Im Labyrinth der Lyrik

Ich sah die besten Köpfe meiner Generation an Ratenzahlungen zugrunde gehen.

Kate Tempest

Lyrik ist ein Spezialfall individueller menschlicher Informationsverarbeitung. Es beim Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) darum die Literatur aus der Isolierstation, in die die werkimmanente Germanistik sie jahrzehntelang eingesperrt hatte, herauszuholen und sie wieder der dreckigen Realität auszusetzen. Die Bandbreite der Literatur in diesem Jahr ist beachtlich. Nüchterne Aufzählungen stehen neben phantasmagorischen Verschlungenheiten. Diese Autoren machen uns bewußt, wie einseitig Sprache sein kann, wie anämisch. Daß sie das nicht sein muss, zeigen ihre Texte. Wir schätzen bei KUNO im Poetenpingpong der Positionen die ästhetische Gegenposition eines Ulrich Bergmann. Er ist ein Glücksgeborener. Und damit meine ich nicht nur das äußerliche Glück, sondern die seelische und psychische und, davon ausgehend, geistige und kulturelle Prädisposition und Begabung für Glückswahrnehmungen, die ihn selbst noch die Ironisierungen und Parodien seiner eigenen glücksbezogenen Größenphantasien als Glück erleben läßt. Gegen die Auffassung, dass die Verschmelzung von Glück und Kunst eine vormoderne Vorstellung sei, setzt er seine Modernisierungen des Glücksempfindens. Wenn er sein Leben in seinen Texten dialektisch paradox durch Spiel, Theater, Phantasie erweitert, weiß er, dass die ungedachten Gedanken und die unrealisierten Pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale Text eigentlich Liebesakt, Geburt und Erleuchtung vereint.

Das Spiel mit dem Paradoxen ist eine Art geistiges Perpetuum mobile. (U.B.)

Ulrich Bergmanns Werk reicht von intensiven Alltagsbeobachtungen über die Wiederbelebung historischer Figuren bis zur reinen Fiktion. Mit sprachlicher Souveränität und lyrischem Gespür vermag er prägnant und bildreich die ihn umgebenden Gegenstände, Landschaften und Menschen zu beschreiben. Er ist ein Freigeist, ihm gelten nur die Regeln der Syntax, er geht mit kühler Distanz an allen kunstideologischen Prämissen und saisonalen Tendenzen vorbei, ohne sich in der Attitüde zu verhärten. Wir verliehen Ulrich Bergmann für die Reihe „Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben” den KUNO-Lyrikpreis 2016. Darüber hinaus schätzen wir auch seine Kurzprosa, begleiteten uns im Jahr 2016 seine Schlangegeschichten, so setzen wir dies in 2017 mit den Arthurgeschichten fort, unter dieser lakonischen Kurzprosa blinzelt gelegentlich schalkhaft der Lyriker hindurch.

 Die Landkarte ist nicht das Gelände.

Alfred Graf Korzybski

Der Mensch lebt in zwei Welten: der Welt der Sprache & der Symbole und in der realen Welt. Die Sprache ist die Landkarte der Wirklichkeit. Man sollte also Wörter nie mit der Wirklichkeit gleichsetzen oder verwechseln. Als Archäologe des analogen Alltags erweist sich Herbert Laschet Toussaint (HEL) als feiner Erzähler des Privaten, Unspektakulären, des vermeintlich banal Alltäglichen. Er unternimmt den Versuch und lässt das Leben in Skizzen auferstehen. Diese kleinen Szenen sind – wie auch seine Gedichte – dabei immer von einer Trauer darüber durchzogen, dass die Welt, die er skizziert, nur hier und niemals mehr in der Realität vorhanden sein wird.

Würde man mich fragen, welcher Dichter zu den wichtigsten Stimmen gegenwärtiger Lyrik gehört … ich wüßte keinen anderen … als Hel, den Belgier vom Prenzlauer Berg.

Tom Schulz

Dieser Artist ist ein Selbstverschwender, der humoristische Gelegenheitswerke produziert. Er nutzt sein Pseudonym, um neue künstlerische Gefilde zu erobern. Sein geistvoller Zyklus Zeitgefährten regt an, weil er dem Digitalen die Rätselhaftigkeit der analogen Welt vor Augen führt. Diese Gedichte sind zwischen 1977 – 2008 entstanden, es sind Gedichte für Einzelne, Kopf-, Brust- und Kniestücke, Porträts von Freunden, Kollegen, gereimte Rezensionen, Liebesgedichte, Minnesang und Totenreden, aus 33 Jahren und 7 Städten. Das Unstete und Exzentrische, das Scheitern und Triumphieren, das sich in seinen unverstellten KritzHEL manchmal fast in Poesie verwandelt. Er zeigt dem Betrachter eine wunderliche Peep–Show, die den Blick in einen Raum voller Pappkameraden öffnet. Der Kern seiner Ästhetik ist die Dezentrierung des Körpers und des Blicks, die Konsequenz daraus ist, eine fast achtlose Großzügigkeit, mit der er seine Einfälle herschenkt als schöpfte er aus einer unerschöpflichen Fülle. In diesen Gedichten spürt er das Existenzielle im vermeintlich Banalen auf. Er hat es hat es nicht nötig, Fiktion zu erfinden … die Fiktion existiert bereits.

