Randzone des Literaturbetriebs

In der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens entdecken.

Walter Benjamin

Das Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) hat sich nach 1989 von der Illusion der Kanongültigkeit verabschiedet. Das Interesse an Individuen, am Besonderen und Abweichenden, an Grenzgängern und ihren Umwegen ist für uns wichtiger als die Hingabe an fixe Ideen oder große Theorien. Das Neue in seiner Andersheit zu erkennen, erfordert Spürsinn und Wachheit. Wir betätigen uns weiterhin als Maulwurf im kulturellen Archiv, wir wollen weg aus der Gedächtnislosigkeit. In einer Ära von Fast-Food-Denken eröffnet die Kunst komplexe Verständnisprozesse und einen multiperspektivischen Blick auf die Wirklichkeit. Dies steht einer reduktionistischen Weltsicht entgegen und ist ein Weg, um die verhängnisvolle vereinheitlichende Interpretation der Wirklichkeit zu stoppen.

Folgte auf den „Tod des Autors“ (Roland Barthes) tatsächlich die Geburt des Lesers?

KUNO beobachtet den Literaturbetrieb mit spöttischer Geste von der Randzone des Kulturbetriebs. Die Redaktion betrachtet vom Rand aus eine bewegliche Peripherie, goutiert Texte nach Belieben und stellt sie zu einer Gesamtschau zusammen. Es ging der Redaktion um die Reflexion der Bedingungen kultureller Produktion. Die Frage nach Alterität, also danach, wie Individuen, Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften ihre Identität im Kontakt mit dem Anderen und Fremden verlieren oder gewinnen, wird auf KUNO auch weiterhin als eine zentrale kulturgeschichtliche Frage diskutiert. Das Ergebnis ist ein Oneline-Archiv, das weder in der Umklammerung durch weltliterarische Kanongeläufigkeit zu ersticken droht noch den Pfad einer literaturwissenschaftlich getragenen Historie. Die Kulturnotizen stellen die oft von der Zeitgeschichte an den Rand gedrängte Biografien in den Mittelpunkt.

Poesie ist kein geschlossener Text, der für sich steht, sondern einer, der einen eigengesetzlichen Spielcharakter besitzt.

A.J. Weigoni

Labor-Logo von Peter Meilchen

KUNO versteht sich als kulturelles Gedächtnis für Ausgrabungen, Verschwundenes, Vergessenes, das in unsere Zeit passt und an konkrete Utopien erinnert. Die Redaktion recycled die Zukunft, wir schlagen vergessene Nebenstraßen ein, fahren Nebenstrecken ab, verweigern uns den grossen Highways und durchforsten den Papierkorb der Geschichte nach Vergessenem, aber dennoch für das Verständnis der Gegenwart – nach Essenziellem. Die Redaktion versteht es als ihren Auftrag, den Verlust des Gestern zu kompensieren, andererseits soll diese „Publikation“ täglich eine Schule des Befremdens sein. es geht nicht nur darum die Kunst vor dem Vergessen zu bewahren, sondern sie dem Prozess des Alterns zu entreißen.

Dem Künstler ist es untersagt, harmlos zu sein, unauffällig, guter Ehemann mit regelmässigem Einkommen. Der Künstler ist verpflichtet, unerträglich zu sein.

Hans Magnus Enzensberger

In unserer Gesellschaft geht die Komplexitätstoleranz verloren, man schaut nur noch auf die Müllkippe für aktuelle Trends. Kunst ist mehr als ein Zeitvertreib, wir erinneren in diesem Oneline-Magazin daran, daß man ihr das Leben widmen kann – und im Gegenzug von ihr reich beschenkt, mitunter beglückt, vielleicht sogar gerettet wird. Die Literaturszene ist arrogant geworden, behäbig, ein dauerlamentierendes Wohlstandsprodukt – wie das ganze Land. Angst und Verweigerungshaltung bestimmen das Klima, man schließt sich ab, man schließt sich ein, errichtet Grenzen und verteidigt sie. Es gibt es jetzt die Gelegenheit, die Kulturgeschichte der Menschheit ganz neu zu erzählen. Und schlüssigerweise nicht aus der Sicht der „Siegers“.

