Die Wirklichkeit und die Ewigkeit

Ein dialogischer Essay

Aquin Kohl war ein vertrockneter Hegelianer, der sich immer mal wieder in die Einsiedelei ver­kroch und dann alles und jeden negierte. Aber auch als Hegelianer braucht man mitunter einige so­ziale Kontakte, um überleben zu können, zumal wenn man noch dazu schriftstellerisch tätig sein will. So kam Aquin Kohl dann also nach monate- oder auch jahrelanger Zurückgezogenheit aus sei­nem Schneckenhaus gekrochen, nahm Tabletten gegen seinen Selbsthass und sprach wieder mit Menschen. So auch mit Hylaia.

Hylaia kannte Kohl seit etwa zwanzig Jahren. Es hatte damit angefangen, dass sie eines seiner He­gel-Bücher rezensiert hatte. Kohl hatte dann auch Texte von ihr in seiner Literaturzeitschrift publi­ziert, und sie hatten einander Briefe geschrieben und sich besucht. Sie hatten sich gut verstanden, aber etwas irritierte Hylaia: Aquin Kohl war ein Mann ohne Gegenwart. Es gab ihn eigentlich gar nicht. Er lebte nur durch seine Hegel-Forschungen. Er lebte dafür, Hegel für die Nachwelt aufzube­reiten. Die Gegenwart war ihm da nur lästig, er legte keinen Wert auf sie. Er lebte in einer winzigen Wohnung, die außer einem Schreibtisch und einer umfangreichen Bibliothek quasi nichts enthielt. Er ernährte sich von Fertigpizza und Döner, ging nie aus, trug alte Klamotten. Ein Handy besaß er nicht, und das Internet hatte er so lange negiert, bis es sich nicht mehr negieren ließ. Er hatte es für eine kurzlebige Mode gehalten und sich dann nur widerwillig einen internetfähigen Laptop zuge­legt. Seither hatte Hylaia im ganzen zwei E-Mails von ihm bekommen. Das Gestern und das Mor­gen waren ihm wichtiger als das Heute: Hegel, Marx, das neunzehnte Jahrhundert – und die Nach­welt auf der anderen Seite. Wenn er allerdings seine Therapiephase hatte, dann war er präsen­ter, ge­genwärtiger als sonst, und man konnte sogar mit ihm kommunizieren

Eines Tages stand er vor ihrer Tür, grinste schief und gab Hylaia einen Kuss auf die Wange. Hylaia bat ihn herein und kochte Kaffee. Sie wusste, dass Kohl, wenn er aus der Isolation kam, keinen Al­kohol trank, weil der die Wirkung der Tabletten zunichte machen würde. Nach ein paar Wochen würde Kohl die Tabletten absetzen und wieder in Weißwein und Wodka versinken, das kannte Hylaia schon; aber jetzt war er noch in der Heilungsphase. Er lächelte auch viel, wie ein Genesen­der, ließ Hylaia ausreden, blaffte ihr nicht dazwischen wie sonst üblich und negierte auch nicht al­les, was sie sagte.

Dann fragte er sie nach ihrem Goethe-Buch. „Bei welchem Verlag ist das denn erschienen? Ich habe in Buchhandlungen gefragt, ich wollte es bestellen. Aber der Buchhändler hat nichts gefunden.“ Er lachte verlegen. „Ich wusste ja auch nicht mal den genauen Titel.“

Das Goethe-Buch, dachte Hylaia. Erscheinen, erschienen, Erscheinungen. Aquin Kohl glaubte tat­sächlich noch an Erscheinungen. Hamlets Geist war ihm erschienen. In welchem Verlag war er er­schienen? Ihr wurde bewusst, in was für einer Geisterwelt sie lebte. Gelebt hatte.

„Es ist überhaupt nicht erschienen“, sagte Hylaia.

„Wie?“ sagte Kohl. „Hast du keinen Verlag gefunden für das Buch?“

„Es gibt kein Buch“, sagte Hylaia.