Poesie ist die Erfahrung dessen, was die Wörter überschreitet.

Yves Bonnefoy

Wie präzise Sophie Reyer mit der Sprache zu arbeiten vermag, blitzte bereits in binnen auf. Ihre Lyrik ist intelligent und spielerisch. Die Bezeichnung miniaturen erscheint mir mehr als zutreffend, diese Eingeneinschätzung trifft sich sehr gut mit dem, was wir in diesem Online-Magazin redaktionell ausloten. KUNO hat ein ausgesprochenes Faible für diese Art des Textens. Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität – was für Roland Barthes Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in der Kunstform der Twitteratur wieder.

In „die gezirpte zeit“  thematisiere ich bewusst Verletztheit und Unbehaustes. Erinnerungssplitter und atmosphärische Momente sollen einer unsentimentalen Sicht auf die Welt und ihre Bedingungen gegenüber gestellt werden, ohne sie gegeneinander auszuspielen.

Sophie Reyer

Photo: Konstantin Reyer

Jede Dichtung spricht über die Situation ihrer Herkunft. Natürlich vernetzt sich Sophie Reyer mit Ingeborg Bachmann (Die gestundete Zeit) und beispielsweise Paul Celan (Dann zirp ich leise, wie es Heimchen tun) oder Rainer Maria Rilke (Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt in euch?). Und selbstverständlich ist die Gutenberg-Galaxis ein Referenzuniversum, das Schreiben wird durch das schreibende Analysieren gebrochen. Wie jeder Lyriker erschafft Reyer eine ganz eigene Wahrnehmung, eine Beobachtung, die sich sowohl aus dem kollektiven wie auch individuellen Bewußtsein speist. Wir freuen uns auf KUNO  in 2017 Kostproben aus einem neuen Zyklus präsentieren zu dürfen.

Dichter sind natürlich Schamanen, die mit okkultem Wissen Schabernack treiben

Ronald Pohl

Gedichte bedeuten für Holger Benkel etwas, das Seamus Heaney so beschreiben hat: “die Authentizität archäologischer Funde, wobei die vergrabene Tonscherbe nicht weniger zählt als die Ansiedlung; Dichtung als Ausgrabung also, als das Ans-Licht-Holen von Fundstücken, die am Ende als Pflanzen dastehen.” Es um eine Phantasie, die zugleich frei und verbindlich ist. Klarheit und Magie waren für Benkel keine Widersprüche.

Wie ein Archäologe hebt Benkel Dinge, Gedanken, Zusammenhänge, die begraben wurden von der Zeit, ans Licht unserer Tage. Und belässt ihnen dabei doch ihr Geheimnis.

Auch der Holger Benkel verfügt über kulturelle Deutungsmuster und Übersetzungsmöglichkeiten, die anderen fehlen. Er ist ein grabender Erkunder, von Bildern, von unterirdischen Bedeutungsströmen, von Sprache. Für ihn ist Literatur Topografie und Erinnerung, Landvermessung und Rekonstruktion in einem. Lyrik ist ihm eine übriggebliebene Form, die an vormoderne Reflexe appelliert und, zunehmend vergeblich, einen magischen Nimbus hegt und pflegt, der aus archaischen Zeiten stammt. In seinen Gedichten geht es oft um Abwesendes, um Vergangenes und Verlorenes, das mit Worten in eine andere Zeit, in die Gegenwart gerettet werden soll. Zugleich ist das Vertrauen des Lyrikers Benkel in die Sprache nicht ungebrochen. Deren Unmittelbarkeit ist verloren. Das weiss er, seine Gedichte wissen das. Sie wollen jedoch in Erinnerung rufen, was einmal war, und sie wissen zugleich um die Vergeblichkeit, an etwas zu erinnern. Für diesen Poeten leuchtet die Devise einer abfallgeplagten Epoche auch als Lebensdevise ein.