Ich glaube, es gibt im Moment […] eine sehr spannende Unklarheit des Ortes der literarischen Öffentlichkeit.

Thierry Chervel

Kultur folgt weiterhin der Abfolge: Konstrukt, Konzept, Konvention, Kopie, Fälschung. Und die selbstverständlich wieder von vorn. Auf KUNO üben wir ein, lustvoll auf Fremdheit zuzugehen, uns mit ihr zu konfrontieren. Kunst kann eine Schule der Fremdheit sein, in der wir unsere Wahrnehmungsroutinen, die so verklebt sind, wieder öffnen. Walter Benjamin spricht von der Kunst, verloren zu gehen, aber auch von der Kunst, das Verlorene, Unbeachtete wahrzunehmen. In der Irrkunst steckt der Gedanke des Flanierens, des Spaziergangs, des Lumpensammelns. Benjamin ist jedoch auch der Mann, der ins Exil vertrieben, der zum Herumirren in Paris, Dänemark, den Bergen gezwungen wurde. Und so bastelte er sich seine mental maps, seine kognitiven Landkarten. Die Aufgabe des Dichters besteht in einer permanenten Rückbesinnung; er muß zeitweilig vergessen, um sich überhaupt erinnern zu können.

Aussenseitertum der Eingeweihten.

Theodor W. Adorno

Erinnerung wird bei KUNO als anthropologisches, ästhetisches und soziales Phänomen begriffen. Archäologie ist in unserem online-Archiv eine Maulwurfstätigkeit. In der anthropologischen Dimension besteht ein Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Vergessen, ästhetisch zwischen Gedächtnis und Wahrnehmung, da die Gegenwärtige immer mit vergangener Erfahrung zusammenhängt, sozial zwischen Individualgedächtnis und dessen Eingebundenheit in soziale Systeme mit spezifischen gemeinschaftlich erinnerten Werten und Traditionen. Das Netz ist das Epizentrum einer neuartigen Beziehung mit der Welt, es kann ein Ort des Weltverstehens werden, mit dem der Kosmos der Objekte sichtbar gemacht wird. Das Gedächtnis funktioniert wie ein Speicher und klammert Historizität aus, das Erinnern hingegen mobilisiert die Zeiterfahrung, wählt aus und konstruiert im weitesten Sinne ein interessegeleitetes Bild der Vergangenheit. Verbürgte Geschichte als große Erzählung hat allem Anschein nach im 21. Jahrhundert ihre identitätsstiftende und verbindende Kraft verloren.

Buchstaben sind die Signaturen aller Schöpfung

Gershom Scholem

Kanonisierung schlägt in Mumifizierung um. Die Kritik ist provinziell. Sie bestätigt nur die Werte der Kultur, statt sie infrage zu stellen. Der deutsche Literaturbetrieb ist eine Gefälligkeitsanstalt, in keinem Zeitdokument wurde dies offensichtlicher, als in einem Gespräch zwischen Peter von Matt und Marcel Reich-Ranicki über „Kritik, Korruption und Vernetzung im Literaturbetrieb“:

M. R.-R.: Der Literaturbetrieb aller Länder ist korrupt. Der deutsche nicht mehr, als er es in der Weimarer Republik war, vielleicht etwas weniger.

P. v. M.: Ich möchte bei dem Stichwort Literaturbetrieb bleiben, und zwar eben in dem Problemfeld der möglichen Korruption. Wie ist das mit den Verlagen? Gibt es eine Einflußnahme der Verlage auf die Kritik, die dann tatsächlich diese Kritik steuert?

M. R.-R.: Wie der Rechtsanwalt verpflichtet ist, seinen Mandanten zu verteidigen, was immer er getan haben mag, so muß der Verleger, wenn er sich einmal entschlossen hat, ein Buch zu publizieren, möglichst viel tun, um dieses Buch unter die Leser zu bringen. Der Einfluß auf die Kritik wird auf unterschiedliche Weise ausgeübt. Je größer und je mächtiger ein Verlag und je intelligenter dessen Leitung, desto subtiler und komplizierter die Einflußnahme.