Kohl stutzte. „Aber du hast mir doch damals Entwürfe geschickt, Kapitel…“

„Ja“, sagte Hylaia, „ich habe Entwürfe erstellt, Grundrisse, Leseproben. Das Gerüst. Ich bin mit dem Gerüst hausieren gegangen. Aber keiner wollte das Haus. Keiner wollte da einziehen. Es gab auch Leute, die Anschläge auf das Gerüst verübt haben. Da habe ich es eben wieder abgerissen.“

„Wie meinst du das?“ fragte Kohl perplex. „Du hast das Projekt aufgegeben, nur weil du keinen Verlag gefunden hast? Du kannst doch nicht nur wegen Geld so ein Projekt…“

„Wozu hätte ich das Buch schreiben sollen?“ fragte Hylaia. „Für mich? Für mich brauche ich es nicht zu schreiben, ich kenne es ja schon. Für die Welt? Wenn mir die Welt signalisiert, dass kein Bedarf besteht, dann mache ich mir die Arbeit nicht. Zumal ich nicht dafür entschädigt wer­de.“

Kohl schwieg irritiert. „Ich dachte“, sagte er dann, „du wärest schon fast fertig gewesen mit dem Buch damals. Als du mir für meine Zeitschrift einen Auszug angeboten hattest.“

„Ich weiß“, sagte Hylaia. „Das dachten wohl viele.“

„Dem war nicht so?“

„Nein“, sagte Hylaia. „Ich habe ein paar Essays geschrieben, mehr nicht. Ob das dann Kapitel ge­worden wären oder Teilkapitel oder ob ich sie gänzlich wieder verworfen hätte, weiß ich nicht. Ein Buch ist es nie geworden.“

„Schade“, sagte Kohl.

„Gott sei Dank“, sagte Hylaia. „Ich bin froh, dass ich das Projekt rechtzeitig abgetrieben habe, be­vor es mich kaputtmacht.“

„Du hättest es schreiben sollen“, meinte Kohl dann. „Du solltest nicht so funktional denken. Es geht bei solchen Projekten nicht um Geld, sondern es geht darum, ob in der Forschung diese Lücke be­steht. Besteht sie, dann wird sich das Projekt so oder so Bahn brechen. Besteht sie nicht, wird dir auch der beste Verlag nichts nützen. Aber so wie ich das sehe, besteht die Lücke in deinem Fall. Du hättest einen wesentlichen Beitrag zur Goethe-Forschung geleistet. Die Nachwelt…“

„Ja, die Nachwelt“, sagte Hylaia. „Die Nachwelt interessiert mich aber nicht. Davon habe ich ja nichts. Wenn ich tot bin und dann entdeckt einer in hundert Jahren das Manuskript im Nachlass und publiziert es, und es wird ein Bestseller und die ganze Welt steht kopf – was habe ich davon? Ich bin ja schon tot.“

„Es geht doch nicht nur um dich!“ rief Kohl aufgebracht. „Ich, ich, ich! Mein Haus, mein Auto, meine Schriftstellerkarriere, oder wie? Das ist ja furchtbar, dieser Karrierismus!“

Hylaia lächelte. „Wenn es nicht um dich geht, worum geht es dann? Um das Projekt? Das Projekt ist das Große, dem sich der kleine Mensch unterordnen muss? Für das sich der Mensch opfert? Sorry, aber so wichtig ist Goethe auch wieder nicht, dass man für ihn sein Leben draufgeben müsste. Außerdem ist in hundert Jahren die Welt eine komplett andere als heute, da sollen sich die Leute lieber mit ihrem Kram befassen als verschollene Schriften von anno dunnemals wieder auszu­graben. Das ist Eskapismus. Das Ewiggestrige zieht uns hinan. Frei nach Goethe.“

„Naja“, sagte Kohl überrumpelt.

„Das ist wie mit dir und deinem Hegel“, sagte Hylaia unerbittlich. „Natürlich hast du einen Beitrag zur Hegel-Forschung geleistet mit deinen Werken über die Dialektik. Aber jahrzehntelang an diesen Büchern zu arbeiten und sie am Ende bei einem Druckkostenzuschussverlag rauszubringen oder bei Books on Demand, das wäre es mir nicht wert. Schau dich doch an: du hast einen Selbstmordver­such hinter dir, du bist pleite, du hast Depressionen, du hattest einen Hörsturz und hast eine Leber­zirrhose. Die Welt schreitet voran ohne dich, sie lässt dich als Wrack zurück. Du bist das Wrack, das seinen Mühlstein schleppt, komme was da wolle, du lässt dich nicht beirren und schleppst ihn wei­ter und weiter – für was? Wozu? Niemand ist an diesem Mühlstein interessiert. Hättest du ihn lie­gengelassen, wärest du davongekommen. So aber frisst dich die Zeit.“

