Press/Play – 25 Jahre LiteraturClips

Schellackplatte „Grammophon“, Quelle: Landesmuseum Württemberg.

Daß man die Erde doch als eine Scheibe betrachten kann, bestätigt sich in der Weltsicht eines LP-Sammlers. Auch wenn sich das Verständnis seit der Zeit des Plattenspielers verändert hat, die Silberscheibe hat das Hören ungleich mehr vertieft. Meine erste Bekanntschaft waren 10 Zoll-Schellackplatten auf denen lediglich eine Arie ihren Platz fand. Wer später des Wechseln der Schallplattenseiten beim Hörer eine Oper leid war, für den ist die Compact Disc (im weiteren CD) eine Offenbarung, vom Klangempfinden und vom Frequenzspektrum der unterschiedlichen Musikinstrumententypen. Und das Wort Laserabtastung war gleichsam eine Botschaft aus der Medienzukunft. Die HiFi-Stereophonie bedeutet räumliches Hören und hohe musikalische Klangreinheit, bei einer guten Abmischung. Es ein erhabenes Ereignis, eine irisierend leuchtende CD auf dem Jewelcase zu heben, in den Schacht einen Players einzulegen, auf mechanischem Weg die Strecke zur Laserabtastung einzuleiten und anzuhören; sich – bestenfalls – mit einem Kopfhörer hinzusetzen und ein Hörbuch durchzuhören bringt einem den Künstler und der Kunst so viel näher als alles, was man sich online ­als Klangtapete runterholen kann.

Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als Kulturgüter.

Walter Benjamin

Streams und mp3 haben Musik  zu etwas Flüchtigem gemacht. Wer eine CD kauft, sehnt sich nach dem Musikhören als Gesamt­erlebnis. Auf einer HiFi-Stereoanlage gehört, haben CDs als Erinnerungsspeicher großartige Qualitäten: Charme, Wertigkeit und Klangschönheit. Das wissen inzwischen immer mehr Sammler zu schätzen. Bei einer Audio-CD unterliegt die Abtastung keinerlei Limitierungen bezüglich geometrischer Unzulänglichkeiten und Gleichlauf. Auch entfällt unter anderem das bei der Schallplatte unvermeidliche Rillen-Grundgeräusch (Rumpeln, Grundrauschen), welches vor allem bei sogenannter klassischer Musik Einbußen in der Musikdynamik verursacht. Wer sich bei I-Tunes Musiktitel runterholte, kauft jetzt wieder CDs. Für Menschen, die den ganzen Tag auf Bildschirme starren, ist die CD eine willkommene Abwechslung. Ein Hörbuch entschleunigt und reduziert die Reizüberflutung. Das Handgemachte, Ehrliche, Authentische spricht gerade vernetzte, gestreßte Großstädter an, die zwar all ihre Daten in Clouds hochladen, aber zur abendlichen Erdung etwas Warmes, Greifbares und künstlerisch Wertvolles suchen. Das Hörbuch bedeutet weiterhin einen Zugewinn, zumal es Autoren gibt, die durch ihre Art zu Rezitieren die Lektüre nicht nur klanglich bereichern.

Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.

lyrikwelt.de

Cover der Originalausgabe 1991

Jede Generation hat eine eigene Vorstellung davon, was ein Album ist, ihnen ist die Erzählung am Wichtigsten, das Tonträgerformat ist eine Limitierung. Der erste Schriftsteller, der den künstlerischen Wert der CD erkannte war A.J. Weigoni. In 1991 produzierte er mit dem Komponisten Frank Michaelis die LiteraturClips auf CD (der Claim Hörbuch war noch nicht abgesteckt) realisierte, und das für das Label Constrictor, weil die großen Verlage weiterhin die Compact Cassette für das Medium der Zukunft hielten. Es gibt nicht wenige, die haben Weigoni für verrückt gehalten.

Erst in 1993 schlossen sich mehrere bekannte belletristische Verlage zusammen (unter anderem Suhrkamp, Hanser und Rowohlt und gründeten den Hörverlag (DHV) in München um das Audiobuch auf CD zu vermarkten.