Einzig die Poesie ist in der Lage das Konstrukt des autonomen Individuums zu verteidigen.

KUNO will die Gegenwartsliteratur verteidigen, seine besten Momente und Intentionen erkennen und die Verwendung von Zeichen zur Repräsentation von Welt und Leben auf erklären und dabei zugleich das Herz der Poesie wiederfinden. Leser erfahren in den Kulturnotizen, daß Erinnerung, die auf sprachliche Vergegenwärtigung von Vergangenheit angewiesen ist, stets als Arbeit mit und an der Sprache. Sie ist bedeutungslos, weil sie die Welt hinter den Texten nicht mehr wahrnimmt. Die Redaktion lehnt die gängige Praxis der künstlerischen Isolation und ästhetischen Exklusivität ab. Texte brauchen das öffentliche Forum, benötigen Rezeption, Anerkennung und Widerstand. Essayistik ist für uns ebenso originäre Schöpfung wie Literatur und Kunst – und nicht einfach nur Wiederholung. Das Gegensatzpaar von Originalität und Epigonalität hat für diesen Textbegriff eine fundamentale Bedeutung, denn es soll zeigen, daß Kritik ohne Geschichte undenkbar ist.  Wiederholung und Wandel bekommen eine neue Bedeutung, wo die Kontinuität der Geschichte infrage steht und wo – mangels Kritik – Provinzen des Geistes entstehen.

Kritik ist die offene Stelle, an der neue Schreiber den Raum der öffentlichen Rede am besten entern können. Sie kommen von aussen, dringen ein, und im Inneren wird jetzt allein dieses von aussen Kommende aktiv als Kapital: Neuheit, Aussenwissen und Nichtwissen schaffen so Erneuerung.

Rainald Goetz

KUNO warnt vor sozialen und charakterlichen Fehlbildungen im Umgang mit Literatur. Kunst spiegelt die Beunruhigung unserer Zeit. Im Zeitalter der massenkommunikativ hergestellten virtuellen Wirklichkeiten ist die literarisch, semiotisch hergestellte Wirklichkeitskopie, ist die Fälschung die Wirklichkeit. Das Internet ist ein verwirrender Ort, einerseits unendlich, andererseits trifft man doch nur überall dieselben Gesichter. Einerseits ein utopischer Raum, der ein neues Mass an Demokratie schaffen sollte, bringt er andererseits nur ein neues Mass an Konsummöglichkeiten hervor. Die Kulturbürokraten laborieren weiterhin mit Mimesiskonzepten aus dem Biedermeier des Realismus. Stoffe werden im deutschen Literaturbetrieb nicht mehr erfunden, sondern nurmehr variiert, in ihrer Mythologie erweitert, in Zeitleisten verschoben, mit neuem Personal angereichert und dann, wenn nötig, werden diese Ausstattungsromane auch wieder reduziert.

Die Wurzel aller Gesellschaftskritik kann immer nur Sprachkritik sein, denn nichts ist politischer als die Sprache.

Kurt Drawert

Geschichte und Gedächtnis manifestieren sich nicht mehr bloss als Hochkulturformen. KUNO versucht das Außergewöhnliche zu erkennen das Neue zu fördern, das Bewährte zu bewirtschaften, das Mittelmässige einzudämmen und das Schlechte zu benennen, so es denn zeitgeistig symptomatisch oder ästhetisch interessant ist. Dies auf der Basis von Empathie und Anschauung, Abstraktion und Argument. Idealerweise sollen Herz und Kopf, Nähe und Distanz, Bildung und Sprachkraft, Scharfsinn und Mut, Tiefe und Witz zusammenkommen. Und es soll sich Demut mit Radikalität paaren. KUNO wendet sich dem Leser zu und nähert sich den Kunstwerken an, ohne freilich selbst Kunst sein zu wollen. Längst sind wir selbst auf der Seite der Wirklichkeitshersteller. Jedenfalls derer, die begreifen, wie Wirklichkeiten hergestellt werden und woraus sie bestehen: aus Sprache, Zeichen, Bildern, Kunst-Gefühlen.

Schleusenwärter im Nachrichtenstrom

Die virtuellen Wirklichkeitsmacher, die Hersteller von „Authentizität“ und „Aura“ sind heute besser durchschaubar als in den Anfängen der Ästhetik der Reproduzierbarkeit. Und man muss schon auf die eigenen Fälschungen hereinfallen wollen, um sich jetzt noch immer täuschen zu lassen. Technologien sind transformatorisches Spielzeug, die vielmehr vermitteln, denn wahrlich determinieren. KUNO möchte weiterhin Zugang vermitteln. Es ist die Arbeit am öffentlichen Bewußtsein, die wir als vordringlich begreifen. In der Unübersichtlichkeit der Veröffentlichungen entdecken die Kulturnotizen geheime Trends und versteckte Schwerpunkte. Dieses Online-Magazin versteht sich als Publikationsinstrument für die aktuell entstehende Kunst, auch mit Blick über die Schulter zurück. Die Kunst ist vollkommen durchökonomisiert. KUNO ist daran interessiert, ein Gegengewicht zu entwickeln. Die Freiheit von aller Zweckmäßigkeit begreifen wir als die größte Herausforderung für die Kunst. Und ihre vornehmste Provokation. Mit den Vertriebswegen von Literatur haben seit der Digitalisierung nur die Profiteure gewechselt. Die subversivste Frage ist immer noch die nach den Eigentumsverhältnissen.

Steht das Kürzel WWW nicht längst auch für World Wide War?

Die Edition Das Labor ist ein Projekt für interdisziplinären Austausch. Die Gründer interessieren sich für Kunst, die nicht illustriert, sondern anders politisch relevant ist, es sind Künstler, die sich für Lebensentwürfe und das Zu­sammen­leben interessieren und nicht für standardisierte Wege. Was diese Artisten zusammenhält, ist die Sprache; sie schafft einen gemeinsamen Denk- und Echoraum. KUNO übt sich in der Künstlerkritik am Konformismus, in seiner Feier trotziger Querköpfigkeit und gesunder craziness, in einem unbedingten Willen zur steten Originalität. Die Zeiten, in denen man im Rahmen einer Gruppe eine gemeinsame Ästhetik pflegte und gemeinsame Projekte verfolgte sind perdü. Die Artisten sind als Individuen unterwegs, und ihr Zugriff auf die Welt ist multiperspektivisch geworden. Die Betreiber der Kulturnotizen wollen nicht Wächter des Wissens sein, sondern co-Autoren, sie laden Künstler ein und wollen zugleich von der jungen Generation wissen, was die digitale Ära mit der Kunst macht. Bei diesem Netzwerk sind grundlegende Werte die Selbst­hilfe, Selbstverantwortung, Demo­kratie, Gleichheit und Solidarität. So genau die Autoren diese Online-Magazins die Wirklichkeit beobachten, sie ringen um den richtigen Ausdruck und um die richtige Haltung – nicht im Sinne des gerade Angesagten, sondern des ethisch Unausweichlichen.

Die Poesie ist eine republikanische Rede, eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner Zweck ist, wo alle Teile freie Bürger sind und mitstimmen dürfen.

Friedrich Schlegel

Die beteiligten Artisten vertrauen auf die ethischen Werte Ehrlichkeit, Offenheit, Sozial­verantwort­lichkeit und Interesse an anderen Menschen. Die Themen findet die Redaktion jedoch auch in den verbliebenen Trümmern und Bruchstücken von Biografien. Wir beschäftigen sich die Veröffentlichungen mit Fragen der Taktilität von Medien und ihrer Bedeutung für die Konstitution von Wahrnehmungsformen. Kritik bedeutet für KUNO, vom Gegenstand aus zu denken und sich ihm absichtslos zu nähern, denn erst dann erst fängt die Kunst, fängt die Literatur zu sprechen an. Der Sinn der Edition Das Labor liegt darin, daß sich Artisten und Künstlergruppen aus unterschiedlichen Regionen zusammen­schließen und dem herrschenden Kulturbetrieb etwas Eigenes ent­gegen­setzen. Diese Art zu arbeiten befreit die Gründer der Edition Das Labor von der Massenidentität, die in der globalisierten Gesellschaft entsteht.

