Freier Fall

 

Alles war schiefgegangen. Thompson hatte den Abgabetermin für das neue Konzept um 48 Stunden vorgezogen. Und jetzt blieb er doch nur zwölf Stunden in Paris. Aus Sicherheitsgründen konnten wir nicht riskieren, die Unterlagen via Fax oder Mail in sein Hotel zu schicken. Außerdem war be- stimmt noch einiges zu erklären.

Ich musste sofort nach Paris. Doch der Ferienbeginn brachte die Autobahnen zum Kollabieren und den ICE stoppte irgendein Erdrutsch. Ein Linienflug war natürlich auch nicht mehr zu bekommen.

Immerhin bekam ich noch eine Privatmaschine gechartert, eine kleine, weiße Cessna, nicht gerade fabrikneu, weiß lackiert mit zwei schmalen roten Streifen an den Seiten. Ein Regenflug hatte seine Spuren als schmierige, schwarze Schlieren um den Propeller hinterlassen. Die Pilotin erwartete mich neben dem Rollfeld, dunkelbraune Haare mit einem Stirnband gebändigt, die Sonnenbrille hochgeschoben.

Vielleicht war sie attraktiv, der dunkelblaue Overall zeigte nicht viel. Aber ihr Lächeln war offen und ihr Händedruck fest: »Ihr Büro hat mir gesagt, dass Sie schon mal mit einer Cessna geflogen sind. Dann kennen Sie sich ja aus. Schnallen Sie sich schon mal an, es geht gleich los.«

Sie beendete den Check und stieg ein: »Fliegen Sie gerne?« Ich nickte, aber wohl nicht überzeugend genug. Sie grinste: »Fallen Sie nicht auf die Schlagzeilen herein! Die Öffentlichkeit reagiert nur, wenn alle paar Monate mal eine Cessna oder Beechcraft vom Himmel fällt. Täglich schwirren ein paar hundert dieser Maschinen quer über die Re- publik, ohne dass es jemandem auffällt.«

Sie strahlte sehr viel Sicherheit aus. Ich erinnerte mich an meinen letzten Linienflug. Bei der Unwetter-Landung auf Shiphol saß eine der Stewardessen zwei Plätze vor mir. Sie hatte wachsbleiche Züge und auch Minuten nach dem Aus- rollen war sie nicht fähig, aufzustehen. Das baut nicht gerade auf.

Doch meine Pilotin war die Ruhe selbst. Mit einem Blick prüfte sie, ob ich mich angeschnallt hatte. Mich beunruhigte nicht, dass sie eine Frau war, doch ich registrierte das Chaos auf den hinteren Notsitzen, und der Geruch nach Maschinenöl und Kerosin ließ mich eine leckende Leitung befürchten.

Es kam der obligatorische knappe Dialog mit dem Tower. Dann brachte sie die Maschine auf die Piste und beschleunigte. Jede Unebenheit auf der Startbahn übertrug sich auf meinen Magen. Keine dreihundert Meter entfernt von uns setzte ein Interkontinental-Jet zur Landung an.

Mein Gesicht musste Bände sprechen: »Vertrauen Sie mir nicht?«, fragte sie. »Das habe ich nicht gesagt.« Sie lachte lautlos. Sie schob einige Regler vor, immer schneller wurde die Maschine, fast unmerklich hob sich ihre Schnauze. Lange vor dem Ende der Startbahn war die Cessna in der Luft und stieg in einem sanften Winkel. Ein unmerkliches Vibrieren ging durch die Maschine, verschwand in einer leichten Linkskurve, während unsere rechte Flügelspitze einige luftige Cirruswolken touchierte.

Mit den Fingerspitzen justierte sie das Flugzeug. Ein Teil des Kabinendachs war aus Plexiglas und zeigte den Himmel über uns, viel imposanter, als er von der Erde aussieht. Jegliche Anspannung war aus ihrer Haltung verschwunden.

»Na, wie war ich?«

»Exzellent«, bestätigte ich; offensichtlich genau das, was sie hören wollte.

»Einer meiner Kollegen macht beim Abheben immer die Augen zu und zählt dann von zwölf an rückwärts auf null. Piloten sind häufig etwas verrückt.«

Sie erzählte vom Chefpiloten einer internationalen Airline, der seine Flugangst mit Hochprozentigem bekämpft.