Die Welt der Sprachmagie

Dieser Lyriker hat ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen. Sein Beharren auf der ehemals kultischen oder liturgische Funktion der Poesie ist wohltuend. Zugleich streicht Benkel das Dilemma aller heutigen dichterischen Bestrebungen hervor. In seinen Augen funktioniert die Verknüpfung des Sprachmaterials in der Lyrik wie die Technik des Aufnehmens und Schneidens der Bilder im Film (shots and cuts), wobei das beide Verbindende in der Dichtung wie im Film der Rhythmus ist. Wer das Handwerk der Verskunst aus dem Zusammenhang der kultischen Sinngebung herausreisst, wird mit dem Geschenk der Freiheit belohnt. Der Aufbruch in eine Freiheit ohne jegliche Verbindlichkeit ist das trügerische Geschenk einer Kultur, die nichts so sehr ersehnt wie Autonomie und Ungebundenheit. Benkel stellt die Fragen nach kultureller und nationaler Identität nicht rhetorisch, sondern als drängende Suche; auch nach dem Ich. Durch die Originalität seiner Wortfindungen kann er das Prestige des Schamanen und Geisterbeschwörers noch verwalten. Man muss sich auf dieses Schreiben einlassen, als buchstabiere man mit Benkel die Welt neu. Dann gehen einem Augen und Ohren auf, und viele Zeilen prägen sich nachhaltig ein.

Die ganze Landschaft ist ein Manuskript

John Montague

Mit großer Spannung warten wir in 2017 auf die 10. Ausgabe von Versnetze. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart. Dieser Herausgaber ist kein selbsternannte Literaturermöglicher, jedes Jahr wählt Axel Kutsch, die repräsentativsten und die singulärsten Gedichte aus. So entsteht ein weit gespannter Überblick zur aktuellen Lyrik, und zugleich ergeben sich neue Perspektiven von experimenteller Poesie über Naturlyrik bis zur jungen Dichtung. Neben bekannten Namen trifft man immer wieder auf Neuentdeckungen, die, da kann man sicher sein, Jahre später zum Kanon der deutschsprachigen Literatur zählen werden. Erinnerungsbilder tauchen in diesen Anthologien immer wieder auf, Bilder, in denen sich ein Ich seiner Wahrnehmung zu vergewissern sucht. Sie stehen neben leichten, beinahe heiteren Gedichten. Berührend sind die Liebesgedichte, und auch sie sind geprägt von mäandernden, schwingenden Suchbewegungen. Bisweilen werden sie einer strengen Form unterworfen, die sie mit geschickten Brechungen unterlaufen.

Lesen Sie auch die Gratulation von Markus Peters zum 70. Geburtstag auf KUNO. Eine  Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland hier.

Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern.

Peter Maiwald

In 2017 erscheint das lyrische Gesamtwerk von A.J. Weigoni einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren. Auf jedem Cover findet sich ein Original–Holzschnitt von Haimo Hieronymus, den der Künstler direkt auf die Cover gestanzt hat – jedes Buch ist Sammlerobjekt und zugleich Kunstwerk. Diese Gedichtbände stehen auf vielfältige Weise zueinander in Beziehung stehen. A.J. Weigoni hat diese Gedichte nicht einfach hervorgeholt und reproduziert, sondern sie in einer Rekonstruktion für seine Trilogie Letternmusik – ein lyrisches Polydram in fünf Akten, Dichterloh – ein Kompositum in vier Akten und Schmauchspuren  – eine Todeslitanei neu erarbeitet. Alle Exemplare sind zusammen mit dem auf vier CDs erweiterten Hörbuch Gedichte ab 2017 in Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich. Darauf auch die Produktion Unbehaust, sie provoziert mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte und nicht durch Dolby–Surround.

Weigoni schafft mit seinem Text, Papiergeräuschen und der Stimme von Bibiana Heimes  eine Atmosphäre, die uns einem Gedanken ganz schnell auf den Pelz rücken lässt: wir sind alle Gefangene unserer selbst.

Laurin Dreyer, Radio Bremen

Der Mülheimer Komponist Tom Täger hat ausschließlich Papiergeräusche verwendet. Die Asiaten verehren das Papier für diese Schwäche, Papier hat sich auf die Seite unserer Verwundbarkeit und Sinnlichkeit gestellt. Papier fühlt sich angenehm an und riecht gut. Papierseiten entsprechen dem menschlichen Lesetempo, unserem Rhythmus.

Das Hörspiel Unbehaust wird am 21. Januar, ab 20:00 Uhr im Rahmen der Präsentation des Schuber Ausstellung präsentiert im:

Makroscope / Friedrich-Ebert-Strasse 48 / 45468 Mülheim an der Ruhr.

 

 

 

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Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann. KUNO 2017.

Zeitgefährten von HEL, KUNO 2017.

Ultrakurzgedichte von Tom de Toys. KUNO 2017.

Eingestreutes von Sophie Reyer, Kulturnotizen 2017

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel, Edition Das Labor 2015

Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2017

Der Schuber wurde handgefertigt von Olaf Grevels (Vorwerk Kartonagen) – Photo: Jesko Hagen

Weiterführend → Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Hörproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.