ein buch der sublimierungen

Die Schrift ist gegenüber dem Medium der mündlichen Sprache und Kommunikation minderwertig, da sie sich nachteilig auf das Erinnerungsvermögen auswirkt.

Platon

das lesekatalogundhörbuch zum gattungsübergreifenden und multimedialen »Projekt 630«, das auch ein buchkatalog ist, verbindet eine novelle von a.j. weigoni mit bildern, das heißt bearbeiteten fotografien, des künstlers peter meilchen, und zwei »CD«s. der titel verweist auf den rheinkilometer 630 in linz am rhein, wo meilchen geboren wurde. weigoni und er wollten 2008 gemeinsam nach ägypten reisen, wozu es durch den frühen tod von peter meilchen nicht mehr kam. die buchausgabe zu seinem 10. todestag ist auch ein gedenkbuch für ihn, in dem der autor seine eigene spätere ägyptenreise verarbeitet.

über max, die männliche hauptfigur, heißt es: »Er lässt nie außer acht, dass eine künstlerische Arbeit da beginnt, wo Geschmack aufhört.« sublimierungen und vertiefungen prägen das gesamte projekt. der durchkomponierte und durchrhythmisierte text, den der autor »Vignetten« nennt, gehört zu den feinsinnigsten von weigoni, der sonst auch hart, polemisch und sarkastisch auf realitäten zurückgreifen kann. hier betont er die sensibilität in den wahrnehmungen seiner figuren.

die »Vignetten«, in einer verdichtenden sprache geschrieben, sind sinnlich erzählende prosa, worin der autor, im vergleich zu anderen seiner prosatexte, die essayistischen und aphoristischen einschübe, und damit vergeistigungen, deutlich zurückgenommen hat, was der erzählerischen dichte zugute kommt. freilich reflektiert er auch hier, teils philosophisch, probleme und konflikte des mängelwesens mensch, das in seinen modernen varianten immer mehr zum prothesenwesen wird. »Die meisten Mitbürger registrieren nicht, daß sich die Gewichte von einer repräsentativen Demokratie zur populistischen Legitimationsschöpfung durch eine boulevardeske Stimmungsmache verschieben.« andere reagieren erstaunt, wenn die demokratie selbst, ohne zu verschwinden, in autoritäre herrschaftsformen übergeht.

die novelle beginnt im rheinland und führt im weiteren verlauf nach ägypten. beschreibungen und reflexionen gehen dabei ineinander über und auf. man findet genaue alltagsschilderungen und kulturgeschichtliche betrachtungen. »auch Fellachen ernähren sich nicht nur von Foul-Medames, sondern von westlichem Fastfood«. ich trank während des heißen sommers 2018, sozusagen metereologisch korrekt, erfrischenden beduinentee und nomadentee. »Der mythische Sonnenhengst soll dem Reitpferd ebenso vorausgegangen sein, wie das Totenschiff den Schiffen der Lebenden. So besehen, können Mythen durchaus technische Utopien enthalten. Heutigentags freilich ist die Technik selber Mythos.« die griechen der antike veranstalteten bei ihren olympiaden, pindar schrieb darüber, wagenrennen. erst über 2000 jahre später erfand man das fahrrad, dessen frühe varianten ziemlich abenteuerlich aussahen und das deutsch anfangs veloziped hieß, nach französisch vélocipède, also schnellfuß.

»Der hypermoderne Mensch zitiert bei jedem Schritt.« zitate sind auch gesten, und damit zeichen. vielleicht gelten einmal die kunstvollen zitierer, die einer analytischen intuition und intuitiven analyse folgen, als die eigentlichen künstler. zitieren aber heißt nicht kopieren, sondern herbeirufen, einfangen, pflücken sowie montieren, collagieren, korrespondenzen, symbiosen, sympathien schaffen. als wissender autor kann weigoni die mythen der ägypter sowie bei roland barthes und walter benjamin beiläufig zitieren. einige szenen lassen an die »Mythen des Alltags« von barthes sowie das »Passagen-Werk« benjamins samt der figur des flaneurs denken.

