Fließmedien sind all diejenigen, die verflackern und verrauschen, die vergehen, und deren Vergehen wir uns lustvoll anschließen, da Streuung uns zerstreut. Haltemedien sind schlicht das Gegenteil. Ein Buch. Es liegt da. Sogar blättern muss man selbst.
Michael Schikowski
Ein Buch muss keinen Nutzen haben. In der Zeit des Digitalen erlebt die Frage nach der Materialität von Literatur eine neue Blüte. Wie kaum eine andere Galerie in Deutschland hat ‘Der Bogen’ in Arnsberg immer Wert auf die handwerkliche Erarbeitung von Künstlerbüchern gelegt. Diese Aura der Einmaligkeit reicht von den Materialbüchern des Jürgen Diehl, über die Schland-Box von Peter Meilchen, bis hin zu Haimo Hieronymus und A.J. Weigonis Erkundungen über die Möglichkeiten der Linie zwischen Schrift und Zeichnung, der Verstetigung von Schrift, Pinsel und der Drucktechnik. Hier findet sich eine Vielfalt des Ausdrucks, die ihresgleichen sucht.
Der Kunstmarkt [liebt] das Buch vor allem wegen seiner Undurchsichtigkeit: überflüssig und unverzichtbar zugleich, befeuert es den Markt mit seiner paradoxen Minus-Ökonomie auf immer neue Art und Weise.
Kito Nedo
Diese künstlerische Tradition wird mit einer avancierten Katalogreihe fortgesetzt. Die quadratische Form der Kataloge ist eine läßiger Insiderwitz, sie hat sich gleichwohl als praktisch erwiesen und die Größe ist gut für die Abbildungen der künstlerischen Arbeiten. Dem Alphabetikon Katalog von Haimo Hieronymus folgte die mit dem lime_lab ausgezeichnete Wortspielhalle von Sophie Reyer und A.J. Weigoni, das von Karl Hosse angeregte Gezeitengespräch und die von Stephanie Neuhaus initiierte Super Speed Art Exhibiton Tour. Im Katalog Partiale trifft der Formerfinder Hieronymus auf den Allegorienschöpfer Weigoni.
In den Partialen entsteht eine leise Schwingung, eine Vibration in der Oberfläche von Bild und Text.
In der gemeinsamen Arbeit von Haimo Hieronymus und A.J. Weigoni geht es nicht zuletzt darum, die alte Grenzziehung zwischen den künstlerischen Disziplinen neu abzustecken. Es geht ihnen um Bücher als materielle Objekte, sie folgen unter der Arbeit der Eigengesetzlichkeit des Materials. Das visuelle Schreiben wird hier dokumentiert. Das Schriftbild der Partiale verweist darauf, daß sowohl der Schrift als auch der Malerei dieselbe Struktur zugrunde liegt, startend mit einem Punkt, bestehend aus diversen vorgedachten und langsam ausdefinierten und sich ausdefinierenden Strichen. Der Künstler Hieronymus malt Kreise und Rechtecke, die auch für Schriftzeichen vorgesehen sein könnten, und macht damit deutlich, wie sehr Malerei und Schrift miteinander verbunden sind. Die Grenze von Schrift und Zeichnung ist eine Interzone des ‚Nochnicht’. Linien und Texte mit Bleistift, Tinte, blauem und schwarzem Kugelschreiber auf Papier; es beginnt immer mit einem Gekritzel, um den allerersten Moment der Wahrnehmung. Wahrnehmen ist und bleibt die unersetzbare Voraussetzung für eine ästhetische Erfahrung. Was des Lyrikers Gedichte in diesem Zusammenhang bedeuten, ist oft sekundär, sie verzaubern zuerst durch ihren Rhythmus, bei dem das Verstehen bisweilen in den Hintergrund rückt. Liest man sich diese Gedichte selbst laut vor, so kommt man dem Autor allmählich auf die Spur. Das Geheimnis ist offenbar und die Leser werden unweigerlich zu Mitwissenden.