Diese Titelgebung ist reinste Camouflage, gleichzeitig markieren die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der Pop-Literatur. Manche Künstler sind ihrer Zeit voraus. Besonders dann, wenn sie Dinge sichtbar machen, die die meisten Menschen nicht wahrnehmen oder ignorieren. Eine Konfrontation der Ästhetiken der digitalen Medien mit dem Kassettenuntergrund erweist zweierlei: Zum einen, daß das Pensum, das eine digitale Ästhetik für sich reklamiert, bereits von den avancierten Werken der Analog­epoche überboten wurde, zum andern, daß die Theoretiker einer digitalen Ästhetik die Entwicklung der Technologie notorisch einem ästhetischen Fortschritt gutschreiben. Die Stichworte dieser Fortschrittsvorstellung sind allzu bekannt: Interaktivität, Synergie von Mensch und Maschine, Ende der Gutenberg–Galaxis. Wie einst die politischen Losungen ihre Weihe aus einem Erlösungspathos bezogen, so eignet auch den Verheissungen der Ästhetiker des Digitalen ein quasi-religiöses Pathos. Die Erfindung des LiteraturClips war nicht eine einzelne große Erfindung, sondern die Konvergenz vielfacher und zuweilen auch erfolgloser Schritte der Zuhandenheit. Somit kommt diesen „Hörbuchpionieren das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben“ (lyrikwelt.de). Eitelkeit scheint ihnen ob dieses literaturhistorischen Beitrags fremd, es sei denn, es gäbe eine Eitelkeit des uneitlen Betragens. Das ganze Gewese des deutschen Literaturbetriebs und der Wortverwertungsindustrie prallt an ihnen ab.

Das Aufnahmestudio als Klanglabor nutzten

Tonstudio an der Ruhr, historische Aufnahme – Das Urheberrecht für dieses Photo liegt bei Andreas Mangen.

Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn gleichfalls für verrückt gehalten. Es ist im Nachhinein fast zwangsläufig, das sich diese beiden Artisten über den Weg laufen mussten. 1995 begann mit Verquarzte Tage ihre Zusammenarbeit, die in 2015 mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen Zirkelschluß findet, zu dem Täger als Hörspielkomponist mit Señora Nada eine Musik der befreiten Melodien zelebiert.

Es gibt in der neueren Literatur nicht viele überzeugende Langgedichte. Das Geheul von Ginsberg, Der Untergang der Titanic von Enzensberger – und es ist nicht übertrieben, wenn man in diesem Zusammenhang auch das lyrische Monodram Señora Nada von A.J. Weigoni erwähnt, vielleicht das faszinierendste deutschsprachige Langgedicht der letzten Jahre. Dieses “Nachtstück” besticht nicht nur durch seine souveränesprachliche Meisterschaft, sondern auch durch eine gedankliche Tiefe, die dichterisch facettenreich ausgelotet wird.
Axel Kutsch

Die Produktion Señora Nada provoziert mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte und nicht durch Dolby–Surround. Darin begleitet Tom Täger die Schauspielerin Marina Rother mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition zu Señora Nada ist durchsetzt von minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Die Vertonung ist rasch im Grundtempo. Crescendo– und Decrescendo–Verläufe schaffen fiebrig–erregte Ausdruckszonen wie die buchstäblich hervorbrechenden Forte– und Fortissimo–Attacken. Tägers Klanglichkeit bleibt Weigonis Exaltiertheit nichts schuldig. Es gibt Momente, da berühren sich Musik und Sprache, wie eine Fingerkuppe vorsichtig in eine gespannte Wasseroberfläche eintaucht, ohne sie zerstören zu wollen. Diese behutsamen Momente sind die Augenblicke, in denen für ein paar Takte kaum etwas zu hören ist. Es sind Sekunden von viel größerer Kraft als jedes Crescendo. Das Angebot, das in dieser Musik liegt, ist eine Herausforderung.

Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer.“
Ioona Rauschan, Regisseurin des Hörspiels

Wenn sich gegen Ende von Señora Nada, die Komposition zu einem leeren Quintklang zusammenzieht in der Pianissimo–Dynamik, haben die Takte dieses Hörstücks Welten an Ausdruck, Dynamik, Ambitus durchschritten. Man weiß es nicht so genau, ob die Ruhe nach dem Sturm nachklingt oder eine im statischen Quintklang erstarrte Erschöpfung. Die Vertonung Tom Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Jedes Kunstwerk erinnert an den Geist und die Erweiterbarkeit des menschlichen Horizonts. Jedes bedeutende Werk hat das Bewußtsein geöffnet und nicht einfach nur die öffentliche Nachfrage nach Schönheit bedient.

Ganz im Gegensatz zu den anderen “experimentellen” CDs meiner Sammlung sind die von A.J. Weigoni immer stimmig, ja richtig, philosophische Aufsätze auf den Punkt gebracht. Man merkt auch die feine Feile, das Entstehen und die Mühe über einen langen Zeitraum hinweg.

Dr. Dieter Scherr, Literaturhaus Wien

A.J. Weigoni, Porträt: Jesko Hagen

Mittlerweile ist es üblich, Hörstücke auf CD zu veröffentlichen, das Subversive an Weigonis letztem Hörbuch Gedichte ist seine Konsequenz. Er verschmäht Formen kommerzieller Vermarktung sowie den Medienhype, was  wertkonservativ anmutet, ist absolute Hinwendung. Und zu der sind nur Panästheten fähig, die Kunst als Wert an sich betrachten und deren Reinheit erhalten wollen.  Für ihn zählt allein die Haltung der Kunst zu dienen. Im Zeitalter der multikommunikativen,  Massengesellschaft bedeutet das die extremste aller Gegenbewegungen, der Welt den Rücken kehren. Keine größere Unabhängigkeit ist denkbar. Das Hörbuch Gedichte verdeutlicht, welch erstaunlichen Weg er in seiner künstlerischen Arbeit zurückgelegt hat: von der Do-it-yourself-Ästhetik des Last pop songs Albums, über die düstere, durch Stimm-Experimente und Sphärenklänge geprägte Verspieltheit der Senora Nada, hin zur  Sensibilität von An der Neige. Täger braucht bei der Bühnenmusik für ein Tanztheaterstück zur Darstellung die Vielfalt seiner Instrumentalpalette. Seine Kompositionen sind nicht bloße Begleitung, sondern strukturierend und dispositiv; die Musik hat keinen illustrativen Charakter. Die Klanglandschaften sind in der Komposition An der Neige abstrakt und trotzdem von eindringlicher Bildhaftigkeit.

Andrascz Jaromir Weigoni stellt mit einen Hörspiel unser Zeitempfinden und unsere Vorstellung von Identität auf die Probe. Der vielfach ausgezeichnete ungarisch-deutsche Schriftsteller und  Medienpädagoge Weigoni schafft mit seinem Text, Papiergeräuschen und der Stimme von Bibiana Heimes  eine Atmosphäre, die uns einem Gedanken ganz schnell auf den Pelz rücken lässt: wir sind alle Gefangene unserer selbst.

Radio Bremen

Dies zeigt sich auch beim Hörspiel Unbehaust bei dem Täger ausschließlich Papiergeräusche verwendet hat Die Asiaten verehren das Papier für diese Schwäche, Papier hat sich auf die Seite unserer Verwundbarkeit und Sinnlichkeit gestellt. Papier fühlt sich angenehm an und riecht gut. Papierseiten entsprechen dem menschlichen Lesetempo, unserem Rhythmus. Aus diesem Rhythmus entwickelten Weigoni und Täger ein Monodram gegen den kulturellen Gedächtnisverlust.