die hauptfiguren der »Vignetten« sind der freischaffende kurator max und nataly, die sich zunächst zufällig begegnen und dann gemeinsam in die gegenwart wie in die kulturgeschichte eintauchen und umgekehrt, wobei äußere und innere welt, momentane wahrnehmung und erinnerung, erlebtes und erlesenes miteinander verschmelzen. die handlungen wirken, wie schon in anderen prosatexten weigonis, filmisch. die erzählung, roland barthes unterschied zwischen erzählung und handlung, zur erzählung gehören auch die reflexionen, und damit die anverwandlung ans erleben der figuren, beginnt sofort verknappt und filmschnittartig mit »Daseinskino«, einer alternative zur lebensoper: »Blinklicht. Zuerst sieht Max sie an einer Ampel. Auf dem rechten Bein stehend, den Fuss ihres linken Beins in der bestrumpften Kniekehle angewinkelt, an die rechte Kniescheibe gelehnt. Sie erinnert in ihrer fragilen Statik an einen Wasservogel mit hohen Stelzen, geknicktem Schnabel und karminrotem Gefieder, der sich mit Anmut inmitten einer zweibeinigen Menschenmenge hält, die mit spitzem Ellenbogen die förderlichste Startposition unter sich ausmacht.«

nataly wird also, aufgrund ihrer gestalt, kleidung und bewegung, mit einem flamingo verglichen: »Flamingos beginnen die Brutsaison mit einem Tanz. Ihre Flügel sind abgewinkelt, gleichzeitig wird der Kopf nach hinten gebogen, als wolle das Männchen sein Gefieder unter der geöffneten Schwinge putzen. Das Weibchen streckt ein Bein zu einer Seite aus, winkelt es an, schüttelt die Flügel und legt sich in den Wind.« in der ägyptischen hieroglyphensprache bedeutete das flamingozeichen rot. bei louis aragon erscheint das begehren als flamingo. ezra pound nannte den flamingo feierlich. christoph kolumbus, egon friedell erwähnte dies, soll einmal, im glauben, er habe asien erreicht, einen trupp karibischer flamingos, die gravitätisch durch die nacht wandelten, für weißgekleidete chinesische priester oder mönche gehalten haben. das erinnert an don quijote. auf einem mosaik aus dem 6. jahrhundert in einer kirche im libyschen tripolitania verkörpern flamingos, die fünfzig jahre alt werden können, die seelen der seligen im paradies. rainer maria rilkes gedicht »Die Flamingos / Jardin de Plantes, Paris« endet mit: »sie aber haben sich erstaunt gestreckt / und schreiten einzeln ins Imaginäre.« bei jules supervielle heißts: »Doch sieh die Flamingos der Röte, / sie bauen ihr Nest sich im Licht, / mit der Seide der Himmelsränder / und dem goldenen Wind ihrer Flügel.«

max ist bereits vom leben desillusioniert. »Modern sein heißt wissen, was nicht mehr möglich ist.«, bemerkte barthes. nataly hingegen, die offenbar ein anderes seelisches alter hat, wirkt noch unbefangen lebendig, obwohl sie sich am beginn der geschichte nach dem tod ihres partners auf dem weg zur beerdigung befindet. die reise mit max nach ägypten hilft ihr dann bei ihrer seelischen genesung. »In einem Lebensschwebezustand lotet Nataly die Abgründe des Alltags unmittelbar aus.«, »Irritation wird für sie zur Befreiung von erstarrten Vorurteilen und von Wiederholungszwängen.«, »Ihr zunehmendes Leichter-Werden verdankt Nataly einer nachhaltigeren Selbstvergewisserung.« der text kann auch als hommage an lebensundwahrnehmungsweisen gelesen werden, die man weiblich nennt. »Während Männern das Finden wichtig ist, kommt es Frauen auf das Suchen an.« wer nicht immer wieder staunen kann, findet keinen faden in die tiefe. »Was Nataly umgibt, sind die Aggregatzustände des festen Landes, des flüssigen Wassers, des wehenden Dunstes: das Zerfliessen, der Schleier, der Traum. Auf sie richtet sich ihr Blick in einer Form des schürfenden Lesens und Rekonstruierens, mit der sie archäologische Feldforschung betreibt: Sie will den Blättern beim Entfalten zusehen, dem Gras beim Wachsen zuhören und dabei die Heilwirkung der Natur erfahren.«