Kalkulierte Provokation gegen die Intelligenzija

KUNO will den Online-Journalismus erneuern und dadurch den grossen Konzernen entreissen. Kritik (von griechisch kritein) heißt zunächst einmal „sondern, scheiden“, also differenzieren. Die Vorstellung, daß bei Künstlern die Weltveränderungsbotschaft obligatorisch ist, war mal eher eine Art von Gesellschaftsspiel der sich links gebenden Intelligenzia. Wer differenzieren will, muss im 21. jahrhundert über Kenntnisse verfügen. Kritik zu üben bedeutet für uns auch, über Bestehendes hinaus zu denken und Alternativen aufzuzeigen. Es muß wieder mehr versucht werden, die Zustände in einen größeren Zusammenhang zu stellen und sie nicht immer nur isoliert als „gute Story“ zu betrachten. Wir sind offen in viele Richtungen: Die Grenzen zwischen High und Low, Pop- und Hochkultur, Akademischem und Trivialem sind keine, an denen sich per se Wertungen oder In- und Exklusionsmechanismen festmachen. Widersprüche und Asymmetrien werden auf vielseitige Weise untersucht werden, weder ausschliesslich über das künstlerische Material noch ausschliesslich über die Kontexte. Die Schreibweisen reichen von  bloggig und locker bis ziemlich akademisch und alles Mögliche liegt in schönen Mixturen dazwischen.

Das Internet ist wahrscheinlich ein kostbares Werkzeug, um unbewusste Verbindungen aufzudecken oder auch um Gespenster zum Leben zu erwecken. Doch oft ist das Internet ohne jeden Nutzen, denn so leicht lassen sich die Gespenster nicht aufstöbern.

Patrick Modiano

Dieses Online-Magazin will werbefrei bleiben, kostendeckend produzieren, nicht kommerziell erfolgreich sein; Arbeitsprozesse sollten basisdemokratisch organisiert sein; zwischen Lesern und Redakteuren sollte ein wechselseitiger Kommunikationsprozess zustande kommen; wir werden unterdrückte Nachrichten bringen. Wir wollen Themen aufgreifen, die in klassischen Online-Medien bisher keine Chance haben. Und das erzählen, was wichtig ist. KUNO verküpft Gegenwartsdiagnosen und engagierter Zeitgenossenschaft zu einem Gedankengeflecht von inspirierender Vielschichtigkeit. Wenn etwas Wichtiges in den klassischen Medien nicht vorkommt, hat das für die Edition Das Labor keinen ideologischen Grund, es ist die Folge eines fehlenden Geschäftsmodells, das nicht als Problem des Kapitalismus verstanden wird, sondern mit Crowdfunding behoben werden kann.

Ist eine Welt denkbar, die den Neoliberalismus überwunden hat?

Mark Fisher

Es gibt keine Unabhängigkeit mehr, an allem hängt ein Preisschild. Während früher der vom Markt verpönte Künstler höher angesehen wurde und der markterfolgreiche Künstler etwas Dubioses verströmte, wird heute der Marktwert einer künstlerischen Arbeit zunehmend mit ihrer künstlerischen Bedeutung gleichgesetzt. Der Literaturbetrieb ist von der Vielfältigkeit der Gremien abhängig, die das Geld geben, Ihr Geschmack entscheidet darüber, welche Literatur gemacht werden und welche nicht. KUNO geht auf Distanz und bricht sowohl die Institution der Literatur als auch Literaturinstitutionen auf. Es geht nicht mehr darum, daß die eine Kulturform E wie ernsthaft ist und die andere U wie unterhaltend. Beides diskriminiert, denn natürlich macht E-Kultur auch Spass, genauso wie U-Kultur sehr ernsthaft sein kann. Man kann das eine gut oder den anderen schlecht finden, das hat aber nicht mehr mit Hoch- und Subkultur zu tun, mit Kulturgut oder Gebrauchskunst, sondern lediglich mit den individuellen Wahrnehmungsperspektiven der Zuschauer und Zuhörer. Wer Erfolg haben will in der Kunstwelt, muss sich als wiedererkennbares Image verkaufen. Man muß das aber nicht mitspielen.

Kunst braucht Kontemplation!

Logo by Stephan Flommersfeld

In diesem Versuchs-Labor entstehen Arbeiten, die keinem Kalkül und keiner Mode gehorchen, keiner Preißlogik folgen und auch nicht den Wünschen von Lektoren oder den Plänen von Kuratoren. Es ist mehr als eine Tendenz und eine virtuelle Entwicklungslinie, die sich in Musik, Film und Literatur verkörpert. Kluge Kunstwerke zeichnen vor allem Uneindeutigkeiten aus, die Brüche, die ihnen eingeschrieben sind, Widersprüche, die sie aufzeigen. KUNO benennt gesellschaftliche Mißstände, legt Selbsttäuschungen offen, entlarvt Verwerfliches und geht auf Konfrontationskurs. Politisches Kunst hat keine Wucht, wenn es alles mitbedenken will. Die Realität hat in der Kunst keine Bedeutung, wenn sie nicht inszeniert wird. Es enststehen Werke, die sich in unvorhersehbarer Weise bewegen, die Ableger zeugen, die sich verzweigen und an anderer Stelle wieder ansetzen.

Das oberste Ziel: Dialog, Gleichberechtigung, Transparenz, Offenheit.

KUNO ist ein Speicher der Ideengeschichten, ein Online-Archiv in dem sich Entwicklungslinien und Querverbindugen per Hyperlink nachvollziehen lassen. Die Idee einer Open-Source-Kultur stand Modell sowohl für I-Tunes und Google als auch für die ganze rhizomatische Art des Geschichtenerzählens im Internet. Marshall McLuhan sprach bereits in den 1960-er Jahren von einer Kultur des geteilten Wissens, des ständigen Austauschens und Modifizierens. Die Fragen elektronischen Wissensbestände lauten:

Sind die Daten nachhaltig gesichert?

Bleibt der Zugang gewährleistet?

Wie viele Menschen werden sich dereinst noch in den papierenen Restbeständen orientieren können?

Geht, was elektronisch ungesammelt bleibt, irgendwann für immer verloren?

Die Kulturnotizen sind der Versuch die Wunderwerke der Informations- und Kommunikationstechnologie mit Formen gesellschaftlicher Solidarität zu kombinieren. Um ein Edition zu betreiben, braucht man Optimismus, eine Mission oder den Glauben an eine Marktlücke, einen Riecher für den Trend, eine gute Portion Verbohrtheit. Diese Artisten machen keine Kunst, um Antihelden einer Subkultur zu sein, sondern vor allem, um die Sinngebung durch Kunst zu retten, um als Individuen zu überleben.

Ich meine, dass eben hierin der Sinn schöpferischer Literatur besteht: […] in den Dingen unserer Umwelt jene duftige Zartheit aufzuspüren, die erst unsere Nachkommen erkennen und zu schätzen wissen werden, in jenen fernen Tagen, wenn jede Bagatelle unseres platten Alltagslebens von vornherein erlesen und festlich wirken wird.

Vladimir Nabokov

KUNO veröffentlich Beiträge, die sich vorwiegend mit ästhetischen Themen befassen, stets die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für unser Denken und Handeln. Neben der Vermittlung moderner Kunst hat Ästhetik vor allem die Aufgabe, das neue Verhältnis zu der zunehmend vom Menschen gestalteten Natur, aber auch zu der durch Design und Inszenierung durchwirkten Welt, zu beschreiben. Nur wenn die Ästhetisierung des Realen begrifflich adäquat eingeholt werden kann, ist eine kritische Haltung ihr gegenüber möglich. Kritik kann zur Kunst werden, Kunst ist aber ihrerseits Kritik, nämlich an anderen künstlerischen Arbeiten. Kunst ist für die Redaktion niemals akademisch-abgehobener Selbstzweck gewesen, vielmehr muss sie immer auf den konkreten Menschen in seiner jeweiligen Umwelt reflektieren.