Ein Bild stellt zunächst nichts dar, soll zunächst nichts darstellen als Farben.
Paul Cézanne
Auch der Künstler hat Spuren hinterlassen an die sich der Betrachter heften kann. Die Entwicklungsgeschichte des in Siegen ausgebildeten Künstlers Hieronymus kann als Suchscheinwerfer auf die zerklüftete Landschaft der heutigen Malerei gedeutet werden. Er denkt mit Pinsel, Spachtel und Ölkreide. Seine Partiale belegen die komplexen Herausforderungen einer aktuellen und originären Herangehensweise. Es geht zuerst einmal um Fragen der Malerei: Fläche und Tiefe, Kompositionen, die Spannung erzeugen, das Bild zusammenhalten und nicht auseinander fallen lassen. Möglicherweise ist die Landschaft im Sauerland, eine Architektur oder eine Situation der Nukleus eines Gemäldes. Hieronymus umkreist das Motiv zuerst im Skizzenbuch, dann erst malerisch, er sperrt den vermeintlichen Inbegriff von Realität in ein wucherndes, malerisches Geflecht von Farben und angedeuteten Formen. Der künstlerische Gedankentransport wird alsbald fluid, der Spannungsbogen ist noch nicht ausgereizt. Sein Alphabetikon war aufgeladen mit Zeitgeschichte, Medienreflexionen, kunstimmanenten Bezügen und vollgesogen mit Widersprüchen, Aggressionen und apokalyptischen Untertönen. Die Rolle des zeitgenössischen Historienmalers ist Hieronymus zu eng geworden. Schicht um Schicht konstruiert er seine neuen Bilder, packt noch eine Farbe drauf, läßt Schlieren herunterlaufen und Linien, Flächen, Kreise durchschimmern. Diese Partiale zeichnen einen Weg nach, der von der Fotografie und Malerei verbindenden Collage über die Zeichnung wieder zur Malerei führt, mit Überkreuzungen, die von Skepsis, Rückbesinnung und steter Suche erzählen.
Der vordere Buchdeckel ist mit einem original Holzschnitt bedruckt. Vielleicht liegt ja in solcher Art Gestaltung eine Zukunft des Buches angesichts der digitalen Möglichkeiten. Das Buch als Objekt.
Jan Kuhlbrodt
Machen wir uns in der Kunstbetrachtung nichts vor, wir leben in einer Zeit, in der sich Kunst nicht mehr als solche zu erkennen gibt. Wer bei der Technik Holzschnitt an Flachware in schwarz/weiß denkt, der liegt demzufolge gänzlich falsch. Es sind überwiegend farbige Drucke, aber flach sind die Arbeiten meist nur beim allerersten Blick darauf. Sieht man genauer hin, stößt man auf Graphiken, die mehrmals bedruckt wurden. Man kann unter der obersten Schicht die früheren sehen, man soll es sogar. Haimo Hieronymus macht den Arbeitsvorgang sichtbar und multipliziert den Augenblick. Er strebt mit bedingungsloser Vorstellungskraft nach Kunst. Seine Einlassungen sind stets von der Frage nach der Öffnung, nach der Durchlässigkeit des Bildes geprägt. Das Bild, ganz gleich ob konkretes Gemälde oder sprachliche Figur, ist zwar Konzept und damit notwendig eine Abstraktion, aber als Analogie, als Ausdruck eines Denkens, das, wie bei Hieronymus, sinnlichen Korrespondenzen in der Wahrnehmung nachspürt, kann es möglicherweise so etwas wie Gegenwart und damit die Wahrheit der Empfindung herstellen. Alles, was vorher war, unter einer einzigen glatten Oberfläche verschwinden zu lassen, würde ihm wahrscheinlich vorgekommen wie Verrat am schöpferischen Prozeß.