doch auch max beobachtet die welt mit wachem und sensiblem blick, der etwas fotografisches hat. »Eventuell ist die Vorahnung die aussergewöhnlichste Art der Wahrnehmung, die Nataly und Max von ihren prähistorischen Urahnen geerbt haben.«, »Das Ende der Wahrnehmung ist der Beginn des Erinnerns.« und »Hinter der Sichtgrenze erahnt er den Umschlag einer faktischen Realität in einen irrealen Schwebezustand. Dort gestaltet er nicht Objekte, er strukturiert Wahrnehmungen.«, was auch peter meilchen mit seinen bildern tat. im labyrinth der städte werden die augen, ähnlich wie fotoapparat und filmkamera, zu einer art wünschelrute. die vielzitierte stelle »Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.« stammt aus walter benjamins schrift »Kleine Geschichte der Fotografie«. roland barthes schrieb: »Die Fotografie bewirkt nicht mehr ein Bewußtsein des Daseins der Sache (das jede Kopie hervorrufen könnte), sondern ein Bewußtsein des Dagewesenseins. Dabei handelt es sich um eine neue Kategorie der Raum-Zeitlichkeit: örtlich unmittelbar und zeitlich vorhergehend; in der Fotografie ereignet sich eine unlogische Verquickung zwischen dem Hier und dem Früher.«, rilke: »Wie mir das Fernste manchmal hilft: in mir.« wer nahe und ferne zeiten und räume zeitundraumgleich erleben will, braucht, neben bildung und vorstellungsvermögen, muße. »wirklich vermögend sind jene Zeitgenossen, die bedenkenlos über eine Ressource gebieten, die das Wertvollste ist: Zeit.«, erklärt weigoni, »Die Wahrnehmung aufschieben heißt, einen neuen Sinn hervorbringen.« barthes. max spricht auf fotografien bezogen von der »Inventarisierung der Sterblichkeit«, muß also in susan sontags schriften über fotografie gelesen haben. barthes warnte allerdings: »Inventarisieren lassen sich nur die Banalitäten, denn sie sind endlich.« kunst, die bleiben soll, muß das endliche übersteigen, unterwandern, aufheben.

weigonis sprache war stets sinnlich und analytisch zugleich. wer seine literatur länger kennt, wird bemerken, daß er beide komponenten, die anfangs noch eher gegensätzlich wirkten, immer mehr miteinander verbunden hat. seine novelle, in der man auch eine sanfte selbstironie findet, insgesamt ist reflexiv, indem sie beim beschreiben und betrachten innehält. der text dieser erzählenden dichtung entfaltet sich, wie der wein wächst, nämlich gewunden. altfranzösisch vignetes, wovon das wort vignette abgeleitet wurde, bedeutete weinrankenornament, besonders auf möbeln und geschirr, siehe französisch vigne = weinranke, weinstock, weinberg.

in mäandernden strukturen geht der autor behutsam tastend und fragend vor. und die mäanderform entspricht auch bewegungsabläufen einer großstadt. mäander, heute menderes genannt, hieß einst ein fluß mit gewundenem lauf in kleinasien, zu dem der flußgott maiandros gehörte und der nördlich der alten stadt milet ins ägäische meer fließt. wer tiefenschichten erkunden will, braucht das mäandernde denken, während allzu geradlinige denkweisen oft nur grobe einsichten hervorbringen. bei roland barthes heißts: »Die Spirale regelt die Dialektik des Alten und des Neuen; dank ihr sind wir nicht gezwungen zu denken: Alles wurde bereits gesagt, oder: Nichts wurde je gesagt, sondern eher, nichts ist erstmalig und dennoch ist alles neu.«

