Die Elfenfelderin

Else Lasker-Schüler ist die stärkste und unwegsamste lyrische Erscheinung des modernen Deutschlands.
Karl Kraus

Aus der Sammlung Gerlinger: Karl Schmidt-Rottluff, „Lesende (Else Lasker-Schüler)“, 1912, Öl auf Leinwand, 102 mal 76 Zentimeter – Nun eine Dauerleihgabe an das Wuppertaler Von der Heydt-Museum

Die Wupper ist nicht nur ein Fluß, der sich durch das bergische Land schlängelt. Er verbindet unterschiedliche Ortschaften, wie die ehemaligen Großstädte Barmen und Elberfeld. Die Topografie wird durch das Tal dieses Flußes geprägt, die sich rund 20 Kilometer durch das Stadtgebiet windet und deren steile Hänge oft bewaldet sind. Else Schüler wurde am 11.2.1869 als jüngstes von sechs Kindern in Elberfeld geboren. Die Stadt wurde Wuppertal wurde erst zum 1. August 1929 im Rahmen des Gesetzes über die kommunale Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets gegründet, zu der Zeit lebte die Elfenfelderin längst in Berlin, wahrscheinlich hat sich dieses bergische Oberzentrum lange Zeit so schwer mit der Würdigung ihrer Mitbürgerin getan. Die erfolgte 1990 durch die Gründung der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft (ELSG).

Zudem hat KUNO einen Besuch des Wuppertaler Von der Heydt-Museum vorgemerkt. Die Sammlung wurde kürzlich um eine bedeutende Dauerleihgabe bereichern: Karl Schmidt-Rottluffs expressionistisches Porträt „Die Lesende“ der Dichterin Else Lasker-Schüler aus der Sammlung Hermann Gerlinger.

„Schmidt-Rottluff hat mich im Zelt sitzend gemalt…“, schrieb Else Lasker-Schüler in einem ihrer 1912 in der Zeitschrift „Der Sturm“ veröffentlichten „Briefe nach Norwegen“, „… mein Mund ist rot wie eine Dickichtbeere, in meiner Wange schmückt sich der Himmel zum blauen Tanz, aber meine Nase weht nach Osten, eine Kriegsfahne, und mein Kinn ist ein Speer, ein vergifteter Speer. So singe ich mein hohes Lied.“

Im Nationalsozialismus war die Stadt ein wichtiges Zentrum sowohl der NSDAP als auch des Widerstands, sowohl der Gewerkschaften und politischen Opposition als auch der Kirchen, was nicht zuletzt die Barmer Erklärung zum Ausdruck brachte.

Die Mutter wurde zu einer zentralen Gestalt ihrer Dichtung, ihr Vater, Aaron Schüler, ein jüdischer Privatbankier wurde später Vorbild für die Hauptfigur aus „Die Wupper“. Else galt als Wunderkind der Familie, denn sie konnte bereits mit vier Jahren lesen und schreiben. Ab 1880 besuchte sie das Lyzeum West an der Aue. 1894  heiratete sie den Arzt Dr. Jonathan Berthold Lasker und zog nach Berlin. Dort arbeitete sie im Rahmen ihrer zeichnerischen Ausbildung. Ihr erste Gedichtband „Styx“ erschien 1902. Am 11.4.1903 wurde Lasker-Schüler von Berthold Lasker geschieden, am 30.11. heiratete sie den Schriftsteller Georg Lewin, dem sie sein Pseudonym Herwarth Walden vorschlug. Nach der Trennung von Herwarth Walden 1910 wurde 1912 auch die zweite Ehe geschieden. Ohne eigenes Einkommen lebte Lasker-Schüler jetzt von der Unterstützung durch Freunde, insbesondere Karl Kraus. 1912 begegnete Lasker-Schüler Gottfried Benn. Es entstand eine intensive Freundschaft, die sich literarisch in einer großen Zahl von Liebesgedichten niederschlug, die sie Benn (Giselheer) widmete.

Else Lasker-Schülers Kunst ist sehr verwandt mit der Ihres Freundes, des blauen Reiters Franz Marc.
Fabelhaft gefärbt sind alle ihre Gedanken und schleichen wie bunte Tiere. Zuweilen treten sie aus dem Wald in die Lichtung: wie zarte rote Rehe.
Sie äsen ruhig und heben verwundert ihre Hälse, wenn jemand durchs Dickicht bricht. Sie laufen nie davon.
Sie geben sich ganz Preis ihrer Körperlichkeit. Else Lasker-Schüler trägt ihr Herz an einer goldenen Kette um den Hals. Sie ist ohne Scham: jeder darf es betrachten …
Klabund

Franz Marc: Versöhnung nach dem Gedicht von Lasker-Schüler

Für das Titelblatt der Doppelnummer des Septemberhefts 1912 von Herwarth Waldens Kunstzeitschrift „Der Sturm“ schuf Franz Marc den Holzschnitt „Versöhnung“, eine Illustration des gleichnamigen Gedichts von Else Lasker-Schüler. Im Dezember 1912 lernten Franz und Maria Marc die Dichterin im Berliner Heim seiner Schwiegereltern kennen. Dem Treffen war eine Korrespondenz vorausgegangen, die sich zu einem regen Briefwechsel zwischen dem Prinzen Jussuf von Theben (Else Lasker-Schüler) und dem Blauen Reiter (Franz Marc) bis zum Sommer 1914 entspann. Von den privaten eigenhändig bemalten Kartengrüßen und Briefen sind 66 von Else Lasker-Schüler, 28 von Franz Marc erhalten. Nach Peter Klaus Schuster liegt das Einzigartige dieser Künstlerfreundschaft in der „doppelten Doppelbegabung“: So wie sich Franz Marc in seinen Karten über das Bild hinaus als poetischer Maler zeige, antworte Else Lasker-Schüler in ihren Briefen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Zeichnungen. Mit dem Gedichtband „Meine Wunder“ (1911) wurde Lasker-Schüler zur führenden deutschen Expressionistin.

Es ist zu hoffen, dass diese Stadt Wuppertal langsam begreift, welches Kind der Sterne in diesen Mauern zur Welt kam.

Teo Otto

Else Lasker-Schüler aka Prinz Yussuf (1912)

Es wäre sehr einseitig, Else Lasker-Schüler auf die Lyrik zu reduzieren. KUNO stellt in diesem Jahr eine Reihe ihrer Essays (meist Porträts befreundeter Künstler oder von Alfred Kerr) vor, aber auch ihre Kurzprosa zeigt sie sich als genaue Beobachterin des großstädtischen Lebens. Es gibt eine Reihe von Prosatexten und Porträts aus den zehner und zwanziger Jahren, also aus der Zeit, in der Else Lasker-Schüler in Berlin lebte, die eine überraschend präzise formulierende Autorin zeigen und das Bild korrigieren, das von vielen Interpreten (à la „eine ganz nach innen gekehrte Seherin“) geprägt wurde. Sie ist hier als Autorin zu entdecken, die ihre soziale Umgebung mit allen Details und Widersprüchen wahrnahm, sie hinreißend genau beschreiben konnte und dann mit ihrer einzigartigen Ausdruckskraft zum Leuchten brachte. In einer manchmal ironischen, manchmal ganz sachlich am Gegenstand (Straßen, Plätze, Bäume, Hotels, Cafés etc.) oder an Personen (Porträts von Zeitgenossen, bekannten wie unbekannten) orientierten Sprache hat Else Lasker-Schüler etwas über die damalige Zeit und das damalige Berlin zu sagen, was über die Feuilletons anderer Autoren dieser Zeit hinausgeht und eine ganz eigene Farbe trägt. KUNO empfiehlt daher die von Heidrun Loeper editierte Zusammenstellung „Die kreisende Weltfabrik“, die diese Berliner Ansichten und Porträts zusammenfaßt.

Ich brachte wahrscheinlich mein Herz ins Fließen, als ich mein Schauspiel »Die Wupper« schrieb. Es war in der Nacht, ich schlief, ja ich schlief. Mein Gehirn war also nicht imstande, mich zu dirigieren, den Takt zu meiner kleinen Erdkugel zu schlagen. Ein Theaterstück muß ja immer eine Welt sein, ins Rollen zu kommen. Nicht um etwa auf die Bühne zu gelangen. Wer daran im Erschaffen auch nur heimlich denkt oder denken kann, der zimmert eine Welt, aber er erschafft sie nicht und – Geschicklichkeit ist keine Zauberei und zaubern heißt des Dichters – Handwerk.

Auch für die Bühne hat sie großartiges geleistet. Einerseits als Performerin, aber auch als Theaterautorin.  „Die Wupper“ ist ein stilistisch dem Expressionismus zuzuordnendes Schauspiel in fünf Akten von Lasker-Schüler. Es wurde 1909 veröffentlicht und 1919 in Berlin uraufgeführt. Seine Formensprache ist vielfältig und selbstverständlich eigenwillig. Das erste Drama der Dichterin thematisiert soziale und religiöse Gegensätze im Industriemilieu des Wuppertals. Es gibt keine stringente Handlungsentwicklung, sondern schlaglichtartig und atmosphärisch verdichtet werden Szenen aneinandergereiht. An den Schicksalen von Mitgliedern der Unternehmerfamilie Sonntag und der Arbeiterfamilie Pius wird die innere Beziehungslosigkeit und Sinnlosigkeit des Lebens dargestellt. Bei der ersten Aufführung nach dem Krieg, 1958 an den Bühnen der Stadt Köln in der Inszenierung von Hans Bauer und mit dem Bühnenbild von Teo Otto, kam es zu wütenden Protesten. Im 1966 neu eröffneten Schauspielhaus Wuppertal war Die Wupper die zweite Eröffnungspremiere und wurde begeistert aufgenommen. Diese Aufführung wurde zum Berliner Theatertreffen 1967 eingeladen und vom WDR für das Fernsehen aufgezeichnet.

Ich habe mir nie ein System gemacht, wie es kluge Frauen tun, nie eine Weltanschauung befestigt, wie es noch klügere Männer tun, nicht eine Arche habe ich mir gezimmert. Ich bin ungebunden, überall liegt ein Wort von mir, von überall kam ein Wort von mir.

Lasker-Schülers Theaterstück Arthur Aronymus und seine Väter, das 1933 im Berliner Schillertheater kurz vor der Premiere stand, wurde von den Nationalsozialisten sofort vom Spielplan genommen. In diesem Stück hat die Dichterin die Judenverfolgung vorweggenommen:

Unsere Töchter wird man verbrennen auf Scheiterhaufen
Nach mittelalterlichem Vorbild.
Der Hexenglaube ist auferstanden
Aus dem Schutt der Jahrhunderte.
Die Flamme wird unsere unschuldigen jüdischen Schwestern verzehren.

Der Bezug zum politischen Zeitgeschehen wird noch deutlicher im letzten, unvollendeten Drama der Dichterin – IchundIch –, an dem sie im Jerusalemer Exil bis kurz vor ihrem Tod arbeitete. Mit IchundIch entstand eine vielschichtige Fortsetzung von Goethes Faust, in welcher Mephisto und Faust vom Höllengrund aus beobachten, wie Hitler Stück um Stück die Welt erobert. Schließlich muss auch Mephisto angesichts der Gräueltaten erkennen, dass das Böse nicht unterstützt werden darf. Gemeinsam mit Faust bittet er Gott um Vergebung. Sie werden beide in den Himmel aufgenommen, während das Dritte Reich in einem Flammenmeer untergeht.

…durch das wiederum Entfalten

Des IchundIch

Komm ich geklärt und pfingstgeläutert ich zu mir!

IchundIch führte zu zahlreichen Kontroversen unter Werkkundigen der Dichterin. Während die einen Else Lasker-Schüler nahezu prophetische Weitsicht unterstellten, da sie schon weit vor 1944 den Untergang des Nazi-Regimes beschrieb, sahen andere in dem Drama vielmehr Anzeichen geistigen Verfalls. So schrieb Armin Juhre voller Bewunderung: „Welcher der vielen deutschen emigrierten Schriftsteller hat sich je zu solcher Kühnheit aufgeworfen?“ Ernst Ginsberg bemerkt dagegen 1958 in einem Brief an den Nachlassverwalter Manfred Sturmann: „Ich habe es nur mit tiefster Erschütterung, ja ich gestehe: zuweilen nur unter Tränen lesen können. […] Man spürt die geistige Nacht über die greise Dichterin hereinbrechen, über die nur noch seltene Sternschnuppen hinzucken.“ So war das Werk viele Jahre lang nur zu wissenschaftlichen Zwecken überhaupt einsehbar: IchundIch wurde zunächst gar nicht, 1961 in wenigen Ausschnitten und erst 1969 kritisch kommentiert vollständig im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft veröffentlicht. Es wurde schließlich am 10. November 1979 im Großen Schauspielhaus Düsseldorf welturaufgeführt, am 8. Dezember 1979 folgte die Aufführung im Schauspielhaus Wuppertal.

Zusammen mit Richard Billinger erhielt die Dichterin 1932 den letztmals vor der nationalsozialistischen Machtergreifung vergebenen Kleist-Preis. Am 19.4.1933, nach tätlichen Angriffen und angesichts der Bedrohung ihres Lebens, emigrierte sie nach Zürich, erhielt dort jedoch Arbeitsverbot. Die Kantonale und die Städtische Fremdenpolizei mit ihren Kontrolldetektiven erließen nur befristete Aufenthalte und verursachten dadurch ständige Ortswechsel. Von Zürich unternahm sie 1934 und 1937 zwei Reisen nach Palästina, ihrem „Hebräerland“. 1938 wurde ihr die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, sie wird „schriftenlos“, wie es in der Schweiz heißt.

 

Ausbürgerung 1938:

Geheime Staatspolizei                               Berlin SW 11, den 14.Juli 1938.
Geheimes Staatspolizeiamt                        Prinz-Albrecht-Str. 8

An den Reichsführer SS
und Chef der Deutschen Polizei
im Reichsministerium des Innern
Referat S-PP (II B9)
in Berlin
Betrifft: Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit der jüdischen Emigrantin Else Lasker geb. Schüler gesch. Levin,11.2.1869 in Wuppertal-Elberfeld geboren, letzter inl. Wohnsitz: Berlin, Motzstr. 78, jetziger Aufenthalt: Zürich.
Vorgang: Ohne.
Anlagen: 3 Durchschriften

 

Die jüdische Emigrantin Else Lasker besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie war die typische Vertreterin der in der Nachkriegszeit in Erscheinung getretenen „emanzipierten Frauen“. Durch Vorträge und Schriften versuchte sie, den seelischen und moralischen Wert der deutschen Frau verächtlich zu machen. Lasker-Schülers Leben ist durch die doppelte Außenseitererfahrung als Jüdin und Frau geprägt gewesen, doch sie hat stets die Opferrolle zurückgewiesen und die Erfahrung der Fremdheit als schöpferische[s] Potential für einen eigenen Lebens- beziehungsweise Identitätsentwurf genutzt, der sich von den Klischees jüdischer oder weiblicher Identität emanzipierte.

Nach der Machtergreifung der Nazis flüchtete sie nach Zürich und brachte dort ihre deutschfeindliche Einstellung durch Verbreitung von Greuelmärchen zum Ausdruck. Ihre schriftstellerische Tätigkeit setzte sie fort und veröffentlichte Artikel in dem berüchtigten deutschfeindlichen »Pariser Tageblatt«. Ferner gab sie Schriften in dem deutschfeindlichen Verlage »Oprecht« in Zürich, dessen gesamte Produktion auf der Liste des schändlichen und unerwünschten Schrifttums steht, heraus.

Ich beantrage daher, der Jüdin Else Lasker die deutsche Staatsangehörigkeit abzuerkennen. Eine Vermögensbeschlagnahme und Verfallerklärung erübrigen sich, da Vermögenswerte im Inlande nicht festgestellt werden konnten.

Eine Erstreckung der Ausbürgerung auf Familienangehörige kommt nicht in Betracht, da die Lasker, die 2 mal verheiratet war, von ihrem letzten Ehemann rechtskräftig im April 1913 geschieden worden ist. Der aus der Ehe hervorgegangene Sohn Paul Lasker, 24.8.99 in Berlin geboren, ist bereits im September 1923 nach Wien verzogen. Nachteiliges über ihn ist nicht bekannt geworden.
Im Auftrage:
gez. Keller

..erinnert mehr an Tonbandaufnahmen als an Briefe. Sie ist ein richtiger Germanistenschreck.
Erich Fried

Else Lasker-Schüler an ihrem 50. Geburtstag. Quelle: National Library of Israel, Schwadron collection