Eine zentrale Kategorie der VerDichtung ist der Prozess der Wahrnehmung
Walter Benjamin sprach davon, dass sich in den Blicken der Besucher einer Ausstellung häufig Enttäuschung darüber spiegle, dass dort nur Bilder hängen. Der Durchblick auf seine Entstehung macht für Hieronymus einen wesentlichen Reiz des Kunstwerkes aus. Daneben wird auch die Unermüdlichkeit deutlich, mit der dieser Artist einzelne Themen immer wieder neu variiert. Er probiert seine Motive stets aufs Neue aus. Und meist ist in diesen Loops eine Tendenz zur Abstraktion zu erkennen. Seine Transsubstantiation ist einerseits ein ganz mechanischer Vorgang, andererseits ist da jedoch das Bewußtsein, daß im Zuge dieser rein mechanischen Veränderungen Ausdruck entsteht. Dank der digitalen Technik entstehen neue Bildkulturen und verschmelzen Kunst und Leben. Ausdruck in dem Sinne, dass etwas Inneres sichtbar wird. Nicht, weil der Künstler es vorher hineingesteckt hat, sondern weil er das Material so lange durchspielt, bis es sich endlich zeigt.
Ut pictura poiesis
Horaz
Während der Betrachter zeitnah im Individuellen gefangen ist, läßt er sich den Bewußtseinsstrom der Welt durch die Hände fließen. Aber so wie Hieronymus sich seine Holzschnitte als Meister der Anverwandlung offenhält für den Prozess der Entstehung, so interessiert er sich auch für den ihres Vergehens. Es geht ihm um Geschichte, selbstverständlich nicht im Sinne einer Historienmalerei, sondern um die Demonstration der Geschichtlichkeit, der Vergänglichkeit des Materials selbst. Er nutzt diese Technik um aus den Konventionen der Malerei auszubrechen. Seine Bildräume sind weit und offen, so wie er die Landschaft des Sauerlands als Jugendlicher erlebte – und nach dem Jahrhundertsturm „Kyrill“ als eine unerbittliche Furie des Verschwindens ein Echo in seiner künstlerischen Tätigkeit fand. Die Holzschnitte geben nicht nur handwerklich einen Einblick in Hieronymus’ Schaffensprozess. Was sich in seinen Bildern ausdrückt ist mehr als Augenblick, es ist eine eingefrorene Wirklichkeit.
Der allseits flexible Mensch des 21. Jahrhunderts in seiner Geworfenheit ist das Thema.
Der Buchkünstler Hieronymus betätigt sich künstlerisch vielfältig in der Malerei wie der Zeichnung, er erstellt Objekte, Holzschnitte, Radierungen, Collagen und publiziert Künstlerbücher. Die bekannten Formen und Motive unterlegt er poetisch, schafft Verbindungen zwischen Wort und Zeichen, mit einem skeptischen Grundton: Die kräftig-bunten Farben der strahlenden Konsumwelt sind einem gebrochenen Farbspektrum gewichen, ihr Auftrag zeigt sich bewusst unvollkommen, die Botschaften werden der Frage würdig, fragwürdig. Er nutzt die Besonderheiten des Materials, die Lichtführungen, etwa von Schellack und Bienenwachs, diese erzeugen ein untergründiges Leuchten, nicht fassbar, raumgreifend, so muss der Betrachter mit den Blicken, wegen der störenden Lichtreflexe, aber auch körperlich, die fragmentarischen Agglomerate erwandern.