seit jahrzehnten ist der rhein weigonis nil. in ägypten sind nataly und max auch in abydos, dem hauptort des todesauferstehungsundfruchtbarkeitsgottes osiris. »Jedes Tier wird am Nil für Nataly zur Epiphanie ihrer Vorstellungswelt; es gibt Kreaturen, die ihrem Unbewussten näher als andere stehen, wie die Kaule. Weil diese Amphibie aus dem Wasser kommt, rührt sie an eine prähistorische Herkunft, von der das fötale Dasein in ihre Lebenszeit reicht.« ägyptisch waren frösche, die aus kaulquappen entstehn, symbole für fruchtbarkeit, leben und auferstehung. die urmutterfruchtbarkeitsgeburtsundlebensgöttin heket, die in abydos aufgrund ihrer lebensspendenden wirkungen dem götterkreis um osiris zugeordnet wurde, trat froschgestaltig oder froschköpfig auf, genauso wie der gott nun, der das urgewässer, also die urflut vor der schöpfung, verkörperte. indem frösche am nil mit der zurückkehrenden flut erscheinen, gehen sie zyklisch dem wachstum der pflanzen voraus. griechisch und römisch gehörte der frosch zur liebesgöttin. der storch, der in deutschen märchen, sagen und liedern die kinder, oder deren seelen, bringt, meist aus einem brunnen, frißt frösche. froschköpfige frühchristliche koptische amulette gaben hoffnung auf ewiges leben. liebesundseelensymbol ist auch der froschkönig im und am brunnen aus dem grimmschen märchen, wo der königssohn aus einem frosch aufersteht. der volksglaube hörte im fröschequaken das geschrei ungeborener kinder.

in den altindischen dichtungen der veden, anrufungen der götter und beschwörungen der urmomente der schöpfung, wurde das fröschequaken mit der kultischen gedichtrezitation vorm somakessel gleichgesetzt. der göttliche trank entsprach dem befruchtenden regen. fruchtbarkeit und inspiration gingen so ineinander über. was befruchtet, konnte auch übernatürliche und prophetische gaben verleihen, initiieren sowie seelische und geistige wiedergeburten befördern.

zum buch, das zu einem gesamtkunstwerk wird und so, indem die verschiedenen künste miteinander korrespondieren und sich ergänzen, zugleich das lesen, sehen und hören anspricht, gehören vielschichtige bildnerische arbeiten von peter meilchen, die ganz durch ihre ästhetische substanz wirken, das heißt gemalte bilder sowie malerisch, mit ölfarbe, farbstiften, tinte, wachs, rotwein, pflaster, karton oder tipp-ex bearbeitete und dadurch neu gestaltete und verfremdete fotografien, zeitungsbilder, amateuraufnahmen, sowie zwei »CD«s unterm titel »Mäander« und »Uräus« mit 12 römischen und 12 ägyptischen kapiteln, professionell vorgetragen von a.j. weigoni selbst, und klangkompositionen von tom täger, produziert im tonstudio an der ruhr, die auch im rundfunk laufen sollten. das cover als collage und hommage mit motiven von meilchen entwarf dessen künstlerischer weggefährte klaus krumscheid. das ineinanderfließen der künste sowie ihrer formen und strukturen ist schon durch rhein und nil motivisch angelegt. matthias hagedorn erklärte: »Bei dieser Mixed-Media manifestiert sich eine Art der Grenzüberschreitung im Spiel mit den Gattungen: Auflösen, andersdenken, zersplittern und neu zusammensetzen.« und »Sehen, Lesen und Erinnern öffnen sich in alle Richtungen. Töne, Wörter und Bilder hatten einander etwas zu sagen, sind sich auf kreative Weise zugetan.«

peter meilchen, der auch installationen und künstlerbücher schuf und selber bücher schrieb, führte mit seinen bearbeitungen praktisch weiter, was rudolf arnheim als wesen der fotografie ansah: »Um also Photographien zu verstehen, muß man sie als ein Aufeinandertreffen der physischen Realität mit dem schöpferischen Geist des Menschen begreifen – nicht einfach als eine Widerspiegelung dieser Realität im Geist, sondern als einen Zwischenbereich, in dem beide Gestaltungskräfte, Mensch und Welt, als gleich starke Gegner oder Partner einander begegnen, wobei jeder seine spezifischen Fähigkeiten einbringt.«

die bilder von meilchen, die fotografie und malerei verbinden, das heißt mehr vermischen als abgrenzen, und zugleich durch teils prägnante farben wirken, von weiß über blau und rot zu schwarz, gehen nach innen. gerade das uneindeutige zieht den blick ins innere und regt so das vertiefende wahrnehmen an. »das Vage paßt nicht zum Tod; das Vage ist lebendig.«, meinte barthes. meilchens übermalte fotos lassen sich sprachlich gar nicht so leicht benennen. sie selbst sind wirklichkeiten, die sich, weil sie keine vordergründigen effekte vorführen oder anstreben, durch keine äußerlichen wirkungen oder zwecke, die zeitgeistkonforme konventionen bedienen, legitimieren lassen müssen, also eigentlich und nicht bloß verwertbar künstlerisch. barthes erklärte: »Das Reale ist für das Kind – und für den Künstler – der Prozeß der Handhabung, nicht das produzierte Objekt.« beim schreiben dieses textes bemerkte ich mehrfach, daß ich daran dachte, wie peter meilchen meine gedanken wohl aufnehmen würde.

hagedorn schreibt: »Meilchen wusste, wie man Bilder komponiert, er geht mit seiner Kamera so dicht an die Dinge dieser Welt heran, daß diese ihren Anspruch aufgeben, Dinge dieser Welt zu sein – und zum Bild werden können.«, »Bewegte Bilder treffen im Werk von Meilchen auf gebannte Augenblicke. Es sind Bilder, die zeigen, wie Räume und Landschaften auf die Menschen abstrahlen, sie säumen und prägen.« und »Seine Photographie stellt nicht nur die Frage der Ähnlichkeit, sondern die nach der Identität, seine Malerei wirkt gleichsam überbelichtet.«

auch der text auf der rückseite des buches beschreibt die bilder adäquat: »Peter Meilchen geht es um die Verwandlung der sichtbaren Welt ins Bild, er lässt sich Zeit, um von der Zeit eingeholt zu werden, indem er sich dem reinen Schauen hingibt. Sein Geheimnis bleibt es, wie er aus der gelassenen Betrachtung Funken hervorzaubert, wie aus Beiläufigkeit Farben entstehen. Es ist schwer zu sagen, was diese Bilder zu Resonanzräumen macht; ihr Echo hallt lange nach. Gleichzeitig haben die Aufnahmen eine Präsenz, deren unmittelbarer Appell wie ein Zauberstab wirkt.« und: »Meilchen inszeniert lokale Eskalationen, von der Umgebung unbeachtete kreative Exzesse, Momente des Kontrollverlusts und der energischen Entfaltung, in denen sich das Archaische inmitten urbaner Architekturen gegen jeden Ordnungswillen Bahn bricht.«

peter meilchen sah im fotografierten, das immer der vergangenheit angehört, wohl etwas altes, das durch bearbeitung erneuert wird. tristan tzara erklärte: »Ich liebe ein altes Werk um seiner Neuheit Willen. Es ist nur der Kontrast, der uns an die Vergangenheit bindet.«, fast wortwörtlich findet sich dieses passage auch bei louis aragon, karl heinz bohrer: »Der Künstler ist kein Kunstfreund, sondern der eigentliche Widersacher der Kunst, jener Kunst nämlich, die herrscht bis zum Augenblick seines eigenen Erscheinens.«, peter bürger: »Das organische Kunstwerk sucht die Tatsache seines Produziertseins unkenntlich zu machen. Das Gegenteil gilt für das avantgardistische Werk: Es gibt sich als künstlichen Gebilde, als Artefakt zu erkennen. Insofern kann die Montage als Grundprinzip avantgardistischer Kunst gelten.« zugleich benutzen die werbung und andere animationsgewerbe  permanent montageundcollagetechniken für banale und manipulative zwecke. die kunst muß sich und ihre traditionen also auch der profanästhetischen wirklichkeit immer wieder neu abgewinnen.

roland barthes empfahl: »Isolieren Sie, betrachten Sie, vergrößern Sie und bearbeiten Sie ein Detail, und Sie schaffen ein neues Werk, Sie durchwandern Jahrhunderte, Schulen, Stile und machen aus etwas sehr Altem etwas sehr Neues.« theodor w. adorno sah: »Der Blick, der an Phänomenen mehr gewahrt, als es bloß ist, und einzig dadurch, was es ist, säkularisiert die Metaphysik.« walter benjamin, bei dem denkfiguren der, insbesondere, oder ursprünglich, lurianischen »Kabbala«, nachwirkten, vom bruch der gefäße bis zur heimholung der versprengten funken, also der wiederherstellung der ursprünglichen ganzheit, die auch die erlösung der toten einschließt, sprach von der »Einsammlung der Phänomene«. in der »Kabbala« kommt das offenbarende wort aus der finsternis des verborgenen. man wird franz kafka, walter benjamin, ernst bloch, elias canetti, paul celan, joseph roth, else lasker-schüler oder nelly sachs, ja selbst adorno und siegfried kracauer, nur ganz verstehen können, wenn man die jüdische mystik kennt. und wie sollten künstler, die meist selbst in einem exil leben, da die normalwelt sie zerstören würde, die zerbrochenen und verstreuten seelen nicht in besonderer weise verstehen können? der untertitel von kracauers »Theorie des Films« lautet »Die Errettung der äußeren Wirklichkeit«. auch weigoni will verloren geglaubtes retten. eben darum bewahrt und vermittelt er peter meilchens kunst.

man fragt sich beim betrachten, wie die fotos, die peter meilchen zum material und objekt der bearbeitung, und somit der kunst, wurden, vor ihrer übermalung ausgesehen haben könnten. und damit denkt man bereits über die entstehung von kunst nach. meilchen fragte: »Ob die Bereitschaft und die Fähigkeit, einen Augenblick in seiner ganzen Ausbreitung in sich aufzunehmen, nicht verkümmert, wenn man ihn in ein fotografisches Segment verkürzt.«, und folgerte: »Ich denke, die latente Möglichkeit, die Welt abzubilden, hat die Fähigkeit, sie in ihrer Komplexität zu erschauen, beeinträchtigt und lässt sie uns letztendlich in ihrer unendlichen Bildhaftigkeit übersehen.« man sieht dann vor lauter erscheinungen an der oberfläche die wirklichkeit in ihrem wesen und in ihren tiefen nicht mehr. susan sontag erkannte: »Die Industriegesellschaften verwandeln ihre Bürger in Bilder-Süchtige; dies ist die unwiderstehlichste Form von geistiger Verseuchung. Die schmerzliche Sehnsucht nach Schönheit, der Wunsch, nicht mehr unter der Oberfläche sondieren zu müssen, das Verlangen, sich mit der Welt in ihrer Gesamtheit wiederzuversöhnen und sie zu feiern – all diese sinnlichen Empfindungen kommen in dem Vergnügen, das wir an Fotos finden, zum Ausdruck.«, barthes: »Je mehr Technik die Verbreitung der Informationen (und insbesondere der Bilder) entwickelt, um so mehr Mittel steuert sie bei, den konstruierten Sinn unter der Maske eines gegebenen Sinnes zu verschleiern.« auch deshalb bearbeitete peter meilchen fotografien.

dem künstler kommt im kreativen moment das unbekannte, das ihn die welt in ihrer vielfalt und differenzierung erkennen läßt, von außen oder innen entgegen. vielleicht verwischen seine bilder manche vermeintliche klarheit, die konventionelle fotografien bedienen. auf seite 5 sieht man fotografierte häuser aus linz am rhein, die durch ihre montage wanken, unter gemaltem blauem himmel oder wasser. auf anderen fotos scheint die übermalung erde, schnee, licht oder feuer anzudeuten. die botschaft der bilder meilchens mit architektonischen motiven könnte lauten: die erde ist ein kreisender wankender grund. im grunde übermalt und überzeichnet jede kunst lebenswirklichkeiten und deren abbilder und macht sie dadurch, im gelungenen fall, wesentlich.

