Der weisse Wal an der Wupper

Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern, was sie bewegt.

Pina Bausch

Während meine Jungendfreude sich alle nach D-Dorf, Berlin oder Hamburg orientierten, kam ich als „Kriegsdienstverweigerer“ mit dem Zivi-Ticket nach Elberfeld. Im doppelten Sinn, damals fuhr der Schienenbus noch zwischen Düsseldorf und Wichlinghausen. Mein Haltepunkt war Osterbaum, direkt in der Nähe des „heiligen Bergs“. Mein Einsatzort, die Thomaskirche in der Nordstadt. Ich wohnte direkt unter dem Glockenstuhl in einem Raum ohne Dusche, nur mit einem Raum für die Toilette, die Körperpflege erfolgte am Waschbecken. Morgens um 7:00 Uhr wurde ich nicht durch das Glöckengeläut geweckt, sondern durch die Schwingungen, die sich durch den Holzboden ankündigten.

Die Tätigkeit was physisch und psychisch sehr anstrengend, wie sich herausstellen sollte. Am Vormittag das Betreuen von alten Gemeindemitglieder und am späten Nachmittag dann Jugendarbeit. Für jemanden, die völlig unausgebildet auf Menschen losgelassen wurde, gelinde gesagt fordernd. So erklärt sich vielleicht, warum ich später auch mit den Wackelköppen klargekommen bin.

Kontemplation boten die frühen Stücke der Bausch, die Begegnungen mit dem Free-Jazz (mit Brötzmann habe ich später an einer Hörspielproduktion gearbeitet) und eben Else. Als lyrischer Beltracchi gelang mir nach dem flanieren durch die Nordstadt eine wahrscheinlich angemessene Lasker-Schüler-Fälschung.

Das Schauspielhaus und das von der Heydt-Museum bereicherten meine Bildung, und in der „Börse“ erweiterte z.B. Albert Mangelsdorff mein Verständnis für Musik, einem Menschen, der ähnlich frei von allem war, traf ich später nur mit Frank Michaelis, aber das ist eine andere Geschichte.

Pina Bausch (Mitte), 30. Januar 2009 (v. l. n. r.) Pascal Merighi, Dominique Mercy, Pina Bausch, Fernando Suels Mendoza, Peter Pabst. Photo: Leafar aka Raphael Labbé

 

 

Dieser Tage eine Re:Lektüre von Else Lasker-Schüler. Erinnerte mich daran, dass ich kaum in Wuppertal lebte, ihr Stück IchundIch sah, ähnlich wie die frühen Stücke von Pina Bausch machte es einen überwältigenden Eindruck auf mich. Es führte damals zu zahlreichen Kontroversen unter Werkkundigen der Dichterin. Während die einen Else Lasker-Schüler nahezu prophetische Weitsicht unterstellten, da sie schon weit vor 1944 den Untergang des Nazi-Regimes beschrieb, sahen andere in dem Drama vielmehr Anzeichen geistigen Verfalls. So schrieb Armin Juhre voller Bewunderung:

Welcher der vielen deutschen emigrierten Schriftsteller hat sich je zu solcher Kühnheit aufgeworfen?

Ernst Ginsberg bemerkt dagegen 1958 in einem Brief an den Nachlassverwalter Manfred Sturmann:

Ich habe es nur mit tiefster Erschütterung, ja ich gestehe: zuweilen nur unter Tränen lesen können. […] Man spürt die geistige Nacht über die greise Dichterin hereinbrechen, über die nur noch seltene Sternschnuppen hinzucken.

So war das Werk viele Jahre lang nur zu wissenschaftlichen Zwecken überhaupt einsehbar: IchundIch wurde zunächst gar nicht, 1961 in wenigen Ausschnitten und erst 1969 kritisch kommentiert vollständig im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft veröffentlicht. Es wurde schließlich am 10. November 1979 im Großen Schauspielhaus Düsseldorf welturaufgeführt, am 8. Dezember 1979 folgte die Aufführung im Schauspielhaus Wuppertal. Und ich habs schauen dürfen. Über eine Bekannte vom Stadtjugendring bekam ich ermässigte Eintrittskarten für das Schauspielhaus: zu 3,60 DeMark! Nach der Pause verliessen die meisten Bildungsbürger die Vorstellung und wir konnte uns in den ersten Reihen lümmeln.

Das Stück von Pina Bausch über Else Lasker-Schüler, begleitet vom Saxophonisten Brötzmann… gibt es nur in meiner Erinnerung…

 

 

 

Weiterführend 

Else Lasker-Schüler aka Prinz Yussu

KUNO würdigte Else Lasker-Schüler mit einem Rezensionsessay.

Poesie zählt für die Kulturnotizen weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.