A text that alludes to Eliot’s Waste Land, was set to music by Tom Täger, using minimalist techniques and sound effects like the rustle of paper.
Judith Ryan · The Long German Poem in the Long Twentieth Century

Bibiana Heimes, Darstellerin der Jo Chang in Unbehaust

Unbehaust ist ein Stück über die (mögliche) Freiheit des Einzelnen innerhalb der Unfreiheit der Bedingungen. Jeder träumt den autonom-autistischen Traum vom Leben. Jo Chang (gespielt von Bibiana Heimes) mißtraut diesem Traum, führt ihn vor, destabilisiert, zerreißt ihn. Sie laboriert mit Methoden zum Einfangen irrationaler Verbindungen mittels der „écriture automatique“, erkennt die Restriktionen und kommunikativen Verarmungen, das Orientierungsdefizit der Mitmenschen, ihre autistischen Tendenzen, Doppelmoral, Neurosen und den Lebensverzicht. Diese Perspektive birgt reizvolle Chancen für kleine Grausamkeiten und unerwartete Wahrheiten.

Als ich dieses Hörbuch hörte, war ich schlichtweg begeistert. Bei Hörbüchern und Hörspielen wird oft der Begriff “Kunst” verwendet. Ich rede eher vom “Handwerk”. Als ich Gedichte von A.J. Weigoni lauschte, war für mich sofort klar: Das ist wirkliche Kunst! Dieser Mensch ist ein wahrer Wortakrobat, ein Liebhaber der Sprache, ein Kenner des Mediums. Weit weg vom Mainstream ist Gedichte von Weigoni für Liebhaber der “Sprachkunst” und für intellektuelle Unterhaltung DER Geheimtipp. Solch eine liebevolle Inszenierung hat eine Auszeichnung verdient, deswegen: ‘Beste Lesung’.

Simeon Hrissomallis, Begründung für den Hörspielpreis Ohrkanus

Den würdigen Schlußpunkt dieser Arbeit setzt das Hörbuch Gedichte, es umfaßt mit vier CDs eine Spieldauer von 270 Minuten, das mag in den Ohren derer, die “einfach nur genießen” wollen, abschreckend klingen. Aber wer so denkt, bringt sich um den Genuß der Erkenntnis. Dieses Hörbuch ist eine Zumutung, der man sich unbedingt stellen sollte. Es handelt von der Wirkmächtigkeit der Sprache und vom geheimen Pakt zwischen dem Sprechsteller und dem Zuhörer, es bleibt im sensorischem Speicher der Hörer, wenn nötig, für die nächsten 25 Jahre.

Mit dieser Art von VerDichtung erweiterte er nicht nur die Grenzen der Sprache, sondern brachte auch neue Arten der Weltbeschreibung und der Wahrnehmung hervor.

A.J. Weigoni erweist sich als Cicerone aus dem Labyrinth des universalen Verblendungszusammenhangs, weil er in der Lyrik der Theorie einen Ort eröffnet; er setzt unablässig das Wissen neu zusammen. Das liegt vor allem daran, daß Weigoni ein wahrer Sprachkünstler ist. Dank des lyrischen Talents des VerDichters, seinem stark rhythmischen Sprachduktus und seiner unglaublichen sprachlichen Präzision werden seine LiteraturClips zu kleinen literarischen Perlen voller Wortneuschöpfungen, gelungener Metaphern, eindrücklicher Stimmungsbilder und geistreicher Aperçus. Als Rezitator inszeniert Weigoni seine Lyrik streng aus der Sprache heraus, er bewegt sich in der Intermedialität von Musik und Dichtung, und sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht. Um Willie the Shake (I stole that from Joni Mitchell) zu paraphrasieren: Hörbücher werden so lange im kulturellen Bewußtsein bestehen, solange Worte aus Atem geformt werden und der Atem aus dem Leben strömt.

 

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Gedichte, Hörbuch von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2015

Coverphoto: Leonard Billeke

Weiterführend →

Lesen Sie auch die Würdigungen von Jens Pacholsky: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters, Holger Benkel: rettungsversuche der literatur im digitalen raum, Christine Kappe, Ein Substilat,  Sebastian Schmidts Der lyrische Mittwoch. Ein Essay über das akutische Gesamtwerk bei buecher-wiki. Eine Übersetzung von Ichzerlegung eines Wesensfallenstellers durch Lilian Gergely finden Sie im Literaturmagazin Transnational No.3 – last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni über das Schreiben von Gedichten.

Hörproben →

Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon.