Tote Orte, das Museum

Museen sind Leichenhallen für die Kunst und Bücher Särge für die Literatur.

Hansjürgen Bulkowski

Allein das Wort weckt einen Schauder: MUSEAL. Die meisten Räume sind abgedunkelt, klimatisiert, die Böden sind spiegelblank geputzt, die meisten Ausstellungsräume sind ein White-Cube, der an die von Hansjürgen Bulkowski beschriebene Leichenhalle erinnert. Der Betrachter hat sie so an  einen neutralen, sachlichen Ausstellungsraum gewöhnt, dass er ihn nicht mehr hinterfragt. Für KUNO war der Essay Brian O’Doherty Essay von 1976, „Inside the White Cube“, ein Augenöffner. Doherty ist inzwischen nicht mehr der einzige, der die Neutralität in Frage stellt. Der White Cube, ist ein für die Kunst zugerichteter und diese selbst zurichtender Ort, ein architektonischer, idealtypischer Funktionsapparat‘ für eine von aller Schlacke befreite Kunst. Im Museum gleichen sich die Konditionen der Wahrnehmung überall auf der Welt an, sie suggerieren Objektivität. In diesem Hallen finden Event-Ausstellungen und trendige Messen statt, Künstlerstars geben weltweit den Ton an. Da müssen sich staatlich geförderte Museen etwas einfallen lassen, um ihre nicht immer taufrischen Sammlungen aufmerksamkeitswirksam zu präsentieren. Während die alten Tanker unbeweglich auf ihrem Kurs sind, nehmen kleine Segler Wind auf und lassen sich von frischem Wind treiben.

Es gibt Kunst und Galeriekunst.

Ed Kienholz

Das „Kunstwerk“ in Arnsberg

Im Rahmen der De-Industrialisierung werden ehemalige Fabrikgebäude zu Orten der Kunst. Diese ehemals toten Orte wurden zu Aufführungsorten für Musik, Theater, Literatur und Film, Bildende Kunst, Tanz und Performance verwandelt. Im Zentrum stehen spartenübergreifende neue Produktionen, Uraufführungen und Neuinszenierungen, die die Besonderheiten der jeweiligen Spielstätten aufgreifen: Schauspiel und Oper verbinden sich in ehemaligen Maschinenhallen und Kokereien mit Entwicklungen in der Literatur, Bildenden Kunst, der Pop- und Konzertmusik. Ein altes Backsteingebäude aus der großen Zeit der Leuchtenindustrie beherbergt inzwischen das Kunst-Werk und die Werkstattgalerie Der Bogen (auch nach dem Umzug hat es Lange Wände). Es handelt sich um eine in Arnsberg-Neheim ansäßige Künstlergruppe, welche die Zusammenarbeit von Künstlern und Laien fördert. Die Gruppe besteht seit der Gründung 1980 in wechselnder Besetzung. Ziel war es, Künstlern Arbeitsräume und eine gemeinsame Basis zu geben. Im alten Fabrikgebäude von Kaiser-Leuchten haben sieben Künstler ihre Ateliers, Karl-Heinz Hosse, Haimo Hieronymus, Kirsten Minkel, Stephanie Neuhaus, Manuel Quero, Pit Schrage und Axel Schubert. Bis zu seinem Tod 2008 war auch Peter Meilchen Mitglied. Außerdem wird eine 360 m² große Werkstattgalerie sowie ein kleines Theater betrieben. Zusätzlich wird ein Gastatelier vergeben. Veranstaltungen wie Ausstellungen, Tanztheater, Theater, Soirees und Dichterlesungen bilden den Rahmen für den Kontakt zu interessierten Bürgern – regelmäßige Beteiligung am Arnsberger Kunstsommer, an Kunstmessen, auch an der Übernacht, einem Event im Winter, das als Kunstparty mit mehr als 1000 Gästen durch die Nacht führt. Jährlich findet im Sommer von der Künstlergruppe organisiert eine Kunst- und Kulturwoche genannt Sommergelee statt.

Alphabetikon ist ein Neologismus aus dem Ikon, dem Bild, und dem Alphabet, unserem ABC.

Im Januar / Februar 2014 war dort die Ausstellung Alphabetikon zu sehen. Seit September 2012 arbeitet Hieronymus an der neuen Serie, bei der Schriftzüge collageartig auf Bildfragmente stoßen, sodaß Farben spritzen und fließen. Dabei ist das Durchbuchstabieren des Alphabets mit Bildern Programm: Der Neheimer Künstler verläßt die eher düsteren Enkaustikarbeiten der vergangenen Jahre und wendet sich dem poppig Bunten zu. Er hinterfragt mit gemalten Zitaten aus der Populärkultur unsere Wahrnehmungsweisen in einer modernen Welt, die von schnelllebigen Reizen, Massenmedien und digitalen Pop-Up Fenstern diktiert wird.

Kunst sollte etwas sein, das die Seele befreit, die Fantasie anregt und die Menschen ermuntert, weiterzugehen

Keith Haring

Alphabetikon ist ein Neologismus aus dem Ikon, dem Bild, und dem Alphabet, unserem ABC. Bild und Text gehen hier ganz offensichtlich eine Verbindung ein, die nicht zu trennen ist. Aus der Mischung wird eine Legierung. Dadurch erhalten beide Seiten neue Eigenschaften, die uns eben auch neue Gedanken ermöglichen. Haimo Hieronymus hat sich die Frage gestellt, in welcher Weise Wörter unsere Wahrnehmung beeinflussen. In den Jahren vorher hat er vor allem Bilder gemacht, die mit hunderten von Skizzen vorbereitet worden waren. Hieronymus hat sich Wörter vorgenommen und gewartet, was sie in ihm erzeugen. Manchmal hat er eine Skizze gemacht, aber die Bilder kamen von allein. Nicht mehr die Suche stand im Mittelpunkt, sondern das Finden. Jedes Wort hat mehrere Bedeutungen und ist semantisch oft fragwürdig. Wenn Hieronymus einen Begriff wie Venus schreibt, dann entstehen vor dem inneren Auge direkt ganze Beziehungsstrukturen. Von Schönheit, von Renaissance, von Antike, von Frauen, von Erotik. Auch das Somnambule wird für ihn schnell auftauchen. So hat er alle 26 Buchstaben ganz unsystematisch durchexerziert. Bild und Text gehen hier ganz offensichtlich eine Verbindung ein, die nicht zu trennen ist. Aus der Mischung wird eine Legierung. Dadurch erhalten beide Seiten neue Eigenschaften, die uns eben auch neue Gedanken ermöglichen. Hieronymus hat sich die Frage gestellt, in welcher Weise Wörter unsere Wahrnehmung beeinflussen. In den Jahren vorher hat er vor allem Bilder gemacht, die mit hunderten von Skizzen vorbereitet worden waren. Nun habe er sich Wörter vorgenommen und gewartet, was sie in ihm erzeugen. Manchmal hat er sich eine Skizze gemacht, aber die Bilder kamen von allein. Nicht mehr die Suche stand im Mittelpunkt, sondern das Finden. Jedes Wort hat mehrere Bedeutungen und ist semantisch oft fragwürdig. Von Schönheit, von Renaissance, von Antike, von Frauen, von Erotik. So hat er alle 26 Buchstaben ganz unsystematisch durchexerziert.

 

Atelierausblick auf den Neheimer Dom

Die Einzigartigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition.

Walter Benjamin

Das „Alte Molti“, in Linz

Wie KUNO aus gewöhnlich gut informierten Kreise erfuhr, sollte es bereits abgerissen werden, weil dieses Filetstück Begehrlichkeiten bei Imobilienspekulanten geweckt hat, dann setzte die Kulturpolitik das Alte Molti, eine ehemalige Volksschule aus dem Kaiserreich, auf die Liste der Kulturdenkmäler. Dieser späthistorische Klinkerbau beherbergt nun den Kunstverein Linz, der sich auf eine lange Tradition stützt. Die ersten Kunstvereine wurden im Zeitraum zwischen 1800 und 1840 vom aufstrebenden Bürgertum und von Künstlern selbst gegründet. Ihr Ziel war die Vermittlung zwischen Laien und der Gegenwartskunst und nicht zuletzt der Verkauf aktueller Kunstwerke. Die Beschäftigung mit Kultur und das Sammeln von Kunst sollte nicht länger dem Adel überlassen bleiben. Vereine, so auch die Kunstvereine, waren Ausdruck von Emanzipationsbestrebungen, ein Schritt in die moderne demokratische Gesellschaft, eine freie Korporationsform gegenüber dem Ständestaat. Im Kunstverein Linz war im Frühjahr die Ausstellung: 50 Jahre Krumscheid / Meilchen zu sehen. Jeder kann sein Leben komponieren wie Musik, diese Übereinstimmung der beteiligten Artisten werden mit den Inventionen von Peter Meilchen weitere Zwischentöne abgewonnen. Das Leben im 21. Jahrhundert und nicht weniger die Kunst: ein Spiel, eine Verschiebung von Signifikanten, ohne schicksalhafte Kettung an ein biografisches oder historisches Signifikat. Die Schwere der Existenz wird aufgehoben durch die Leichtigkeit der künstlerischen Interaktion. Weigonis Variante der Twitteratur läßt einen philosophischen Bildungsroman auf wenige Zeilen zusammenschnurren, während er als Erzähler auf der Suche nach dem Sinn des globalisierten Lebens ist – wie wir alle.

Die Reihe Frühlingel

Die Inventionen im Buch/Katalog-Projekt Wortspielhalle stammen von Peter Meilchen. Weil die Grenzen der Sprache zugleich die Grenzen der Welt sind, betrifft die meisten Menschen nur die Welt der Mitteilbarkeit und ihr gemeinsames Symbolsystem, Peter Meilchens Welt hat andere Grenzen, in ihr können Bilder vorkommen, die sich selbst bedeuten. Die bildende Kunst nimmt wieder ihren Ort im Dreieck Kunst – Idee – Bild ein. Und eine Idee zu einem ganzheitlichen Bild, das unterschiedlichste Dinge vereint, zu formen, darin besteht die große Aufgabe künstlerischen Schaffens.

Das Buch/Katalog-Projekt Wortspielhalle wurde kürzlich mit dem lime_lab ausgezeichnet. Mit Friedrich Schillers Abhandlung über die ästhetische Erziehung des Menschen in Briefform, ist sein Aphorismus in den deutschen Wortschatz eingegangen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Der elektronische Brief des 21. Jahrhunderts ist die mail. Man twittert, wobei rhytmischen Zikadengezirpe in ein melidiöses Zwitschern übergehen kann. Im Prozeß der Selbstorganisation haben Sophie Reyer und A.J. Weigoni eine höhere strukturelle Ordnungen erreicht, ohne dass erkennbare äußere steuernde Elemente vorliegen. In einer Parallelaktion rufen die Komponistin und der Sprechsteller ein k.u.k. in Erinnerung, daß sie als ‚Kunst und Klang’ sinnfällig dekonstruieren. Reyer und Weigoni präsentieren in ihrer Wortspielhalle eine Literatur als Gegenprogramm zu Alltag und Banalität. Hier findet keine experimentelle Textzertrümmerung statt, diese Poesie spiegelt eine fragmentarische Gesellschaft, die Komponistin und der Hörspieler öffnen mit ludischem Innovationsverhalten den Blick auf die Gegenwart.

Auch in den digitalisierten Lebensabläufen bliebt das Sprachspiel eine menschliche Leistung, die allein in der Lage ist, die Ganzheitlichkeit der menschlichen Fähigkeiten hervorzubringen. Nicht nur die Literatur bedarf der Befreiung durch den Sprachwitz, mehr noch der Leser. Und manchmal steckt eine solche Subversion in einem Diminutiv, gelegentlich in einem dialektalen Wispern. Die ‚Twitteratur‘ von Reyer und Weigoni ist von Tempo- und Harmoniewechseln durchzogen, daß beim Lesen keine Langeweile aufkommt. Ähnlich wie Friedrich Schiller halten die Komponistin und der Sprechsteller eine Rückbesinnung auf das Poetische und Spielerische für erstrebenswert, um entgegen den allgegenwärtigen Zwängen einen Freiraum für eine menschliche Betätigung nach selbst gewählten Regeln und um ihrer selbst willen zu schaffen. Es ist in der ‚Wortspielhalle‘ eine vitale Form der Literatur entstanden, die der Sprache auf die Finger schaut, sie zugleich ihrem eigenen Gefälle überläßt und damit entfesselt.

Keineswegs ist die Welt also nur alles, was der Fall ist, der Künstler kann es so zeigen, daß sie uns auf fremde Weise vertraut vorkommt. Meilchen hinterfragte in Zusammenarbeit mit Weigoni die Widersprüche zwischen Wort und Bild, überschritt aber früh die Grenzen der Malerei, indem er Installationen, Künstlerbücher, Fotografien oder den Film Schland schuf. Er verspricht dem Betrachter eine Wirklichkeit, die jene Bildwirklichkeiten nicht mehr benötigt, in welche der Betrachter seit der Renaissance gleichsam einem Fenster hineinsieht. Ein Bild interessiert ihn nur, wenn es anders wird als das, was ich man sich vorgestellt hat. Mit Bildern ist es wie mit Wünschen: Die unerfüllten bleiben intakt, die erfüllten werden flach. Einer der Vorteile von Kunst gegenüber der Wirklichkeit ist die Hemmungslosigkeit, mit der man sie ansehen darf.

Geschichte verlangt nach einer gegenwärtigen Befragung, Tradition ist nur ein totes Museum.

Pierre Boulez

Während die alten Tanker die Kunst absehbar auf Grund fahren, wagen sich mutige Skipper in andere Gewässer vor. Die Gründer der Edition Das Labor interessieren sich für Kunst, die nicht illustriert, sondern anders politisch relevant ist, es sind Künstler, die sich für Lebensentwürfe und das Zu­sammen­leben interessieren und nicht für standardisierte Wege. Bei diesem Netzwerk sind grundlegende Werte die Selbst­hilfe, Selbstverantwortung, Demo­kratie, Gleichheit und Solidarität. Die beteiligten Artisten sollten auf die ethischen Werte Ehrlichkeit, Offenheit, Sozial­verantwort­lichkeit und Interesse an anderen Menschen vertrauen. Der Sinn der Edition Das Labor liegt darin, dass sich Künstlergruppen aus unterschiedlichen Regionen zusammen­schließen und dem herrschenden Kulturbetrieb etwas Eigenes ent­gegen­setzen. Diese Art zu arbeiten befreit die Gründer der Edition Das Labor von der Massenidentität, die in der globalisierten Gesellschaft entsteht. Im diesem Versuchs-Labor entstehen Arbeiten, die keinem Kalkül und keiner Mode gehorchen, keiner Preislogik folgen und auch nicht den Wünschen von Lektoren oder den Plänen von Kuratoren. Diese Artisten machen keine Kunst, um Antihelden einer Subkultur zu sein, sondern vor allem, um die Sinngebung durch Kunst zu retten, um als Individuen zu überleben.

 

 

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Heute besteht die letzte Möglichkeit die Ausstellung: 50 Jahre Krumscheid / Meilchen & Der Bogen im Kunstverein Linz (Asbacherstr. 2, 53545 Linz) zu sehen.

Es ist eine Vorzugsausgabe von 10 Exemplaren mit beiden Katalogen und mit einer Graphik von Peter Meilchen und Haimo Hieronymus erhältlich.

Weiterführend →

Einen Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Zur Ausstellung erschien das Buch / Katalog-Projekt Wortspielhalle mit der Reihe Frühlingel von Peter Meilchen und einem Vorwort von Klaus Krumscheid. Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Einen Artikel über das Konzept von Sophie Reyer und A.J. Weigoni lesen Sie hier. Vertiefend zur Lektüre empfohlen sei auch das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Ein begleitender Essay findet sich im Bücher-Wiki. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. Ein Porträt von A.J. Weigoni findet sich hier. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Alle LiteraturClips dieses Projekts können nach und nach hier abgerufen werden.

Weiterhin von Peter Meilchen erhältlich:

Schland, DVD, Edition Das Labor, Mülheim 2009

Texte, Hörbuch, Edition Das Labor, Mülheim 2010

Beobachtungen eines Unsichtbaren, DVD, Edition Das Labor, Mülheim 2011

Leben in Möglichkeitsfloskeln auf Kulturnotizen 2013

Schimpfen, Roman, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Frühlingel, erschienen im Buch/Katalog-Projekt Wortspielhalle, Edition Das Labor, Mülheim 2014