In der Aufforstung und Druckweiterverarbeitung begreift dieser Artist das Papier als Spannungsfeld polarer Gegensätze, die er souverän überblickt. Diese klare Sicht verdankt sich in hohem Maße seinen umfangreichen Kenntnissen der Kunst- und Literaturgeschichte. Seine Meisterschaft beruht auf seinen Kompositionen mit der einzigartigen Verbindung von Form und Farbe, bei der aber die Freiheit des Pinselstrichs, die Spontaneität des Eindruckes, kurz: die Impression, eine ungleich nachrangige Bedeutung hat. In der Retrospektion entfaltet sich das Konzept der graphé, diese ist die Geste, die die Erinnerung entwirft, ohne die vollständige Präsenz des Vergangenen zu behaupten, nicht nur Erinnerung an das mimetische Vermögen, sondern selbst nurmehr Erinnerung im Zeitalter der öffentlichen und verstreuten Schrift am Ende des Buches. Die graphé erscheint als materielle Spur eines Verweises, die an dieses Verweisen noch zu erinnern vermag, als der im Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt, in der das wahre surrealistische Gesicht des Daseins zum Durchbruch kommt. Hieronymus verzichtet auf Interpretationen von einzelnen Figuren, beruft sich vielmehr auf die Logik der Komposition und die innere visuelle Freiheit des Künstlers. Gerade in der Lebendigkeit des Farbauftrags, der zunehmenden Verselbstständigung des malerischen Pinselstrichs von seiner gegenstandsbezeichnenden Funktion erkennt man seine Handschrift. Hieronymus erreicht mit seiner Arbeitsweise, daß auf zahlreichen Zeichnungen nicht nur der visuelle Sinn des Betrachters angesprochen wird, sondern die Gesamtheit aller Sinneswahrnehmungen.
Es bleibt noch zu wissen, ob Kunst anders als negativ existiert.
Marcel Broodthaers
Die Waldsaat geht im „Suerland“ auf. Nach dem Orkan „Kyrill“ und der Aufarbeitung von elf Millionen Festmeter Holz ist die Cellulose hier erneut ein wichtiger Rohstoff zur Papierherstellung. Das transitorische Element, das die Arbeit des bildenden Künstlers Haimo Hieronymus und des Schriftstellers A.J. Weigoni an dem Projekt Partiale durchzieht, macht sich spätestens bemerkbar bei der Präsentation. Es geht diesen Artisten um Möglichkeit der Entformung, einem raffinierten Spiel mit den Wechselwirkungen von Verschriftlichung, Verbalem und Visuellem. Bildwirksam steht die Gedichte an der Scheidegrenze zwischen Bild- und Bedeutungsträgern. Einerseits ist es so, daß sich sowohl die abstrakte Malerei wie die abstrakte Lyrik von der Realität entfernt und das Publikum, sofern es nach einer Deutung und Darstellung der Realität verlangt, im Stich läßt. Andererseits sind rein realitätsbezogene Gedichte und Bilder einem modernen Geschmack oft zu bieder und einfallslos. Bei Hieronymus und Weigoni findet das Wort und der Pinsel zu ihren Anfängen, zum Erlebnis, zurück, aus dem dann die Kunst dieses Erlebte nicht in seiner Ganzheit, sondern im Gegenteil, in seiner Brüchigkeit wiederauferstehen lässt. Der Dichter nimmt Wortgefüge, wandelt sie ab, verwebt sie miteinander, setzt sie neu zusammen, jedesmal mit einer kleinen Änderung. Diese neuen Gebilde sagen nichts Neues aus, das Gedicht informiert nicht, im Gegenteil, es setzt voraus, dass der Leser oder der Hörer mit der Literaturgeschichte vertraut ist. Fragmentartig tauchen bei Hieronymus Teile, Hinweise auf die Kunstgeschichte auf, entziehen sich der Logik, aber nicht der Trauer, die sie auslösen. Als Betrachter und Leser sind wir hin- und hergerissen. Die Bildsprache ist unheimlich, nicht eigentlich entsetzlich, doch die Worte, die Metaphern und Bilder sind zutiefst beunruhigend und können Entsetzen auslösen, während im Kontrast dazu im hochmusikalischen Zauber der Gedichte ein gewisser Trost liegt.
Geschriebene Bilder und gemalte Worte.
Der Betrachter wird zum Spurensucher. Und dort, wo das Lesbare fehlt, darf sich der Fährtenleser den von der Farbe ausgelösten Empfindungen überlassen. Etwas Improvisiertes lebt in der Syntax dieser geschriebenen Bilder und der gemalten Worte; wir sehen das auf den ersten Blick nicht, weil es sichtbar ist, und es ist sichtbar, weil wir es lesen können.
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Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Mülheim 2017