LiteraturClips

 Der Rundfunk hat die Literatur zu einem stummen Gebiet gemacht.

Alfred Döblin, 1929

Viel wurde über die unscharf umrissene Literaturgattung Popliteratur geschrieben. Ein weithin unbeachteter Aspekt der deutschen Literaturszene ist dabei, daß maßgebliche Impulse für die Entstehung einer Popliteratur vom Rheinland ausgingen. Am Anfang standen die Autoren und Übersetzer Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla, die ab Mitte der 1960er Jahre in der Domstadt lebten und von hier aus der amerikanischen Beat- und Untergrund-Literatur deutschlandweite Aufmerksamkeit verschafften. Zu einem legendären Ruf gebracht hat es ihre Anthologie Acid (Untertitel: Neue amerikanische Szene), eine Dokumentation über die Subkultur der Beatnicks und Hippies, die den radikalen Ausdruck einer jungen, unangepassten Protestkultur vermittelt. Diese Anthologie war ein politisch-kulturelles Manifest mit Lyrik und Essays, Textmontagen, Porno, Comics und Interviews. Es folgte der Versuch dieses Lebensgefühl auf die Deutsche Jugend durchzupausen.

Wenn es Videoclips gibt, muss auch die Literatur auf die veränderten medialen Verhältnisse reagieren.

A.J. Weigoni

1991* legen der Sprechsteller A. J. Weigoni und der Musiker und Komponist Frank Michaelis in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Marion Haberstroh und dem Schauspieler Kai Mönnich die zum Schlagwort gewordenen Literaturclips beim Dortmunder Independent-Label Constrictor auf dem neuen Medium der Compact Disc (kurz CD, englisch für kompakte Scheibe) vor. Eine grundlegende Ambivalenz und Reserve der Fachöffentlichkeit war kein Zufall. Die Titelgebung Literaturclips ist selbstverständlich reinste Camouflage, gleichzeitig markieren jedoch die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der sogenannten Pop-Literatur.

Hinter ihrer Ironie verbarg sich  ein  unerschütterliches Selbstbewusstsein, eine innere Ruhe und Lässigkeit.

Enrik Lauer

Der niederschwellige Zugang zu Multimediatechnologien ermöglicht es Künstlern, sich selbst und ihr Werk in vielfältiger Weise aufzuzeichnen. Das hat ästhetische Konsequenzen. Wir stehen zu Beginn der 1990er Jahre vor einer Transformation der Sprache ins Medium der technischen Kommunikation. Die Konfrontation der Ästhetiken der digitalen Medien mit dem Kassettenuntergrund erweist zweierlei: Zum einen, daß das Pensum, das eine digitale Ästhetik für sich reklamiert, bereits von den avancierten Werken der Analog­epoche überboten wurde, zum andern, daß die Theoretiker einer digitalen Ästhetik die Entwicklung der Technologie notorisch einem ästhetischen Fortschritt gutschreiben. Die Stichworte dieser Fortschrittsvorstellung sind allzu bekannt: Interaktivität, Synergie von Mensch und Maschine, Ende der Gutenberg–Galaxis. Wie einst die politischen Losungen ihre Weihe aus einem Erlösungspathos bezogen, so eignet auch den Verheissungen der Ästhetiker des Digitalen ein quasi–religiöses Pathos. Somit kommt diesen Hörbuchpionieren das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben. Eitelkeit scheint ihnen ob dieses literaturhistorischen Beitrags fremd, es sei denn, es gäbe eine Eitelkeit des uneitlen Betragens. Das ganze Gewese des deutschen Literaturbetriebs und der Wortverwertungsindustrie prallt an ihnen ab.

Entgrenzung der Poesie

Diese Literatur ist eine besondere Kunstform, die mit heterogenen Materialien wie dem menschlichen Körper, der Stimme, unterschiedlichen Objekten, Licht, Musik, Sprache, Lauten et cetera arbeitet und Aufführungen hervorbringt. Von den LiteraturClips bis Top 100 haben diese Hör-CDs  eine Aura im Sinne von Walter Benjamin, als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“. Literatur wird im muldimedialen Zeitalter zu einem „Produkt“ einer medienspezifischen Kommunikation, die durch ihren transitorischen Charakter gekennzeichnet ist: Poesie im Rahmen einer ‚Ästhetik des Performativen‘. Mit der Etablierung dieses erweiterten Literaturbegriffs gehen die Entgrenzung des Theaters hin zu anderen Genres von cultural performances wie Ritualen, Festen, politischen Versammlungen sowie eine generell zu beobachtende Theatralisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens einher. Damit wird ein die Germanistik lange Zeit dominierender ‚Irrtum‘ korrigiert.

Fortschrittsoptimismus ist die Katastrophe.

Walter Benjamin

Das Neue verdankt sich in der Literatur weniger der Erfindung als der Umwertung. Was gestern noch im Alltag übersehen wurde geht heute ins Archiv. Nicht trennen läßt sich deren ständig wachsender musikkultureller Einfluss von der Entwicklung der Produktions-Technologien und der Ästhetik der Reproduktion. In der Literaturtheorie sind Leerstellen unvermittelt aneinanderstoßende Textsegmente, die seine erwartbare Ordnung unterbrechen. Mit dem Rückgriff auf die Mittel von Dadaismus, Surrealismus und Cut–up wurde eine lustvoll bösartige Form von Sprachzertrümmerung betrieben. Das Wissen generierte sich aus der Indualisierungsmaschine Pop, dem New Musical Express, experimentellen Filmen von David Lynch, den Penguin Classics, J. G. Ballard, Velvet Underground, William S. Burroughs und dem künstlerisch anspruchsvolleren Teil des TV–Programms. Diese informelle kulturelle Infrastruktur verfügte über eine Eigendynamik: Plattencover führten zu Kunstfilmen, Songtitel zu Schriftstellern. Sie regte die Kreativität an, enthielt aber auch ein klares Verbot: Die Vergangenheit zu wiederholen ist inakzeptabel.

Dieser abgefuckte Kulturpessimismus war ein existentieller Ausdruck von Ekel vor der Saturiertheit in Westdeutschland, als dass man sich in irgendeiner Weise mit dem Nazi–Regime politisch identifiziert hätte.

Oskar Roehler

Vom Handwerkszeug der Popmusik also, die aus dem Benjaminschen Entschwinden der Aura des originären Kunstwerks eine ganz neue musikalische Ästhetik entwickelt. Diese Artisten hatten keine Lust mehr, der Selbstfindung von Regisseuren zu dienen. Haberstroh, Mönnich, Michaelis und Weigoni spielen lässig von einer Aussenseiterposition der Diskurshegemonie mit Dingen wie Genrekino, Fernsehserien und Comic–Helden. Sie versteifen sich nicht pedantisch auf den Gebietscharakter ihrer Disziplinen, sondern praktizieren an der Schnittstelle verschiedener Wissenskulturen, ein eigensinniges und befreiendes Denken.

Kai Mönnich, A.J. Weigoni, Marion Haberstroh, Frank Michaelis. Photo: Anja Roth

Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr.

Friedrich Nietzsche

Subkulturelle Symbole haben immer einen emanzipatorischen Kern. Daher ist dieses Hörbuch und vor allem die zwischen 1992 und 1995 entstandenen Top 100 eine Abgrenzung von der Fertigteil–Literatur und die Verpflichtung auf literarische Innovation. Auf der Ratingerstraße begegnete im Kunstakademie-Umfeld der Underground dem Oversoul. Hier ging es  um durchdachte Künstlichkeit. Es waren meist Minderheiten, die sich mit den Mitteln von Pop neue Ausdrucksmöglichkeiten schufen. Diese Literatur ist angefüllt mit ebenso unbeugsamer Energie wie punkrockbefeuerte Haltung. Die rheinische Variante der Popliteratur ist ein Labyrinth voller musikalischer und intertextueller Unergründbarkeit, sie definiert sich durch: Zitation und Appropriation, Neukontextualisierung und Bedeutungsverschiebung. Die Widersprüchlichkeit, das Disparate, der Konflikt zwischen Kunst und dem proletarischen Anspruch von Punk, das Emanzipatorische, vieles von dem, was die Subkultur ausgemacht hat findet sich hier. Die Dynamik im literarischen Feld verschiebt sich von der horizontalen Achse auf eine Vertikale, der Wettstreit zwischen Orthodoxie und Häresie wird abgelöst durch den beständigen Austausch von Höhenkammliteratur und Populärkultur.

 

 

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Cover des ersten Hörbuchs

LiteraturClips, von A.J. Weigoni und Frank Michaelis (mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich) bei Constrictor, Dortmund 1991

Die Aufnahme ist in HiFi-Stereo-Qualität erhältlich über:  info@tonstudio-an-der-ruhr.de

*Erst in 1993 schlossen sich mehrere bekannte belletristische Verlage zusammen (unter anderem Suhrkamp, Hanser und Rowohlt und gründeten den Hörverlag (DHV) in München um das Audiobuch auf CD zu vermarkten.