1939 reiste Else Lasker-Schüler zum dritten Mal nach Palästina. Der Kriegsausbruch hinderte sie an einer Rückkehr in die Schweiz. Zudem hatten ihr die Schweizer Behörden das Rückreisevisum verweigert. 1944 erkrankte sie schwer. Nach einem Herzanfall am 16. Januar starb Else Lasker-Schüler am 22.1.1945. Sie wurde auf dem Ölberg in Jerusalem begraben. Nachdem der Ölberg bei der Teilung Jerusalems 1948 unter jordanische Verwaltung gekommen war, wurde Lasker-Schülers Grab, wie viele andere historische Gräber auch, zerstört. Der von Leopold Krakauer geschaffene Grabstein wurde nach der israelischen Eroberung Ostjerusalems im Sechstagekrieg neben einer Schnellstraße gefunden, welche die jordanische Verwaltung 1960 quer durch den jahrtausendealten jüdischen Friedhof hatte bauen lassen. 1975 wurde der Grabstein an seinem heutigen Ort aufgestellt. Er liegt auf einem weißen Sockel. Eine hebräisch und deutsch beschriftete Tafel verkündet, wer unter dem Stein geruht hat.

Der schwarze Schwan Israels, eine Sappho, der die Welt entzwei gegangen ist. Strahlt kindlich, ist urfinster. In ihres Haares Nacht wandert Winterschnee. Ihre Wangen feine Früchte, verbrannt vom Geiste.

Else’s Seele aber steht in den Abendfarben Jerusalems, wie sie’s einmal so überaus glücklich bezeichnet hat. 

Peter Hille

Die Dichtung Else Lasker-Schülers, die von Jerusalem und dem Gelobten Land erzählt, steht im Spannungsfeld zwischen idealen Bildvorstellungen und den realen politischen und persönlichen Lebensumständen. Das Jerusalem, dem die Sehnsucht gilt, mag im Herzen liegen, mag ein Kindheitstraum oder der Ort geschützter Kindheit und märchenhafter Phantasiewelt sein. Zumeist ist es jedoch das verheißene Jenseitsbild. In Prosa und Gedicht verflechten sich daher biblische Bilder, die Geschichte des jüdischen Volkes, individuelle Exilerfahrungen und das sinnliche Erleben des Landes und der Stadt Jerusalem. Gershom Scholem verweist in diesem Zusammenhang auf eine „Opposition von messianischer und geschichtlicher Existenz“.

Psalmistin der deutschen Avantgarde
Walter Mehring

In ihrem Werk nimmt Liebeslyrik einen breiten Raum ein, aber daneben finden sich tief religiöse Gedichte, Gebete. Die Übergänge sind dabei oft fließend. Vor allem das spätere Werk ist reich an biblischen und allgemeiner orientalischen Motiven. Lasker-Schüler ist sehr frei gegenüber den äußeren Regeln poetischer Form, dabei gelingen ihr aber Werke von großer innerer Konzentration. Auch vor sprachlichen Neuschöpfungen schreckt sie nicht zurück. Else Lasker-Schüler veröffentlichte fünf Einzelausgaben ihrer Gedichte: Styx (1902), Der siebente Tag (1905), Meine Wunder (1911), Hebräische Balladen (1913; in zweiter Auflage 1914, vermehrt um die beiden Gedichte „Moses und Josua“ und „Im Anfang“) und Mein blaues Klavier (1943). Daneben erschienen noch zu ihren Lebzeiten zwei ,Gesamtausgaben‘ ihrer Gedichte: bei Kurt Wolff in einem Band mit dem Titel Die gesammelten Gedichte (1917; 1919 und 1920 in zweiter und dritter Auflage), bei Paul Cassirer in zwei Bänden (als Teil einer zehnbändigen Werkausgabe) mit den Titeln Hebräische Balladen. Der Gedichte erster Teil und Die Kuppel. Der Gedichte zweiter Teil (1920). Beide ,Gesamtausgaben‘ weisen, was den Textbestand betrifft, allerdings Lücken auf. Ferner brachte Alfred Flechtheim 1923 unter dem Titel Theben als Faksimiledruck eine Sammlung von zehn Zeichnungen und zehn Gedichtautographen Else Lasker-Schülers heraus. Ihre Gedichte aus den zwanziger Jahren nahm Else Lasker-Schüler zum Teil in die Prosa wie Lyrik enthaltende Sammlung Konzert (1932) auf, die Gedichte aus den dreißiger Jahren wurden überwiegend in Mein blaues Klavier aufgenommen. Zahlreiche Gedichte aus dieser Zeit aber sind in keiner zu Lebzeiten publizierten Buchausgabe Else Lasker-Schülers enthalten und nur aus Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien bekannt.

