Universalpoesie

 

Die progressive Universalpoesie bezeichnet eine bestimmte, romantisch genannte Art von Literatur, welche nicht nur sämtliche literarischen Gattungen – also alle Formen von Lyrik, Drama und nicht zuletzt Prosa – zusammenführt, sondern auch die Literatur mit Philosophie, Kritik und Rhetorik, Kunst mit Wissenschaft verbinden soll. Dabei hat sie das Ziel, synästhetisch alle Sinne anzusprechen. Sie versucht, Traum und Wirklichkeit, Poesie und das echte gesellschaftliche Leben in einen Wechselbezug zu setzen. Progressiv ist sie, weil sie ewig im Werden ist. Entsprechend spielt das unvollendete Stück Literatur, das Fragment, eine große Rolle.

Seine Theorie zur Universalpoesie hat Schlegel nicht in einer zusammenhängenden Lehre dargestellt, sondern in verschiedenen Essays, Briefen – in der Romantik eine öffentliche Gattung –, einem Roman und eben Fragmenten, vornehmlich in der 1798 von ihm und seinem Bruder August Wilhelm in Jena gegründeten Zeitschrift Athenäum.

Das Athenäums-Fragment Nr. 116 lebt von den Paradoxien, die auch wenn sie sich scheinbar ausschließen, zusammen gedacht werden sollen. Neben der oben beschriebenen Hybris, die Gattungen und Wissenschaften zusammenzuführen, möchte die progressive Universalpoesie diese mal mischen, mal verschmelzen, d. h. auch in der Art der Mischung soll unterschiedlich vorgegangen werden. Dabei steht Kunstreflexion neben Kunst selbst: Die romantische Universalpoesie soll beides sein. Unter dem größten […] Systeme der Kunst muss man sich zu der Zeit Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft vorstellen, was gleichwertig neben dem Lallen eines Säuglings stehen soll. Dabei finden wir als Ausdrucksform des Kindes einen Seufzer der Traurigkeit, die Liebesbezeugung im Kuss, die aber auch gleichzeitig Kommunikation ist. Zudem ist es dichtend in seiner unbewussten Art, denn – wie man kurz darauf erfährt – diese Dichtung ist, obwohl sie Gesang ist, trotzdem kunstlos. Bei der progressiven Universalpoesie spielen also verschiedene Formen der Absicht bei ihrer Ausführung eine Rolle.

Als die Brüder Schlegel das Athenäum in Jena gründeten, hatte Friedrich gerade zwei Jahre produktiven Symphilosophierens – wie er es nannte – mit dem (Religions-)Philosophen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in Berlin hinter sich. Die beiden Freunde lebten in einer kleinen Wohnung, lasen gemeinsam Fichtes Wissenschaftslehre, übersetzten Platon und diskutierten sich die Köpfe heiß. Schlegel versuchte nun, seine philosophischen Überlegungen in ästhetische Bereiche zu übertragen.

Viele Autoren haben sich am literaturtheoretischen Begriff der Universalpoesie abgearbeitet. Als erster Versuch ist Schlegels eigener Roman zu nennen: Lucinde. In früher Zeit Heinrich von Ofterdingen von Novalis – von Schlegel selbst als gelungenste Umsetzung der Theorie gelobt –, Godwi von Clemens Brentano – von Schlegel gehasst, aber von der Literaturwissenschaft als gelungenste Umsetzung der Theorie gelobt –, die Lesedramen Ludwig Tiecks wie Der gestiefelte Kater oder Die verkehrte Welt. In der Spätromantik dann Der Parcival von Friedrich de la Motte Fouqué oder Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts.

 

 

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Athenaeum ist der Titel einer Zeitschrift, die zwischen 1798 und 1800 von den Brüdern August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel herausgegeben und in Berlin gedruckt wurde. Vor zweihundert Jahren stellte Friedrich Schlegel das „Athenaeum“ mit der Begründung ein, dass diese Zeitschrift erst in der Zukunft verstanden werden kann. KUNO erinnert daran mit der Begründung des Redakteurs, der im 18. Jahrhundert der modernen Journalismus erfunden hat

Friedrich Schlegel um 1790, Kreidezeichnung von Caroline Rehberg

Weiterführend

Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.

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