„Die frisst mich auch so“, sagte Kohl ungehalten. „Sterben muss jeder. Ich habe wenigstens etwas Bleibendes geschaffen. Die Dialektik wird mich überleben.“

Hylaia lachte. „Ach, Aquin, glaubst du immer noch diesen romantischen Unsinn? Etwas Bleiben­des… Ja, du hast noch ein paar Mühlsteine geschaffen, damit auch andere Leute enden wie du. Du bist das Wrack, das der Treck in der Wüste zurücklässt. Da kannst du hundertmal den Finger heben und mit Hegel argumentieren – kein Hahn wird nach Hegel krähen. Kein Hahn – nur die Geier. Die warten auf dich. Und das ist kein Heldentod, was du da zelebrierst. Das ist Feigheit, Duckmäuserei vor der Gegenwart, feiges Verschanzen in der Etappe der Vergangenheit.“

„Die Nachwelt…“, fing Kohl wieder an.

„Irgendwann“, fuhr Hylaia fort, „wird dann ein anderer Treck kommen und an den Leichen vorbei­fahren: an Hegel, dir und deinem Werk. Und es werden auch von diesem Treck Ewiggestrige ab­springen und sich um dich scharen, so wie du seinerzeit von deinem Treck abgesprungen bist und dich zum toten Hegel gesellt hast. Aber auch diese Ewiggestrigen werden vom Treck in der Wüste zurückgelassen. Das ist die Nachwelt, von der du träumst: ein paar Spinner in hundert Jahren. Die dann wiederum von ein paar weiteren Spinnern in zweihundert Jahren betrauert und wiederentdeckt werden, und so immer fort. Aber der Treck wird nicht für dich haltmachen, auch nicht für die Spin­ner. Er wird weiterziehen, und die Spinner werden von der Zeit aufgefressen werden.“

„Hm“, sagte Kohl.

„Sicher“, sagte Hylaia, „gibt es Projekte, die es lohnen, dass man abspringt. Man kann abspringen vom Treck, das Projekt mitnehmen und wieder aufspringen. Den Faden weiterspulen, das Feuer von damals wieder zum Lodern bringen. Manche Projekte, die da am Wegrand liegen, sind ja auch noch nicht tot, sondern vielleicht nur bewusstlos oder erschöpft. Also abspringen, das Projekt wiederbele­ben und dann Hand in Hand mit ihm auf den Treck aufspringen. Aber abspringen und tote Asche an­beten und dann selbst zu toter Asche werden – das hat mit Mut und Leben nichts zu tun. Das Le­ben ist ein Projekt der Wirklichkeit und kein Projekt der Ewigkeit.“

Kohl schwieg und sagte dann: „Mach doch mal ein Beispiel für deine These.“

„Kürzlich“, sagte Hylaia nach einigem Nachdenken, „las ich über eine Schlagersängerin, die ein Al­bum aufgenommen hatte mit Liedern, die ihr in ihrem Leben wichtig waren. Zu diesem Album wollte sie eine Tour machen, eine Deutschlandtour. Dafür machte sie viel Werbung, redete von Selbstverwirklichung und diesem ganzen ichbezogenen Mist. Und dann kam die Energiekrise, der Vorverkauf lief schleppend – und sie sagte die geplante Tour kurzerhand komplett ab. Da dachte ich: Respekt. Sie hat erkannt, dass die Leute derzeit anderes im Kopf haben als ihr Trallala. Sie hat erkannt, dass der Treck der Wirklichkeit, die Energiekrise, der Krieg, an ihr vorbeilief, und sie ließ ihr totes Projekt liegen und sprang wieder auf den Treck auf. Das fand ich beachtlich.“

„Hm“, machte Kohl und kratzte sich am Kinn. „Der Treck der Wirklichkeit – du meinst damit die politische Richtung, die politische Situation?“

„Ich meine damit die Gegenwart, die Wirklichkeit. Jenes Nadelöhr, durch das man durchmuss auf dem Weg von Gestern nach Morgen. Jeder muss da durch, durch dieses Nadelöhr, aber die meisten tun alles, um es nicht zu merken. Sitzen im Treck der Wirklichkeit mit dem Rücken zur Fahrtrich­tung oder schleppen tote Projekte mit sich. Und man merkt, wenn ein Projekt nur noch ein toter Mühlstein ist. Dann muss man es abwerfen, abtreiben, abstoßen. Genau das habe ich mit meinem Goethe-Buch gemacht. Es abgestoßen. Den Treck habe ich wieder erreicht.“

„Woher weißt du das?“ fragte Kohl.

