Autor: Christine Kappe

Mütter und Städte

für Sylvia Geist Manchmal habe ich die Stadt satt.‭ ‬Kleine Kinder werden überfahren.‭ ‬Oder sie werden alt und werden dann überfahren.‭ ‬Mitten in der Nacht püstern sie Laub,‭ ‬das gar nicht existiert,‭ ‬auf dem Nordstadtbahnhof Auch ich existiere nicht,‭ ‬in…

Tausen und ein Buch

1. Bücher waren das einzige, was Nick sich wünschte, aber ich durfte ihm auf gar keinen Fall eins schenken, denn Bücher waren sein Verderben. Es hatte recht lange gedauert, bis ich das begriff. Du kommst ja nicht drauf, dass jemand…

Das Tier

Eines Tages saß ein wundersames Tier an der Scheibe unseres Wohnzimmerfensters; ich weiß nicht, wie lange es schon dort gesessen hatte, als wir es entdeckten. Max nahm es zuerst wahr: „Schau mal, Mama, wie schön!“, rief er aus. Im ersten…

Die irdischen Bilder des Überirdischen

Anhand des Verhaltens von Steinmarder und Kaninchen wird gleich zu Beginn klargemacht: In der Natur gibt es bereits Kunst: Hier als artifizielles Gebaren des Jägers (Steinmarder), der ulkige Tänze aufführt, um seine naive Beute in hilfloses Staunen zu versetzen, und…

das leere Wort Epsilon

  wir fahren zum Kanal. es ist warm und wird immer dunkler. das Wasser ist kaum noch vom Himmel zu unterscheiden. nur das Land. scheint zu schweben. die wenigen Leute, die am Ufer liegen, verschwinden bald. ein Hund zerbeißt vor…

»Wollen Sie erzählen?«

  An den Rändern der Sprache – Das neue Hörstück von Hans Georg Bulla Es tut immer wieder gut, Texte zu lesen, die sich auf das Wesentliche konzentrieren; die unaufgeblasen einen ganzen Raum mit Spannung und Gedanken füllen. Dieser Raum…

Findet das Heute überhaupt statt?

Think befor you read. – Müssen Sie sich diesen Essay nicht ausdrucken? Sparen Sie sich Verspannungen am Bildschirm. Ich sitze auf dem Sessel in der Küche und versuche, durch geschickte Körperhaltung, meine nackten Extremitäten nicht aneinanderkommen zu lassen. Das Thermometer…

Im Winter aufs Land

  Ich mag den Wald auch im Winter wenn die Sonne durchs Unterholz scheint die Baumkronen aber im Dunkeln läßt   Wer glaubt denn, daß das Essen von den Feldern kommt nackte Erde, kein Trecker, ein Reh die Heizung im…

Insekten

„Da, Mama!“ Der zweijährige Jona hatte im Sandkasten einen Käfer entdeckt und ihn, voller Neugierde und Begeisterung, zwischen seine kurzen Finger genommen, das zappelige Etwas zunächst wieder verloren, dann erneut zugegriffen, diesmal natürlich fester, und – es konnte ja nicht…

das Parfum des Zahnarztes

  ich habe gar keine Angst − ich friere nur mein Freund ist mir am fernsten am Fenster das Parfum des Zahnarztes − einsam wie ein Aquarium die Fontäne im Wintergarten, eben stillgelegt und beleuchtet, wohin das alles aber ich…

Götter und Menschen

Eine dichte Wolkendecke hängt über der Stadt‭ und ‬lässt keine Wärme entweichen.‭ ‬Es gibt wenig Luft hier oben.‭ ‬Die Götter sitzen alle um einen roten Sprellakat-Tisch‭ und ‬schreiben Gesetze aus Büchern ab,‭ ‬die so dick sind,‭ ‬dass sie von selbst…

Ein Substilat

  Mir fällt ein Wort ein und ich weiß nicht, ob es aus dem Buch herausgefallen ist oder noch darinnen steht. Mir fällt ein Wort auf und ich weiß nicht, ob es aus dem Buch herausgefiltert wurde oder ein Rechtschreibfehler…

Parcour der letzten Dinge

Wie lange wollen wir noch leben, wie lange sind wir noch wach, wie könnte es anders sein, wie besser, wie wahr, wer hat darüber nachgedacht, bis zuletzt, wo ist das Letzte, wer schleicht durchs Haus? Es ist dunkel, und ich…

Wie kann das sein

  Wie kann das sein: dass man das halbe Leben lang für etwas kämpft und dann telefoniert der Nachbar auf dem unteren Balkon alles kaputt, mit ganzer Stimme.   Tatsächlich vermisse ich plötzlich eine von diesen Müttern, die da nur…

