatroman deuten. Das Rheinland ist eine Erzählung, in der die unterschiedlichsten, teilweise auf unerträgliche Weise idiosynkratischen Menschen ihren Platz haben und die dennoch als Ganzes funktioniert. Diese fortschreitende Zerfaserung der Plausibilität vermag Weigoni mittels mikroskopisch genauer Schilderung der Lebenswirklichkeit der Reinländer auszugleichen. Wir lesen eine Vivisektion des Rheinlands und seiner Bewohner, diese Region ist ein Soziotop in grundzuversichtlicher Buntheit, es bedarf Mut, sich hier auf das Abstrakte, Unwahrscheinliche und Ungefällige einzulassen.

Stets ist das Rheinland größer als die eigene, begrenzte Perspektive.

Covermotiv: Jo Lurk

Der Roman Lokalhelden ist Spiel mit Fakt, Fiktion und Weltverbesserungsleidenschaft, es geht – analog zur Wirklichkeit – auch um ein Scheitern des Erzählens von Menschen, die in die Wirklichkeit hineingescheitert sind. Die Rheinländer sind Nebenfiguren im Roman ihres Lebens. Weigonis Blick auf das Rheinland erinnert daran, dass es sich auch bei einer Mentalitätslandschaft nicht um eine tote Materie handelt. Dieser Roman wirkt so detailversessen wie das Modell für die Landschaft einer Spielzeugeisenbahn. Der hochpatenter Worterfindungsreichtum hat bei diesem Stilblütennotierer damit zu tun, dass er auf die Dinge anders sieht als seine Umgebung. Seit den Zombies schreibt er gegen die Windmühlen verkrusteter Erinnerungsblöcke und verlogener Lebensnarrative an. Weil die Rheinländer kein Aussen mehr kennen, sondern nurmehr sich selbst, gibt es am Ende nur noch die Wahl zwischen Verzweiflung und Selbstoptimierung. Die Einwohner leben ein Eingeschlossensein im Selbstwiderspruch. Als schreibender Bewohner einer Grenzregion sieht Weigoni „Heimat“ als eine fiktive, von jeglicher Staatlichkeit nicht erreichbare Zone an, als etwas, das sich jeder je nach seinen Bedürfnissen selber schafft. Rheinländer bewegen sich oft in zwei Existenzräumen zugleich, wovon sich der eine über den Dialekt definiert, der andere dagegen über die nationale Zugehörigkeit. Weigoni besitzt ein absolutes Gehör für die Ausdrucksweise der Rheinländer, ganz besonders für die Aneinanderreihung von Phrasen. Seine Reflexionen über das Leben im Rheinland scheinen aus der Sicht eines liebenden Exilierten geschrieben zu sein. Die von ihm geschilderten Typen schwanken beständig zwischen Weltläufigkeit und überschaubarem Ort. Wenn etwas originell im Rheinland ist, dann ist es die Sprache, der Dialekt steht dem Niederländischen näher als dem Hoch- und selbst dem Niederdeutschen. Zwar spricht heute kaum noch jemand Dialekt, aber die sprachliche Umprägung hallt nach. Wie früher das Hochdeutsche, ist heute der Dialekt eine halbe Fremdsprache und dient im Alltag dazu, alte Spruchweisheiten zu verkünden. Der Roman lebt  weniger von der Handlung, als vielmehr von den Figuren und Weigonis besonderer Erzählweise. Er besticht vor allem durch die präzisen und liebevollen Beschreibungen der Umgebungen und Zustände, durch die eigensinnigen Charaktere und all die skurrilen und irrwitzigen kleinen Geschichten, die er erzählt.

Das Buch endet dort, wo es eigentlich beginnen könnte: der Liebe zur Heimat bei gleichzeitiger Entfremdung von ihr.

Diese Romane sind Geschichte(n) aus reiner Gegenwart und bieten ein Röntgenbild der deutschen Gesellschaft. Weigoni hat mit dem Gesamtwerk ein Gesellschaftsepos geschaffen, das mit allen Erwartungen bricht. Es ist ein Prosa, das mit allen Erwartungen bricht, konservativen genau wie linksliberalen, es geht um Enttäuschung und Verachtung, die ihr vorausgeht. Und über die Sehnsucht, die in beidem enthalten ist. Als Knacknuss hat Weigoni der Edition seinen letzten Roman überlassen.