»Die Angst quält ihn, aber er kann nicht mehr ohne. Ich kann das gut verstehen.« Und während die Cessna einige bescheidene Schönwetterwolken kreuzte, berichtete sie von einem Regionalpiloten, der aus Angst vor Luftpiraten die Cockpit-Tür schon vor dem Start unter Schwachstrom setzt.

Ich fragte, weshalb sie Pilotin geworden ist.

»Mein erster Freund war Pilot. Gelegentlich nahm er mich mit, mit einer alten Propeller-Maschine. Er hat mir alles beigebracht. Die Prüfung war nachher kein Problem mehr.«

»Warum haben Sie sich getrennt, wenn ich fragen darf?«

»Das hat sich so ergeben. Eines Morgens flog er nach Griechenland und crashte in einen Berg.«

»Oh nein!«

»Es hört sich tragischer an, als es tatsächlich war. Er kam aus den Wolken und schon schlug er auf. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, um sich zu erschrecken.«

»Und das macht Ihnen keine Angst?»

Sie lachte. »Nein, warum auch? Ich fliege, weil ich wissen will, wo meine Grenzen sind.«

Und wie um es mir zu beweisen, drosselte sie den Motor. Die Maschine vibrierte stärker und wir verloren etwas an Höhe. Auf einen Schlag wurde mir bewusst, wie filigran die Stabilität eines Flugzeugs ist.

Sie hatte eine hauchdünne Narbe auf der linken Wange.

Vielleicht starrte ich einen Moment zu lange, denn sie er- klärte:

»Erinnerung an ein kleines Problem auf dem Flughafen von Sofia.« Sie hatte einen älteren Learjet von Wien nach Sofia gebracht. Beim Aufsetzen knickte das linke Fahrwerk ab und sie rutschte die ganz Länge der Landebahn entlang. »Dabei splitterte das Glas der Kanzel, obwohl es eigentlich nicht splittern soll. Voilà!«

Der Motor lief ruhig. Ihr Körper streckte sich.

»Eigentlich bin ich dankbar für diese kleinen Zwischenfälle. Ansonsten wäre mein Job vielleicht zu langweilig.«

»Und was machen Sie gegen diese Langeweile, wenn es keine kleinen Zwischenfälle gibt?«

Sie grinste: »Ich provoziere. Ich fliege dann und wann mit ausgeschaltetem Motor.«

Ich hielt das für einen Scherz, doch sie schüttelte den Kopf.

»Alles halb so wild. Das Risiko ist kalkulierbar. Wenn bei einem Flugzeug die Triebwerke ausfallen, fällt es nicht wie ein Stein zu Boden, sondern gleitet noch einige Sekunden weiter. Dann erst verliert es die Höhe und seine Stabilität, trudelt und schmiert ab. Ab diesem Punkt kann man nichts mehr machen.«

»Und das funktioniert?«

»Einmal habe ich mich bei einer kleinen amerikanischen Fluggesellschaft als Linienpilotin beworben. Sie ließen mich einen Probeflug mit einer alten Boing machen. Der Chefpilot der Gesellschaft und der Personalchef waren mit an Bord. Bei 30.000 Fuß Höhe stellte ich die Triebwerke ab. Es war ein großartiges Erlebnis für uns alle, aber sie haben mich nicht eingestellt.«

Es wurde ihre persönliche Marotte: Bei einem Flug nach Helsinki schaltete sie über der finnischen Seenplatte den Motor ab. Hundertzwanzig Meter über der Wasseroberfläche fing sie die Maschine ab. Ihr Fluggast, ein älterer japanischer Geschäftsmann, zeigte sie bei der Flugaufsicht an. Niemand glaubte ihm. Außerdem war sie zu diesem Zeitpunkt nirgendwo auf dem Radar. Sie bereute nichts. Im Gegenteil.

Sie grinste mich an: »Was ist, wollen wir es mal riskieren?«

Ich sah sie stumm an. Ich dachte an Paris, an Thompson, den Choleriker, dessen Zeit eigentlich schon lange vorbei ist, von dessen Unterschrift aber so viele Arbeitsplätze abhängen, meiner eingeschlossen. Ich dachte an Claudia und die Kinder, die Hypotheken und an das Boot, das ich vor zwei Jahren sehr günstig hätte haben können, und das ich mir dann doch nicht gekauft habe. Ich nickte.