„Ich lebe noch“, sagte Hylaia.

Aquin Kohl war sichtlich angeschlagen. Hylaia sah ihm an, dass er hier gerne mit „Nonkonformis­mus“ und ähnlich romantischen Siebziger-Jahre-Begriffen eingehakt hätte. Aber dank der Tabletten, die er nahm, blieb er ruhig. Er nippte an seinem Kaffee und fragte dann: „Was hast du geschrieben in den letzten Jahren?“

„Nichts“, sagte Hylaia und fühlte sich frei und leicht.

Nach einer Weile frage Aquin Kohl: „Habe ich dich recht verstanden – du findest das Aufspringen auf Züge erstrebenswert? Trittbrettfahrerei und Mitmachen beim Mainstream als hehre Ziele?“

„Nein“, sagte Hylaia nachdenklich, „nein, ich meinte das genaue Gegenteil, auch wenn ich ähnliche Metaphern gewählt habe. Du meinst den Treck des Mainstreams. Wovon ich rede, ist der Treck der Wirklichkeit. Der Mainstream ist aber nicht die Wirklichkeit, er ist nur Propaganda. Regierungspro­paganda. Die bekannte Panzerwalze. Aber diesen Zug meine ich nicht. Ich meine das, was ist. Das zu erkennen ist oft schwer, weil man es immer verwechselt mit dem, was sein könnte, oder dem, was die Gesellschaft gerne hätte. Die Wirklichkeit, das ist der Treck, dem zu folgen eine Kunst ist. Das ist der Treck, dem zu folgen Mut braucht. Das ist das Gegenteil von Karrierismus.“

„Hm“, machte Kohl.

„Ich meine mit dem Treck nicht irgendetwas, was geschrieben wird“, sagte Hylaia. „Ich meine mit dem Treck das, was passiert. Verstehst du? Der Treck der Wirklichkeit, das ist der einzige Zug, der zählt. Bei dem als Trittbrettfahrer zu reüssieren ist die Vorstufe der Erleuchtung. Und wer ganz vorn mitfährt, hat es geschafft. Der hat die höchste Stufe des Daseins erreicht. Das ist der Zenit.“

„Aber was ist der Treck der Wirklichkeit?“ fragte Kohl.

„Na, das Leben“, sagte Hylaia. „Die Lebenswirklichkeit. Die Gegenwart. Das, worauf es ankommt. Dein Alltag. Arbeiten. Aufs Amt gehen, Briefe schreiben, Geld abholen. Finanzen verwalten. Ein­kaufen. Freunde treffen. Telefonieren. Fernsehen. Was auch immer. Essen, trinken, schlafen, ficken. Kartoffeln anbauen, Spiegeleier braten. Steuererklärung, Anwalt, Arzt, Lesen. Gymnastik machen. Schwimmen gehen. Klauen und abhauen. Alles mögliche. Leben und Überleben. Vorwärtsleben. Sich am Kacken halten. Das, wozu du Geistesgegenwart brauchst. Das, wozu du lebst. Keine Ges­penster. Das, wozu du deine Sinne brauchst.“

„Aber du kannst mir doch nicht erzählen, dass du Fernsehen einen höheren Stellenwert beimißt als der Dialektik!“ rief Kohl. „Und wenn du ‚arbeiten’ mit aufzählst, dann heißt das doch auch in dei­nem und meinem Fall, dass wir uns hineinfühlen in die Dichter und Denker, über die wir schreiben. Das ist doch unsere Arbeit.“

„Ja, sicher“, sagte Hylaia. „Aber eben nur bis zu einer bestimmten Grenze. Wenn du über diese Grenze hinausgehst, verlierst du den Bezug zur Wirklichkeit. Wenn du morgens aufstehst und dann bis zum Schlafengehen nur hinter deiner Sekundärliteratur klemmst; wenn du nichts mehr mit­kriegst, weder politisch auf dem Laufenden bist noch weißt, was in deiner Straße passiert; wenn du nicht mal merkst, was du isst; wenn du selbst von Hegel träumst – dann fängt es an, schädlich zu werden. Dann bist du vom Treck abgefallen für eine Leiche und solltest zusehen, dass du wieder draufkommst auf den Zug. Il faut être absolument moderne, das Zitat von Arthur Rimbaud kennst du ja – man muss absolut auf der Höhe der Zeit sein.“

„Aber damit“, rief Kohl, „meint er doch etwas völlig anderes, damit meint er doch nicht, dass man jedem Trend hinterherjagen und jede Mode mitmachen soll, sondern…“ Er brach ab.

