Dieses Buch gibt einen Einblick in das Gattunsgrenzen hinterfragende Werk Mara Genschels. Zwar kennt und nutzt sie Verfahren der bildenden Kunst und der zeitgenössischen Musik. Dennoch wird dabei der Kernbereich der Literatur nicht verlassen. Ihr Werk kann darüber hinaus als ein Modellfall betrachtet werden, wie von Lesern mit ästhetischen Herausforderungen umgegangen wird. Verständnishürden, so erweist sich hier, müssen nicht unbedingt in der Struktur eines Artefaktes liegen. Hürden können auch durch die hergebrachten Gepflogenheiten unseres öffentlichen Umgangs damit erst erzeugt werden.
„Ich habe noch nie einen bedeutenden Lyriker getroffen, der nicht sehr umgänglich war“, sagt mir ein nicht nur bedeutender Lyriker [1], sondern auch einer, den ich selbst schätze. Und in der Tat ist es plausibel: Wer seine Sprache beherrscht, findet mehr Möglichkeiten, einen aufkommenden Dissens sprachlich zu schlichten. Aber auch dieser Verdacht ist unabweisbar: Vielleicht gibt es viele unfreundliche aber bedeutende Lyrikerinnen, die im Kleinklein murkeln, weil es für die Lektoren immer zu unbequem war, sich mit dem Kram auseinandersetzen, den jene schon wieder patzig einfordert. Woher sonst die Faszination, die einzelne Gnatzköppe und Stänkerer auf den Literaturbetrieb ausüben? „Pöbel mal, Lyriker!“ (Mara Genschel) Liegt dem nicht das Bewusstsein zu Grunde, dass irgendetwas fehlt?
Mara Genschel sieht im gesamten Buchmarkt eine [solche] Affirmationsmaschine[, wie sie hier im Kleinen beschrieben wurde]. Literaturmanagerinnen, Kulturbeamte und Literaturwissenschaftlerinnen leben von dem Ruf einer vielfältigen Buchkultur ebenso wie Autoren, die auf diesem guten Ruf Trittbrett fahren und Derivate feilbieten.
Ambitioniertes Kunstverständnis, einer der Hauptschöpfer dieses Rufes, gilt dabei allzu oft als hinderlich und der Künstler wird zum Störenfried mit Starallüren, wenn er Sonderwünsche jenseits etablierter Raster anmeldet. Mara Genschel macht für diesen Literaturbetrieb keine Lyrikbände mehr.
Sie inszeniert dies jedoch auch nicht als ein „großes Schweigen“ oder ähnliches. [Wenn diesem Band über sie irgendetwas Inszenatorisches anhaften sollte, ist das der Initiative des Verlegers und seiner Beiträger geschuldet. Immerhin nimmt das Buch nicht für sich in Anspruch, in irgendeiner Weise ein gültiges oder vollständiges Bild der Dichterin zu entwerfen. [2]
Schon dass sie uns Rechte für den Wiederabdruck freigibt, ist ein Akt der Freundschaft, zu dem sie überredet werden musste, und wahrlich kein Schielen nach einer Hintertür, erklärt der leidgeplagte Kleinverleger hier.]
Aber man darf auch unterstellen, dass Mara Genschel annimmt, dass eine Ausbreitung ihres Kunstverständnisses förderlich für das Gemeinwesen wäre. Sie schlägt also eine Möglichkeit aus. Nun könnte man argumentieren: Ihr Fehlen auf diesem Markt wird gar nicht bemerkt. Sie vollstrecke genau die Marginalisierung, vor der sie Angst habe. Funktional im Sinne ihrer Utopie wird diese Haltung allenfalls, wenn diese als exemplarisch wahrgenommen würde. Ihre Zurückhaltung in Bezug auf Inszenierung ist jedoch weder Bescheidenheit noch gar bloß Bescheidenheitstopos, sondern Programm, denn schon hier lauert eine weitere Gefahr für das Konzept der Dichterin. Mara Genschel möchte lieber nicht als Marke oder Maskottchen enden, welche(s) das völlig Jenseitige, das Andere des Betriebes verkörpert, wie es der Markt immer wieder auch zu seiner Legitimation erfordert, um sich selbst aus dem Bewusstsein zu schaffen: „Seht doch, hier ist alles möglich! Der Markt organisiert nur Distribution auf bestmögliche Weise, die Inhalte sind ihm ja egal!“
Mara Genschel bleibt als Künstlerin natürlich auf irgendeine Form von Öffentlichkeit angewiesen. Wo sie sie nicht selbst organisieren kann, indem sie Hefte in Kleinauflagen herstellt und vertreibt 3, steigt für sie der Aufwand: Jeder Veranstalter, der Mara Genschel einlädt, muss sich darauf gefasst machen, durchleuchtet zu werden, inwiefern gerade seine Veranstaltung Momente der Affirmation des Üblichen enthält, die Mara Genschel nicht mittragen möchte, oder wenigstens darauf, dass sie die situative Konstellation zwischen Auftretenden, Publikum und Ort mit den Mitteln schräger Komik in etwas anderes transzendiert. [4] Ihr Konzept wird damit jeweils eigens auf diese Umstände der Anfrage angepasst.