Denken entsinnlicht, aber das heisst nicht, dass es verinnerlicht.

Rainer Maria Rilke

Man kann nicht davon ausgehen, daß der Fortschritt nichts im menschlichen Zusammenleben ändert, aber an den Mechanismen, nach denen die einen die anderen ausbeuten, ändert sich kaum. Das Internet drängt auf Verflachung, aus dieser Verflachung kommt das Unheil und nicht aus der Tiefe, welche die User verloren haben. Das Grundproblem der Erinnerungskultur, der Zeugenschaft, der Autorschaft, ist die Frage:

Wer erzählt, wer verarbeitet, wem gehört Geschichte?

Dieses Dilemma kennzeichnet KUNO zwischen künstlerischem Anspruch und der modernen Aneignung dessen, was bisher geschah. Modernität und Alterität der Popmoderne, Vergangenheit und Gegenwart, das Zusammentreffen von Betrachter und Betrachtetem mittels fachlicher Reflexion zu bestimmen, das ist die grosse Aufgabe der Essayistik. Kunstbetrachtung ist auch ein sozialer Akt ist, der auf Schichten von Tradition, Kontext, Prägung ruht. KUNO hat immer über unseren Blick auf die Welt geschrieben, uns geht es darum, die Menschen zu überzeugen, daß sie genau hinschauen und sehen, was sie umgibt, das Schöne und das Schreckliche. In der Welt des Denkens ist nichts wichtiger als der Blick, der es begleitet. KUNO plädiert nicht für eine neue, sondern für eine anders betrachtete Kunstgeschichte.

Ein Fluß singulärer Reflexionen

Wir leben in einer Zeit, in der Bewußtseinstatsachen wie Mentalität, Stil und Phantasie verloren gehen. Vergessen schließt ein Wiedererinnern nicht aus, ist also im strengen Sinne kein Vergessen, läßt philosophisch als Potenz im Gegensatz zum Akt setzen, und bedient sich im Netz eines mechanistischen Bildes, dem zufolge eine verstärkte Anstrengung des Erinnerns ein um so stärkeres Regulativ des Vergessens erfordert. Allein auf der Grundlage dieser Erkenntnis ist der Erhalt eines Gleichgewichts sichergestellt, das sich durch den Mechanismus der strukturellen Amnesie weiterhin selbst reguliert.

Außenseiter finden sich immer!

Die Arbeit von KUNO ist ein Beispiel narrativer, diskontinuierlicher und nichtfinalisierter Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung, bei der sich die Autoren in ein historisches Verhältnis zu seinen Gegenständen setzen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts geschieht eine Entpolitisierung des Denkens und eine Auflösung der Staatsräson in Gleichgültigkeit. Das historische politische Gedächtnis beruht auf der Herausbildung eben des Selbstbewußtseins, das abhandengekommen ist. Wenn Kunst nicht allerorten verkommt und nicht bloß zur Befriedigung persönlicher Eitelkeit genutzt wird, wenn es also als Instrument der Diskussionen über Veränderungen begriffen wird, dann wird sich daraus auch wieder Kunst ergeben. Erkenntnis wird zu einem Vergnügen.

 

 

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Weiterführend →

Das Grundproblem der Erinnerungskultur, der Zeugenschaft, der Autorschaft, ist die Frage: Wer erzählt, wer verarbeitet, wem eine Geschichte gehört? – „Kultur schafft und ist Kommunikation, Kultur lebt von der Kommunikation der Interessierten.“, schreibt Haimo Hieronymus in einem der Gründungstexte von KUNO. Die ausführliche Chronik des Projekts Das Labor lesen sie hier. Diese Ausgrabungsstätte für die Zukunft ist seit 2009 ein Label, die Edition Das Labor. Diese Edition arbeitet ohne Kapital, zuweilen mit Kapitälchen, meist mit einer großen künstlerischen Spekulationskraft. Eine Übersicht über die in diesem Labor seither realisierten Künstlerbücher, Bücher und Hörbücher finden Sie hier.