„Genau davon rede ich ja“, sagte Hylaia. „Genau das meine ich ja auch nicht.“ Kohl nickte.

„Ich denke oft“, sagte Hylaia, „das größte Problem der Menschen ist, dass sie gar nie richtig wahr­nehmen, was um sie herum vorgeht, weil sie immer mit dem Kopf in irgendwelchen fernen Welten stecken. Nicht nur du mit deinem Hegel und ich mit meinem Goethe. Ich meine zum Beispiel auch das ewige Surfen in der Vergangenheit und Kindheit via Facebook. Da tauschen die Leute Fotos ih­rer Lieblingsteddys aus, schreiben ellenlange Kommentare über ihre Schulzeit, suhlen sich in alten Geschichten… Ich kenne einen, dem sind letztes Jahr ein Hund und zwei Freunde gestorben, und jetzt suhlt er sich täglich auf Facebook in seinem Schmerz, teilt Fotos von dem Hund und den Freunden, kriegt dafür Herzchen über Herzchen und teilnahmsvolle Kommentare, auf die er aus­führlich antwortet… er muss täglich mehrere Stunden am Daddelfon hängen, nur deswegen. Und währenddessen rauscht die Wirklichkeit davon. Draußen geht der dritte Weltkrieg los, und der Typ merkt es nicht mal, weil er mit dem Kopf im Daddelfon steckt. Er sitzt im Treck der Wirklichkeit mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und kriegt gar nicht mit, wohin die Reise geht.“

„Ach so meinst du das“, meinte Kohl.

„Ich habe auch von einem Typen gelesen, der den ersten Corona-Lockdown dazu benutzt hat, um sein Projekt über den Zweiten Punischen Krieg, das schon seit Jahren in der Schublade herumdüm­pelte, fertigzustellen. Da fragte ich mich wirklich: Alter, wo hakt’s bei dir? Draußen geht die größte Krise der Nachkriegszeit ab, und du hockst in deiner Bude und tippst irgendwas über die alten Rö­mer! Wozu? Wer soll so was nach Corona lesen? Nach Corona sind ganz andere Dinge wichtig, da interessiert dein punischer Krieg keine abgestochene Sau mehr!“

„Nach Corona“, meinte Kohl, „du sagst das so, als ob Corona eine ähnlich tiefe Zäsur darstellt wie nach dem Krieg…“

„Das tut es ja auch“, sagte Hylaia. „Corona stellt eine genauso tiefe Zäsur dar wie 1945. Wirtschaft­lich, politisch, sozial, finanziell. Das Leben seither ist nicht mehr dasselbe. Aber die Kultur macht weiter, als wäre nichts gewesen: Schlagerparade, Dschungelcamp, Fußball-WM, Trallala und Hopp­sassa. Und die grassierende Gedenkeritis: vor dreißig Jahren war dies, vor fünfzig Jahren war das… Die Literatur, Aquin, die Stoffe für gute zeitgenössische Literatur hic et nunc liegen auf der Straße rum, aber keiner hebt sie auf. Man quatscht von früher, man macht Nabelbeschau und hält endlose Retrospektiven. Es gibt sogar eine Bühnenrevue ‚Die zwanziger Jahre – Absinth und Charleston‘. Das waren aber die 1920er Jahre! Hundert Jahre her! Die Leichen verwesen schon! Der Zug der Ge­genwart rast durch Krieg und Inflation, und die Zuginsassen haben die Fenster mit Sichtschutz ver­hängt und gedenken lachend der Zeit vor hundert Jahren!“

„Es gab auch im Warschauer Ghetto Leute, die sich mit der italienischen Renaissance beschäftig­ten“, sagte Kohl. „Um mal ein krasses Beispiel zu nennen.“

„Ja, ich weiß“, meinte Hylaia. „Absurd. Völlig absurd.“

Sie tranken den Kaffee, den Hylaia gekocht hatte.