Ich bekenne mich zu keinem anderen Ziel, als mich selbst zu erkennen; dieses Suchen führt mich in so unendliche Tiefen, zu unendlich verschiedenen Fragestellungen, daß mein Lernen keinen anderen Erfolg hat, als daß ich fühle, wieviel mir zu lernen bleibt.

Michel de Montaigne

András (A. J.) Weigoni (* 18. Januar 1956 in Budapest/Ungarn, Flucht mit den Eltern nach dem Volksaufstand; † 26. Januar 2021 in Düsseldorf)

Sein Leben, sein Tod, sein Werk setzten sich aus Zweifel an der Sprache zusammen. Er lebte und arbeitete von diesem Zweifel ausgehend. Und es fügt sich, daß er aus diesem Zweifel ein Werk geschnitzt hat. Sein Ehrgeiz richtete sich immer auf das Ganze. Im Zusammenspiel der einzelnen Medien zeigt sich Weigoni nicht nur als Neuschöpfer, sondern auch als grandioser Mediendiagnostiker, denn stets geraten seine Figuren durch die neuen Medien – die ihnen eigentlich bei der Verständigung helfen sollen – in Situationen, in denen sie Opfer der Tücken des jeweiligen Kommunikationsmediums werden. Weigoni hat sich in seiner Prosa damit beschäftigt, welch ungeheure Macht die Bilder auf das neuzeitliche Bewußtsein haben, und in den filigranen Netzen seiner Prosa, die oft zwischen hyperpräzisen Beschreibungen und philosophisch angehauchten Erklärungsansätzen ins Flirren kommt, die Wirkungen medial bestimmter Imagination aufzugreifen versucht. In einem Markt, der längst nicht mehr funktioniert, wie er einst funktionierte, durfte dieser Paradievogel freier fliegen als je zuvor. Weigoni sah Literatur als Utopie, als eine Möglichkeit das Unsagbare in Schrift zu fassen, Schreiben war für ihn eine Sinngebung des Sinnlosen. Er hat nie für eine Ideologie, für ein politisches Programm plädiert, die Erziehbarkeit des Menschen hielt er mit der Erfahrung seiner fremdbestimmten Arbeit als Pädagoge für eine Illusion, er hat niemanden belehren wollen, wie man das Leben bestehen soll. Aber er hat seine Ratlosigkeit virtuos artikuliert. Der Literaturpädagoge zeigt sich als poeta rhetoricus, der verstanden werden will und mit dem, was er schreibt, eine konkrete Wirkungsabsicht verbindet.

Weiterleben ist nicht nur retrospektiv angelegt, sondern immer auch um Hinterlassenschaft bemüht.

Christian Poetini

Cover: Originalpraphik Haimo Hieronymus

Er ist der große Unbekannte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. A.J. Weigoni war ein homo poeticus, mit Blick auf das Zeitgeschehen schrieb er Lyrik, Prosa und bestätigte sich im klangakustischen Bereich. Seine Grundlage war eine ästhetische Langzeitperspektive, damit befand er sich am kunstautonomen Pol des literarischen Feldes. Falls Freiheit wirklich heißt „eine Sache beginnen“, dann handelte es sich bei ihm um einen ziemlich freien Menschen. Weigoni sah in der Poesie die einzige Möglichkeit, die Grausamkeit des Lebens zu ertragen oder gar zu überwinden. Er hielt sie nicht nur für ein unvergleichliches Instrument der Erkenntnis, weil sie uns den fragwürdigen Charakter des Begriffs Wahrheit enthüllt, sondern auch für die größte Stimulans zum Leben. Durch Kunst allein könne der Mensch beweisen, daß er Mensch sei. Mit seiner lyrischen Sprachgestaltung hat er die Präferenz für einen gegenwartsbezogenen Realismus unterlaufen. Seine Identität war die des Schreibens, als „vielseitig gescheiterte Persönlichkeit“ regelte er daher seinen Vorlass selbst. Was für ihn zählte, war das Werk, in dem der Schaffensprozess zum Abschluß gekommen ist. Sein Ableben setzt einen Schlußstein.

A.J. Weigoni ist von uns gegangen, seine Bücher aber leben, sind der Trost, der den Lesern niemand mehr nehmen kann.

 

 

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Weiterführend:

Billy trifft Bibliophilie. Photo: Jesko Hagen

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Eine Werkübersicht über die akustische Kunst finden Sie in der Reihe MetaPhon.

Auch die Prosa ist in einem Schuber erhältlich. Und nur darin enthalten ist das Hörbuch 630 und der Band  Vorlass.