Für den Veranstalter, der Mara Genschel einlädt, heißt das immer, er weiß nie genau, ob ihr Auftritt auch für ihn gänzlich „gut geht“. Wenn es schiefgeht (aber auch wenn es scheinbar gut geht) ist nie ganz klar, ob eine Provokation intendiert war, oder ob die Künstlerin für das, was sie sich vorzunehmen genötigt sah, zu provisorisch gerüstet war. Und so kann es vorkommen, dass eine Veranstalterin vergrätzt zurückbleibt, obwohl das Publikum angeregt folgte und Mara Genschel allemal zuzutrauen ist, weitherzig genug zu sein, niemanden bloßzustellen. Ihr Horizont ist eher auf strukturelle Momente der Literatur und ihrer Öffentlichkeit ausgerichtet, der täglichen Arbeit anderer begegnet sie durchaus mit Respekt. Für Veranstalterinnen, deren Qualitätsbewusstsein [5] so überspannt ist, dass sie die Verantwortung für das, was geschieht, nicht oder nur mühevoll den geladenen Literaturprofis überlassen wollen, ist das mitunter problematisch.
Veranstaltungsreihen gehen am nächsten Dienstag zum nächsten Thema über, Mara Genschel behält einen Wust vielfältiger, nicht leicht zu verallgemeinernder Erfahrungen zurück und kann nichts tun, als sie für die nächste Veranstaltung fruchtbar zu machen.
Nun gibt es immer den Verdacht, dass in solchen Zwangslagen nur steckt, wer eben nicht gut genug oder nicht weit genug wäre, und man hält sich, leider immer erst nachträglich, an den Lichtgestalten unabhängiger Geister fest, die der Markt „letztlich“ eben doch nicht unterdrücken konnte.
Also muss hier mit Namen und Adresse gearbeitet werden, will man zeigen, dass dieseAnpassungsleistung durch Höflichkeit und Zurückhaltung nicht Problem der niederen Chargen des Betriebs ist.
Fußnoten
1 [Die Wahl des Geschlechtes folgt dem Zufall. Sowohl die maskuline als auch die feminine Form verstehen sich wo es nicht anders klar aus dem Kontext hervorgeht inklusiv.]
2 [Auch die Dichter Norbert Lange und Tobias Amslinger oder der Kritiker Michael Braun beispielsweise haben sich bereits intensiver mit Mara Genschels Werk beschäftigt, Arbeiten zu ihr verfasst und dabei Aspekte ihres Werks hervorgehoben, die hier fehlen. Die Auswahl der hier versammelten Arbeiten erwächst aus rein praktischen Gesichtspunkten, welchen Buchpreis der Verleger den Interessierten zumuten wollte, und möglicherweise nicht zuletzt der Bequemlichkeit des Herausgebers. „MG: Kriegt ihr dafür eigentlich Geld? | MS: Keine Ahnung! | LB: Nö! | MS: Gut! …“ Siehe Gespräch Nr. 5 in diesem Band.]
3 Auf http://www.referenzflaeche.com/about/ erläutert sie: “Die Referenzfläche ist kein abgeschlossener Gedichtband. Sie lässt sich trotzdem bequem ins Regal stellen. Ich bringe in diesem Konzept meine Vorstellung von Nachbereitung und Übergriff auf vermeintlich stabilen Text unter. Den stabilen Text scheint die schwarz/weiß-Branche als Vertriebs- und Verbreitungssouverän zwar noch immer zu verwalten. Seine Unberührbarkeit ist aber längst nicht mehr real. Bei der Referenzfläche handelt es sich um Verfahren, die sich in größeren Auflagen wie denen von Literaturzeitschriften oder Lyrikeditionen nur als Reproduktion ermöglichen lassen – die aber in letzter Konsequenz nur als Originaleintragungen funktionieren.
In kleinsten Auflagen (20-50) stelle ich Textsammlungen zusammen, lasse sie drucken und greife dann nach meinen Vorstellungen handschriftlich ein. Jedes Heft ist somit ein Unikat.
Da das Prinzip nicht auf bibliophilem Pathos (im Sinne beispielsweise der Wertzuschreibung künstlerischer Handsigniertheit) basiert, verkaufe ich sie zum Selbstkostenpreis von 5,- pro Stück.
Ich entwickle die Referenzfläche laufend weiter. Das betrifft sowohl die Produktion weiterer Rohtexte, als auch die Erprobung weiterer Eingriffe. Falls Ihnen ein Heft der nullten oder ersten Auflage gefällt – bestellen Sie gern auch Hefte der vierten oder achtzehnten.“,
4 Mara Genschel bemerkte einmal: „Hättest du nur irgendein Interesse daran, die Bedingungen in und unter denen du überhaupt Autor zu sein glaubst, offenzulegen, alles würde sehr viel schneller politisch, als es den Gästen auf deinem Podium lieb sein kann.“
5 Qualitätsbewusstsein hat ja leider wegen seiner Neigung zur Einsinnigkeit der Maßstäbe stets eine gewisse Tendenz zur Verengung.
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Mara Genschel Material Bertram Reinecke [Hg.], ein Band mit Außeinandersetzungen mit dem Werk der Dichterin von Luise Boege, Ann Cotten, Michael Gratz, Martin Schüttler und Meinolf Reul.
Dazu enthält der Band einen Dokumentationsteil mit teilweise unveröffentlichten Arbeitsproben von Mara Genschel
100 Seiten, 24 X 18cm / 12 Euro (D)Bestellen unter info[at]reinecke-voss.de
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.