„Der Treck der Wirklichkeit“, sagte Hylaia dann, „ist eine große Herausforderung. Und es ist auch keineswegs nur ein Problem der Handy- und Facebook-Generation. Dass die Leute nicht wahrneh­men, was um sie herum passiert, weil sie mit dem Kopf gar nicht hier sind, sondern an irgendwel­chen Nicht-Orten, das ist ja schon seit Jahrhunderten so. Auch die Leute im Zweiten Weltkrieg ha­ben ja nicht aufmerksam die Trümmer registriert, sondern sie wollten sie oft gar nicht wahrhaben.“

„Aber es geht ja auch“, sagte Kohl, „um ein lebensnotwendiges Abschalten des Verstandes. Ich mei­ne, heute haben die Leute Netflix und WhatsApp, um abzuschalten von der brutalen Realität. Du kannst nicht vierundzwanzig Stunden am Tag Bundestag live gucken. Oder wenn Krieg ist, da kannst du auch nicht vierundzwanzig Stunden aufmerksam durch die brennenden Trümmer gehen und Leichen zählen. Irgendwann drehst du dann durch. Das ist zu viel Wirklichkeit. Die Leute in Berlin 1945, die brauchten auch was zum Abschalten.“

„Naja“, sagte Hylaia, „da stimme ich dir vollkommen zu. Das Abschalten von der Realität ist ja auch nicht das Problem. Zum Problem wird es erst, wenn die Realität zum Abschalten der Ablen­kung benutzt wird. Die Leute sind so versunken in ihre Scheinwelt auf Instagram, mit ihren Herz­chen und Katzenvideos, dass sie den Einbruch der Realität als Störung wahrnehmen. Und zum Ende des Zweiten Weltkriegs war das wohl ähnlich – 1945 in Berlin krachte wohl ein großer Realitäts­schock auf die Leute ein, nach zwölf Jahren Ablenkung mit Propaganda.“

Hylaia machte eine Pause und sagte dann: „Aber dieser Realitätsschock, der steht heute noch aus. Die Zäsur der letzten Jahre ist noch nicht durchgesickert durch den ganzen Wust von Ablenkungen und Geistergefechten.“

„Du meinst, die Propaganda hält noch an?“ fragte Kohl.

„Ja“, sagte Hylaia nachdenklich, „den Eindruck habe ich tatsächlich. Es wird getan, was möglich ist, um die Leute in ihrer überzuckerten Scheinwelt zu lassen. Sie stehen morgens auf, gucken in ihr Smartphone, lesen die Nachrichten und lesen: alles geht aufwärts, wird schon alles wer­den, der Auf­schwung ist da, die Zukunft wird rosig. Und dazu gibt es ein paar Geistergefechte, ein paar schöne Skandale und Eklats, die einen tagelang beschäftigen und einen tagelang vom Treck der Wirklich­keit abziehen. Und Ernährungstipps, Schminktipps, Yogatipps – was muss ich essen, welchen Sport muss ich treiben, damit ich hundert Jahre alt werde und dann immer noch schön bin? Der Main­stream läuft auf Hochtouren.“

Sie machte eine Pause und sagte dann: „Lebensmittelpreise steigen, Energiepreise steigen, Mieten steigen. Arbeitslosigkeit steigt. Insolvenzzahlen steigen. Das ist die Wirklichkeit. Und was tun die Leute? Entweder sie ignorieren es und wollen es nicht wahrhaben. Oder sie machen Selfies von sich in den Schlangen vor den Läden, sie gehen auf Demos, halten das Handy hoch und lachen in die Kamera. Sie fassen das als Event auf, wie bei einem Rockkonzert! Und dann posten sie ihre Videos und Selfies auf Instagram, holen sich ihre Herzchen und Likes ab und surfen behaglich in der Rück­schau. Verstehst du, was ich meine, wenn ich sage, der Realitätsschock ist noch nicht ange­kommen? Sie konservieren die Realität wie eine wertvolle Erinnerung, füllen das Gefühl für die Nachwelt in Dosen und suhlen sich dann in ihren reproduzierten Fake-Gefühlen. Als ob die Situation ein Happe­ning wäre, was Besonderes. Die Realität als Ablenkung von der Ablenkung.“

„Fake-Gefühle in Dosen“, meinte Kohl. „Was hast du gegen Gefühle? Ich meine, du redest hier an­dauernd davon, dass man regungslos über Leichen stapfen soll, den Blick nach vorn gerichtet… Und in die Zukunft sehen kann auch niemand, egal wie intensiv er seine Gefühle abtötet.“