Dies war die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte … Ihre Themen waren jüdisch; ihre Phantasie orientalisch, aber ihre Sprache war deutsch, ein üppiges, prunkvolles, zartes Deutsch, eine Sprache reif und süß, in jeder Wendung dem Kern des Schöpferischen entsprossen.
Immer unbeirrbar sie selbst, fantastisch sich selbst verschworen, feindlich allem Satten, Sicheren, Netten, vermochte sie in dieser Sprache ihre leidenschaftlichen Gefühle auszudrücken, ohne das Geheimnisvolle zu entschleiern und zu vergeben, das ihr Wesen war.
Gottfried Benn

Die Rezeption der Lyrik Else Lasker-Schülers nach dem Tod der Dichterin ist weitgehend bestimmt worden von der durch Friedhelm Kemp besorgten ,Gesamtausgabe‘ Gedichte 1902–1943, die zuerst 1959 erschienen ist und die mehrfach neu aufgelegt wurde. Sie berücksichtigt in aller Regel allein die Gedichte, die Lasker-Schüler selbst in die Buchausgaben ihrer Werke aufgenommen hat. Friedhelm Kemp folgte in seiner Ausgabe eng dem Prinzip, das Lasker-Schüler selbst in den zuerst 1917 erschienenen Gesammelten Gedichten angewandt hat und dem sie auch in der zweibändigen Gedichtausgabe von 1920 gefolgt ist: der Anordnung der Gedichte in Zyklen. Hierbei übernahm Lasker-Schüler Gedichte aus älteren Veröffentlichungen, überarbeitete diese zum Teil und stellte sie in neue Kontexte. In der hier vorliegenden Leseausgabe hingegen werden die Sammlungen wie auch die in Zeitschriften und Anthologien veröffentlichten Gedichte in ihrer ursprünglichen Chronologie und in ihrem ursprünglichen Wortlaut wiedergegeben. Diesen Veröffentlichungen kommt gegenüber den Abdrucken der einzelnen Gedichte in den beiden ,Gesamtausgaben‘ von 1917 und 1920 entstehungs- und wirkungsgeschichtlich ein nicht nur zeitliches Primat zu. Während der gut vier Jahrzehnte, in denen sie publizierte, war Lasker-Schüler mit ihren Gedichten in fast allen wichtigen Journalen vertreten: Gerade diese Veröffentlichungen waren es, mit denen sie die Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit wecken konnte. Hinzu kommt, daß in nahezu allen namhaften Anthologien der Zeit Gedichte von Else Lasker-Schüler, meist Wiederabdrucke, aufgenommen sind.

Das Stück von Pina Bausch über Else Lasker-Schüler, begleitet vom Saxophonisten Peter Brötzmann… gibt es nur in meiner Erinnerung…

A.J. Weigoni

Wirkungsgeschichtlich spielen demgegenüber die ,Gesamtausgaben‘ nur eine untergeordnete Rolle. Leser, die sich für Else Lasker-Schülers eigene Anordnung ihrer Gedichte in Zyklen interessieren, seien auf die Anmerkungen zum Band I (Gedichte) der Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Else Lasker-Schülers verwiesen, der 1996 im Jüdischen Verlag erschienen ist: In Synopsen sind dort die Zyklen detailliert dargestellt. Die Kritische Ausgabe der Werke von Else Lasker-Schüler sollte in keiner Sammlung fehlen

 

 

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Die kreisende Weltfabrik: Berliner Ansichten und Porträts, von Else Lasker-Schüler. Transit Buchverlag, 2012

Die Kritische Ausgabe der Werke von Else Lasker-Schüler, erschienen im Jüdischen Verlag 1996

 

Weiterführend → 

1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie

→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.

→  Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni aus der Schwebebahn zwischen Elberfeld und Barmen.