das übermalen ist ein ausgrabender akt, der das gespanntsein darauf einschließt, was bei und nach der übermalung aufscheint an ungeahnten, mithin ahnbaren, bildern, zeichen, strukturen und konturen. dieses vorgehen entspricht umgekehrt dem eines restaurators, der eine übermalte wand freilegt. während dieser farbschichten abträgt, die das original verdecken, entdeckt die künstlerische technik des übermalens das verborgene originelle im oder auf dem material. das übermalen folgt der erkenntnis, daß alles, das lebendig bleiben soll, den wandel braucht. indem die übermalung leitbilder kultureller und sozialer konventionen, im modischen verbirgt die rotation erstarrung, ja wird deren gestalt, auflöst, entgegnet es konformen kollektiven phantasmagorien und der vorstellung, das gemeinhin wirklichkeit genannte sei das normale. die übermalung ist indes immer subjektiv und verweist auf den übermalenden zurück. das wirft die frage auf, inwieweit die lebensrealität selbst eine collage sei und der einzelne mensch von der welt, die ihn umgibt und prägt, ebenfalls übermalt wird, die subjektivität sich also, zumindest teilweise, als täuschung erweist.

die von vornherein gemalten bilder von peter meilchen im zweiten teil des buches, die hier zum ersten mal öffentlich vorgestellt werden, leben unter anderem vom wechselspiel aus licht und schatten und den daraus entstehenden atmosphären, schaffen formen, die sie teils wieder aufheben, und korrespondieren mit den textpassagen, die in ägypten spielen. etwa läßt das bild auf seite 45, besonders farblich, an die wand eines ägyptischen hauses oder innenhofs denken. jede kultur hat ihre eigenen farblichen vorlieben und farbnuancen, die über jahrhunderte hinweg tradiert wurden und häufig auch durch die farben der natur und die lichtverhältnisse vorgeprägt sind. auf seite 43 erkennt der betrachter hausumrisse, die sozusagen unterm bild liegen, einzig noch als linien und punkte von lichtern, wie bei klarem wasser versunkene häuser in einem see.

tom täger und a.j. weigoni arbeiten seit 1995 zusammen. tägers klangkunstkompositionen in 24 teilen zum »Projekt 630«, mit denen er den kapiteln des buches textnah und einfühlend folgt und die nicht allein klänge montieren, sondern wirklich komponieren, etwa indem sie rhythmen gestalten, korrespondieren mit wahrnehmungen und empfindungen der figuren oder betonen dramatische momente, so daß der wortklang des sprechers, also von weigoni, einem sprachklangbegabten dichter, dessen stimme die texte, die selber einen metaphorischen klangraum bilden, ebenfalls musikalisch interpretiert, und der tonklang des musikers als klangbilder ineinander übergehen. während der stadtszenen fühlt man sich teils an bewegungsströme und geräusche der großstadt erinnert. bei den szenen am nil empfindet die komposition die wellenbewegungen und das fließen nach. dabei haben auch die ruhigen passagen intensität, wie in der erzählung.

weigoni, für den die literatur der musik nahesteht und der das akustische der sprache betont, postulierte: »Für mich ist das Schreiben ein ständiger Dialog mit dem Material, für das ich mich einmal entschieden habe. Dann muß ich genau das tun, was das Material möchte. Ich höre in den Wortklang hinein.«, »Poesie ist eine tönend bewegte Form, und damit nichts anderes als die immer neu geschaffene Möglichkeit, in Bildern, Melodien und Gefühlen zu denken und so die klaffenden Risse, die das Denken in Begriffen übrig lässt, zu schließen. Sie ist eine Sprache des Unsagbaren.« und »Eine wohleingerichtete Sprachmelodie muss mit der Deutlichkeit der klar strukturierten Rede entworfen werden, um schließlich durch eine Anordnung aller Teile und Umstände, durch Ausarbeitung und Zierde zum melodischen Kunstwerk zu gedeihen.«