Souverän griff sie in die Regler und schaltete den Motor aus. Sie flüsterte: »Man darf die Benzinzufuhr nicht unterbrechen, sonst kann die Maschine nicht mehr starten.«

Die Stille war unheimlich, nur der Wind pfiff an den Tragflächen und der Kabine vorbei. Die Maschine sackte ein Stück ab, doch die Steuerung folgte perfekt, sofort lag die Cessna wieder stabil. Doch sie fiel rapide. Der Höhenmesser schlug Kapriolen. Ich war im Nu schweißgebadet. Die Schnauze kippte nach vorn, doch die Pilotin reagierte sofort und pendelte die Maschine aus. Mit der rechten Hand drückte sie auf den Starter, der warmgelaufene Propeller reagierte sofort, die Maschine machte einen Satz nach vorne und wir stiegen wieder.

»Immerhin, fast sieben Sekunden ohne«, meinte sie. Am Horizont zerschnitten zwei französische Jagdbomber im Formationsflug den Himmel. Eine halbe Stunde später landeten wir sicher in Paris-Orly.

Ich flog danach noch öfter mit ihr. Nicht immer konnten wir das Spiel spielen. Manchmal war das Wetter nicht ge eignet, hin und wieder fühlte sie sich auch nicht gut genug in Form. Vor zwei Jahren hörte ich das letzte Mal von ihr. Sie sollte eine alte Antonow von Riga nach Frankfurt überführen. Kurz vor der Landung brach eine Tankleitung. Für das zweite Triebwerk war die Belastung zu groß. Sie war schon im Sinkflug und hat die Maschine nicht mehr hochgekriegt.

Irgendwie passte es zu ihr. Vielleicht war dieser Crash der letzte definitive Kick, nach dem sie ihr ganzes Leben lang gesucht hatte. Doch der offizielle Bericht der Luftfahrtbehörde, im Internet veröffentlicht, belehrte mich eines Besseren. Die brennende Maschine war schnell gelöscht gewesen, die Flammen hatten das Cockpit nicht erreicht.

In ihrem Gesicht muss schiere Panik gestanden haben, ihre Hände hielten auch im Moment des Aufschlags das Steuerruder fest umklammert. Um die Leiche zu bergen, musste die Feuerwehr ihre Finger brechen, sonst hätte sie nicht losgelassen.

 

 

***

Irgendwas ist immer, Stories von Markus Peters, CHORA Verlag, Duisburg, 2021

Mit diesen großartig geschriebenen Prekariatsstories setzt Markus Peters die Tradition der nonkonformistischen Literatur nicht etwa fort, er führt sie zu neuer literarischer Größe. Man merkt seinen Worten an, das sich der Autor auch Lyriker einen Namen gemacht hat, so präzise ist die Sprache gesetzt. Es sind Geschichten von der Schattenseite der deutschen Gesellschaft, die Peters umso heller ausleuchtet, er begibt sich an Orte, zu denen sich die Kommerzsender mit ihren gecasteten Formaten nicht mehr hintrauen. Das Bemerkenswerteste an seinen Satiren, Stories und Kolumnen ist, bei aller Lakonie und Unsentimentalität, die uneingeschränkte Solidarität mit seinen Figuren, ohne jegliche Distanz und Ironie. Unterschichten-Elendsvoyeurismus wie ihn der NDR mit einer getürkten Reportage über den Straßenstrich ins öffentlichen-rechtlichen Gebühren-TV hob, sucht man in seinen Satiren, Stories und Kolumnen vergeblich, es ist vielmehr ein journalistischer Blick auf die Realität. Seine gleichsam essayistischen Betrachtungen leben von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Auf unterhaltsame Weise verpasst dieser Autor dem Alltag in seinen Satiren, Stories und Kolumnen einen wohldosierten Dreh ins Aberwitzige. Einen Vergleich mit der Prosa von Clemens Meyer braucht dieser Autor nicht zu scheuen. Für KUNO war dieses Buch ein Anwärter auf „das Buch des Jahres“ 2021.

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.