Hylaia schüttelte heftig den Kopf. „Nein, da verstehst du mich falsch“, sagte sie entschieden. „Ich spreche keinesfalls davon, die Gefühle abzutöten oder regungslos über Leichen zu marschieren. Was ich mit Fake-Gefühlen aus der Dose meine, das sind reproduzierte, wiederaufgewärmte, oft auch künstlich und durch Manipulation erzeugte und vermehrte Gefühle. Die sind das Problem, meines Erachtens nach. Das meinte ich auch am Beispiel meines Bekannten: dass er um seinen Hund und seine zwei Freunde, die gestorben sind, trauert, ist verständlich und normal, und das zieht ihn auch nicht vom Treck der Wirklichkeit ab. Aber wenn er seine Trauer wieder und wieder auf­wärmt, sich in diesen Zustand der echten Trauer zurücksehnt und sie mit allen Tricks wiederzubele­ben sucht, dann erzeugt er Fake-Gefühle. Fake-Gefühle entstehen auch bei der klassischen Manipu­lationsmethode vieler Medien: Fotos von Kindern und Tieren zeigen. Oder wenn Politiker und an­dere Showfuzzis ‚Emotionen‘ zeigen. Die Fake-Gefühle sind es, die wir eindämmen müssen. Die vermehren sich wie Ratten und verstopfen den Kopf. Echte Gefühle sind etwas ganz anderes, etwas Lebenswichtiges, ein Gruß der Intuition. Echte Gefühle sind wie Drogen, aber gute Drogen, Drogen von Qualität. Fake-Gefühle sind minderwertige Drogen, billige Massenware. Fusel.“

„Warum suchen so viele Leute den Kick durch Fake-Gefühle, was meinst du?“ fragte Kohl.

„Ich vermute“; sagte Hylaia, „weil sie ihre echten Gefühle nicht nutzen können und leer sind ohne Fake-Gefühle. Und ihnen ist wohl auch langweilig, weil sie im Treck der Wirklichkeit ja nie vorne mitfahren. Täten sie das, hätten sie für Fake-Gefühle keine Zeit. Echte Gefühle sind Rauschzustän­de, aber man ist nicht süchtig. Fake-Gefühle hingegen machen süchtig, und man giert dann wie ein haltloser Junkie immer nur noch nach dem nächsten Kick. Wenn der Geist leer ist, empfindet man das als negativ und bedröhnt sich gleich wieder. Genau das zieht einen vom Treck der Wirklichkeit ab. Wir müssen einfach aufmerksam bleiben und nach vorne bli­cken, uns nicht geistig verzetteln mit Trallala und Hoppsassa, mit Hegel und Goethe und Befindlichkeiten. Und natürlich können wir auch dann die Zukunft nicht voraussehen. Aber ein herannahendes Gewitter kann man ja schließlich auch sehen, wenn man sich ein wenig mit dem Himmel befaßt. Die Zukunft wird ja erst in der Ge­genwart geboren. Das Heute ist der Ursprung, die Keimzelle für Morgen und Gestern, deshalb ist es besser, aufmerksam durch dieses Nadelöhr zu gehen als sich mit synthetischen Fake-Gefühlen voll­gepumpt in der Etappe der Vergangenheit zu verkriechen.“

Aquin Kohl sah sie an und nickte. „Die Zukunft und die Vergangenheit werden beide erst in der Ge­genwart geboren, sagst du. Rimbauds ‚Être absolument moderne‘ ist der kühne Tanz an der Schnitt­stelle von Gestern und Morgen.“

„Ich denke immer an Piloten“, meinte Hylaia. „Langstreckenpiloten. Die müssen stundenlang in Habachtstellung sein. Die können nicht rechts ranfliegen, um zu gucken, wie viele Likes ihr Selfie auf Facebook schon hat. Wenn sie an was denken, was nicht zum Flug gehört, dann müssen diese Gedanken durchziehen, wie die Wolken, an denen sie vorbeifliegen. Stell dir vor, ein Pilot ist im Kopf bei seinem Hegelbuch. Das geht nicht – da kommt die Katastrophe sofort. Das meine ich. Im Kopf leer und auf die Wirklichkeit aufpassend.“

„Die alten Griechen“, sagte Kohl, „sahen es ja so: die Zukunft kommt von hinten über einen, wäh­rend man dasteht und die Vergangenheit betrachtet, die vor einem ausgebreitet liegt.“

