Der englische Schriftsteller und Schauspieler Stephen Fry hat mit seinem bemerkenswerten Buch Feigen, die fusseln (Aufbau-Verlag) nicht nur ein kenntnisreiches, originell geschriebenes Werk über die Reize von Metrum und Reim verfaßt, sondern im abschließenden Kapitel mit Blick auf die Situation in seinem Heimatland auch eine kritische Bestandsaufnahme gegenwärtiger Poesie vorgelegt. Fry schreibt unter anderem: „Ich denke, dass viele Gedichte, die heute geschrieben werden, an Blutarmut leiden. Ihnen fehlt das Eisen im Blut, sie haben keine Energie, keinen Antrieb… Viele feine Miniaturen, aber nur wenige mutige Explosionen von Leben und Farbe.“
Wirft man einen Blick auf die deutschsprachige Lyrik unserer Tage, so ergibt sich, gerade was die breit gefächerte jüngere Autorengeneration betrifft, ein ähnliches Bild: kühne Gedichte gehören eher zu den Ausnahmen. Bei allem Talent überwiegen weitgehend die feinen, gekonnt verfaßten Miniaturen. Mutige Explosionen, wie wir sie zum Beispiel haufenweise von Rolf Dieter Brinkmann oder Thomas Kling kennen, sind selten zu registrieren. Das Wohltemperierte ist angesagt. Man liest es gerne, aber es reißt einen nicht vom Hocker.
Der Lyriker und Essayist Theo Breuer, der sich wie kaum ein anderer in der aktuellen deutschsprachigen Poesie auskennt, bezeichnete kürzlich in einem Aufsatz den von Kritikern hochgelobten Lyriker Nico Bleutge als begabten Spitzenklöppler. Sind wir nicht von lauter jungen begabten Spitzenklöpplern umgeben, bei denen es – wie in Uljana Wolfs „aufwachraum“-Gedichten – nur gelegentlich zu kleineren Explosionen kommt?
Die beiden Lyrik von jetzt-Anthologien und Neubuch. Neue junge Lyrik vermitteln einen guten Überblick über die enorme Breite an talentierten neuen Poeten im deutschen Sprachraum. Aber wirklich Aufregendes ist kaum zu entdecken. Vertraut man der Einschätzung von Stephen Fry, dann ist die Lage in England zur Zeit nicht anders: „… es wirkt vielmehr so, als wäre die Lautstärke auf leise gedreht, als fürchteten sich die Dichter vor Kühnheit.“ Also – etwas mehr Mut zum Risiko. Es braucht ja nicht gleich ein neues Waste Land dabei herauszukommen.
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Lesen Sie auch die Gratulation von Markus Peters zum 70. Geburtstag auf KUNO. Eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland hier.
Unbedingt zu empfehlen ist der Band Versflug, der ausgewählte Gedichte aus den Jahren 1974 bis 2015 enthält. Neben neuen Gedichten, die zum Teil in Literaturzeitschriften (u. a. Das Gedicht, Matrix) und Anthologien wie Jahrbuch der Lyrik veröffentlicht wurden, enthält dieser Versflug durch rund vierzig Jahre ausgewählte Gedichte aus Kutschs bisherigen Lyrikbänden. Die Anordnung der Gedichte erfolgt nicht chronologisch, sondern in einer themenorientierten Zusammenstellung als doppelbödiges Spiel aus Scherz, Satire, Ironie mit ernsten Zwischentönen.