natürlich ist auch dichterische prosa »in Musik verwandelte Sprache.«, und damit poesie. während weigoni in seiner lyrik sprache öfter zunächst zertrümmert und fragmentiert, um sie nach seinen eigenen prinzipien neu zusammenzusetzen, sucht er im zusammenklang mit musik wohl unmittelbarer harmonien und symbiosen, die das dissonante freilich nicht aussparen. »Der Klang der Fremde trifft auf den Verlust der Erinnerung.«, schreibt hagedorn über täger, und: »Seine Komposition lebt von Polymetriken und Polyphonien. Wie sich der Klang an den Rändern zum Verstummen bewegt, wird das Reisen, und sei es eines in der Wüste des versehrten Ich, zu einem Akt der Vergeblichkeit, die Kreisbewegung führt zum Verlust von Verankerung und Identität.«

denis ullrich, der in einem rezensionsessay über weigonis lyrik das zugleich dekonstruierende und relativierende in dessen denken und schreiben betonte, schrieb: »Das Geheimnis einer neuen, universellen (poetischen) Sprache besteht in einer uneigennützigen Sympathie des Dichters mit der Welt. // Es kann nicht genügen, Krankheit und Verwüstung aufzuzeigen. Ein großer Dichter wird sich bemühen, im Chaos poetische Wahrheit wiederzufinden. Jede poetische Wahrheit erneuert die wirkliche (nicht-poetische) Welt.« und »nichts ist so brüchig, so unwirklich wie Wahrheit. Jede poetische Wahrheit ist Fiktion und Wirklichkeit zugleich.«

in zeiten des sieges der verwerter über die schöpfer, des habens über das sein, der zeichen über die inhalte, der bilder über die dinge, der simulationen über die realitäten, der täuschungen über die echtheit, der maskeraden über die identitäten, der kopien über die originale, undsoweiter, haben vertiefungen, und das betrifft alle künste, etwas scheinbar anachronistisches, weil ihre wirkungen überall dort, wo allein noch zwecke an der oberfläche zählen, zwangsläufig flüchtig und peripher bleiben müssen.

weigoni bezieht den engel der geschichte von walter benjamin, der eine figur utopischen denkens ist, auf nataly: »Es scheint immer noch so zu sein, als schauten die Engel rückwärts, während der Wind des Fortschritts in ihre Flügel bläst und die Himmelsboten nach vorne schweben lässt.« kurz zuvor heißt es im text: »Erinnerung ist eine Abenddämmerung im Schatten der Wahrheit. Der einzige Besitz, den sie hat, ist die Vergegenwärtigung dessen, was aus ihr geworden ist: ihre Identität.«

roland barthes schrieb: »Ich glaube, man könnte sagen, die Literatur ist Orpheus, der aus der Unterwelt zurückkehrt. Solange sie geradeausgeht, allerdings wissend, daß sie jemand führt, lebt, atmet, geht das Wirkliche, das hinter ihr ist und das von ihr allmählich aus dem Ungesagten gezogen wird, und bewegt sich auf die Klarheit eines Sinnes zu. Sobald sie sich jedoch umwendet zu dem, was sie liebt, bleibt nichts anderes in ihren Händen als ein benannter, das heißt ein toter Sinn.« weigoni weiß die balance zwischen gegenwärtigem und vergangenem zu halten, indem er dort, wo etwas zernannt werden könnte, andeutungen wählt.

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630, Buch / Katalog-Projekt  von Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Bad Mülheim 2018.

Covermotiv von Krumscheid / Meilchen

Bisher sind in der Edition Das Labor DVDs, ein Hörbuch und ein Roman von Peter Meilchen erschienen. In 2014 erinnerte der Kunstverein in Linz mit einer Ausstellung an den Künstler, in der erstmals die Reihe Frühlingel vorgestellt wurde. Zu diesem Anlass erschien mit der Wortspielhalle eine Publikation, die als Role Model für dieses Buch / Katalog-Projekt dient, das zum 10. Todestag erscheint. Das Buch / Katalog–Projekt 630 gibt einen konzisen Überblick über die künstlerische Arbeit von Peter Meilchen in Linz und in der Werkstattgalerie Der Bogen.

Weiterführend →

Einen Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Zur Ausstellung erschien das Buch / Katalog-Projekt Wortspielhalle mit der Reihe Frühlingel von Peter Meilchen und einem Vorwort von Klaus Krumscheid. Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Mit den Vignetten definiert A.J. Weigoni die Literaturgattung der Novelle neu.