Hylaia nickte. „Da ist es dann einfach zu sagen, ‚wir haben von nichts gewusst‘.“

„Da fällt mir ein“, sagte Kohl, „in meiner Jugend hatte ich Gitarrenunterricht. Wenn ich im Bus saß und zur Musikschule fuhr, dachte ich: jetzt in einer halben Stunde gehst du rein in die Musikschule – jetzt in einer Stunde kommst du wieder raus – jetzt in eineinhalb Stunden sitzt du im Bus nach Hause – jetzt in zwei Stunden kannst du dich endlich ausruhen. Das waren meine Gedankenspiele. Und während des Unterrichts dasselbe: ich bewegte meine Finger, wie es die Lehrerin mir zeigte, und dachte dabei: nur noch zwanzig Minuten – nur noch zehn Minuten… Später rührte ich meine Gitarre nie wieder an. Kein Wunder: ich war ja nie richtig dabeigewesen beim Unterricht. Ich war während des Unterrichts in meinem Kopf, und mein Kopf war woanders. An einem Nicht-Ort.“

„Ja“, sagte Hylaia, „man ist geistesabwesend: der eigene Geist ist nicht da, er hat geschlossen. Man schafft dadurch ein Vakuum statt Zukunft. Geistesgegenwart ist, wenn der Laden geöffnet hat.“

Kohl nickte wortlos und kratzte sich am Kinn. Dann fragte er schief grinsend: „Wenn man dir hun­derttausend Euro Vorschuss zahlen würde für dein Goethe-Buch und dir eine Millionenauflage zusi­chern, würdest du es dann machen?“

Hylaia dachte nach, dann sagte sie: „Nein. Vor zehn Jahren hätte ich Ja gesagt. Aber heute, hier und jetzt – nein.“

Aquin Kohl schien überrascht. Er hob die Brauen und fragte: „Warum?“

„Weil mich das Konzept des Buches zu lang von der Wirklichkeit abhielte“, sagte Hylaia. „Ich müsste für Monate, ja für Jahre in die Vergangenheit reisen, ich wäre somit vielleicht jahrelang mit dem Kopf hinterm Schrank. Sicher, ich würde finanziell dafür entschädigt werden. Aber ich würde jahrelang nichts mitkriegen von der Wirklichkeit, ich wäre nach der Fertigstellung ein Zombie, der sich erst wieder im Heute zurechtfinden muss. Das ist es mir nicht mehr wert. Für hunderttausend Euro einen weiteren Mühlstein schaffen, der mich und andere vom Leben abhält – nein.“

„Und warum hättest du es vor zehn Jahren noch gemacht?“ fragte Kohl.

„Weil ich vor zehn Jahren“, sagte Hylaia, „schlicht noch nicht so weit war wie heute, was den Treck der Wirklichkeit betrifft. Damals stand ich noch im Pulk derer, die mitfahren, aber nichts hören und nichts sehen und meistens zum Rückfenster rausgucken.“

„Aber das Geld“, meinte Kohl, „das hielte dich doch am Kacken, wie du es ausdrückst. Du müsstest nicht mittellos in der Wüste verrecken mit dem Mühlstein um den Hals.“

Hylaia lächelte. „Dann würde ich lieber was anderes machen. Was Sinnvolles. Gar nicht erst den Mühlstein erarbeiten. Keine tote Asche anbeten. Zum Beispiel würde ich Seminare halten über die Kunst des Spiegeleierbratens.“

Einige Wochen nach Kohls Besuch sandte Hylaia ihm ein Päckchen. Es kam zurück. Sie schrieb ihm einen Brief, und auch der kam zurück. Naja, dachte Hylaia. Er steckt wohl wieder im Stein­bruch der Vergangenheit und schippt sich durch seinen Hegel. Will mit dem Gestern das Morgen retten und vergißt das Heute. Schade…

 

Ein halbes Jahr später bekam Hylaia eine Postkarte aus der Schweiz:

„Hallo Hylaia, ein Freund von mir hat einen Hof hier, dort lebe ich jetzt, miste den Hühnerstall aus und helfe beim Kartoffelernten. Die Mühlsteine habe ich aufgegeben. Die Regale meiner Bibliothek sind eingestürzt, und ich wäre fast unter Hegel begraben worden. Da wurde mir klar, was du gemeint hast. Liebe Grüße, Aquin Kohl.

PS: Du kannst sehr gern mal vorbeikommen.“

 

 

 

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.