Literatur-Betrieb

Die identitäre Befindlichkeitsprosa reduziert Protagonisten auf ihre Zugehörigkeit zu Kohorten, sie versteht Autonomie nicht als Selbstentwicklung und -bestimmung, sondern als Selbstbehauptung. Es handelt sich um eine Denkungsart, welche die kategoriale Abgrenzung als Teil der eigenen Wesensbestimmung stets mitmeint und einschreibt. Das Ergebnis ist Identitätskitsch, der das mutmaßlich Authentische, mutmaßlich Erfahrungsechte in ein rigides und damit triviales Gut-Böse-Schema presst und anstelle universalen Weltbegreifens das Verlangen, sich einzusortieren, zum Ausdruck bringt.

Philipp Tingler

 

Die Pseudoexperimentierer, Nachäffer und Epigonen, die Ideologen einer Sprachverhunzung, Sprachverhöhnung, Sprachzertrümmerung arbeiten ganz zielbewußt und mit Unterstützung einer bereits mächtigen Lobby. Und ihre Vertreter sitzen in der Überzahl in den Juryen. Hiermüssen wir zielbewußt etwas entgegensetzen, müssen aber auch gleichzeitig etwas zu bieten haben. Es müssen sich namhafte Autoren aus unserem Kreis unbedingt als Juroren zur Verfügung stellen. Autoren, deren Werk geistig-künstlerische Autorität bedeutet und somit bei Geschick und Einsatzkraft auch dann Autorität in den Juryen verbürgt und einbringt. Was sich hier an pseudo-basisdemokratischer Vorgangsweise bei einer Entscheidungsfindung und Kandidatennominierung abspielt, ist oft unbeschreiblich grotesk. Ich hatte bereits genug Krach. Mir macht das nichts aus, ich setze mich durch. Ich will aber nicht immer der Einzige sein, der sich hier dagegen stellt, weil es ohnehin schon da und dort heißt, daß ich ein Feind der experimentellen Literatur – oder was die dafür halten und als solche ausgeben – bin, weil ich sie angeblich nicht verstehe. Aber kann mir jemand sagen, worin die literarisch-künstlerische Leistung besteht, wenn ein – im konkreten Fall auch wirklich preisgekrönter und mit Stipendien überhäufter Experimentalschriftsteller zur einer so großartigen Erkenntnis wie folgt kommt und diese dann folgendermaßen ausdrückt: „Der Wind (Furz) ist kein Semmelbrösel!“ (Reinhold Aumaier). Wir brauchen Juroren, die sich in solchen Fällen widersetzen, mit Ablehnung einer Jurydiskussion über so viel Schwachsinn und Dummheit. Eine Jury hat nicht darüber zu diskutieren, ob und was Literatur ist, sondern dies zu wissen und dieses Wissen als Grundvoraussetzung für ihre Tätigkeit mitzubringen. Deshalb ist sie ja Jury, um auf der Basis von Erfahrung, Bildung und Wissen, aufgrund der erarbeiteten Kriterien Literatur zu beurteilen in ihrer künstlerischen Qualität und nicht der Idiotie zu verfallen, alles Evidente, Gültige in Frage zu stellen, was für jeden literarisch Gebildeten auf der ganzen Welt selbstverständlich, weil gesicherte Erkenntnis ist. Da sitzen Leute in den Juryen, SchriftstellerInnen, die blöd schauen, wenn man Namen wie Rimbaud, Valery, Lermontow, Jessenin, Alberti, Ungaretti, Lorca, Pascal und andere nennt, weil sie diese nicht kennen, noch nie ein Gedicht von denen oder von Chamisso, Hebbel, Novalis, Lenau, Hölderlin gelesen haben, die weder die Literatur noch die geistige Welt von Tolstoj, Dostojewski oder Puschkin kennengelernt und sich mit ihr befaßt haben. Und die plappern dann in einer Jury Adorno-Schriften nach oder sonstwas, das sie gerade irgendwo aufgelesen haben als „geistiges Rüstzeug“. Das habe ich alles schon erlebt und dann bin ich explodiert und es gab Krach. Soll sein, ist aber auf die Dauer langweilig, frustrierend, sinnlos. Hiermüssen wir etwas ändern. Ich habe im Ministerium schon an entsprechender Stelle deponiert, daß ich mich mit solchen Leuten nicht mehr in einer Jury zusammensetze. Um überliterarische Qualität zu sprechen, solche zu beurteilen, braucht es Personen mit ausgebildetem Sachverstand, die selber qualifiziert sind, und keine Lobbys, keine Gesinnungsgenossen; keine KollegInnen, die einer Ideologie – auch im Bereich der Ästhetik – zum Durchbruchverhelfen wollen; die in Wirklichkeit allzu oft völlig blind gegen die Literatur anstatt für die Literatur arbeiten, eintreten, agieren.

 

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Ein redaktioneller Nachtrag: Gerade hat Moritz Baßler im Magazin Pop. Kultur und Kritik einen Essay online gestellt, wie sich Identitätspolitik in der Gegenwartsliteratur und deren Rezeption niederschlägt. Unter dem Schlagwort „der neue Midcult“ sieht der Literaturwissenschaftler das Umkreisen von Partikularinteressen, eine rein affirmative Lesart und die Privilegierung von Themen und Milieus zuungunsten literarischer Ambitionen.

Wiplinger Peter Paul, Porträt von Annemarie Susanne

Weiterführend → Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.