Verschleppte Nacht oder: Herr Khazai

Ich hatte die Nacht am Bett meines kranken Sohnes verbracht und vergessen, mein Handy auszustellen. Es riss mich um halb 6 mit einem penetranten »Im-Freien-Profil« aus meiner Schlaflosigkeit. Gerade jetzt bildete ich mir ein, schlafen zu können. Doch als ich…

day

  es rauscht in der Leitung dein Vater aus dem Jenseits mir wird kalt von der Hitze könnte auch Filmmusik sein ein spanischer Film denn Spanier sind Menschen, die Eltern haben, die Sprüche machen die nicht immer passen, aber schön…

22 Mal ›wir‹ • 26 Mal ›schlacht‹

Wortkräuter zur Gesundung in Theo Breuers Gedichtbuch Das gewonnene Alphabet Dieses lyrische Lexikon, dieses Gedicht-Wörterbuch, dieses schäckernde Dichtwerk kommt gerade recht, mir den Herbst zu versüßen. Süßes zum Herbst? Herbes zum Herbst? Jedes jedes jedes Jahr hole ich mir (wo…

Alles fließt

Warten auf Enzo Ich war pünktlich an der Ablagestelle, ein tiefer, gefliester Hauseingang, auf der einen Seite Altpapier, auf der anderen in Folie eingeknotete Zeitungsstapel, wie Strohballen gestapelt. Enzo fehlte. Das Licht, das ich angeschaltet hatte, ging nach einer Minute…

Kulturnotizen 2012 • Ich erinnere mich

Ich erinnere mich an ein Interview mit dem Lichtkünstler Mischa Kuball, der eine geschlossene Synagoge von innen mit einem starken Licht illuminierte; so verwies er auf die Betrachter, die nicht hineinkamen und ausgeschlossen blieben, wie die Juden im 3. Reich –…

Was ist politische Kunst? Oder: Paul Klee und Iwan Konstantinovich Aiwasowski • Teil 2

Der Familienstreit Wie zu erwarten, kommt es nicht so schnell zu einer Aufklärung des Problems, da ja auch noch der Familienstreit im Raum hängt. Koljas Frau wirft die verstaubte Kaffeemaschine an, die ich bisher immer nur für eine Attrappe gehalten…

Was ist politische Kunst? oder: Paul Klee und Iwan Konstantinovich Aiwasowski • Teil 1

Fünf vor fünf »Frau K., ein Notfall, sonst würde ich Sie um diese Uhrzeit gar nicht mehr stören, Herr Subito rief mich an, seine Sterne stehen ungünstig, er trägt die 573er: Mainzer, Aachener, Koblenzer usw., was ganz Unaufregendes, ne kleine…

Ein Buch ist eine Stadt

  Am 26.08.2012 um 17:34 landete ich in Cyberspasz, einem Buch, das eigentlich eine Stadt ist, eine Migropole, ein Wohnmeer, durchschnitten von Magistralen, ein Gedicht, eine Erfindung, zu real, um darin zu leben, der Asphalt schmilzt, es brennt an jeder…

Anordnungen ∙ Im Stellwerk der Poesie von Hans Georg Bulla

Wenn ich Hans Georg Bullas Gedichte lese, gerate ich in eine besondere Stimmung. Nicht aufgeregt, sondern aufgeweckt, nicht überrascht, sondern überlegt, nicht angesteckt, sondern angesprochen fühle ich mich. Ich setze die Wörter mit Bedacht, und mir fällt auf, wenn andere…

Pariser Platz (Hannover)

wir gehören uns nicht: alternden Wohnungsbesitzerinnen vielleicht mit Schildkrötenhälsen, die uns auf einen Kaffee in ihre vermoderten Wohnungen locken selbst aber in einer Zigarettenschachtel hausen   Du willst mir nicht glauben, dass das der Pariser Platz ist kümmerst dich fürsorglich…

Die Farben der Bücher und des japanischen Himmels

Vor mir liegen ein dunkelblaues Buch und ein dunkelrotes Buch. Die Früchte des Sommers tragen diese Farben – Blaubeere und eine in hiesigen Breitengraden noch zu entdeckende Frucht zwischen Brom- und Himbeere. Ich lese die Bücher parallel, irgendwie gehören sie…

Über das Verschwinden • Teil 2

Eine Frage der Einstellung »Na toll. Unser Job wird nie langweilig«, meint Ello, die zu ihrer Aufgabe als Obfrau heute nicht mehr kommen würde. Uwe geht, auch wenn er sich der Absurdität seiner Handlung bewusst ist, über die Tankstelle zur…

Über das Verschwinden • Teil 1

Ablagestelle Südbahnhof Wir stehen an der Ablagestelle Südbahnhof und warten auf unsere Zeitungen. Es ist mal wieder so eine Nacht, in der man es nicht richtig machen kann: am Vortag wurde uns eine Resthaushaltsverteilung des Kunden Ibo angekündigt. In 50%…

Die »Nacht« des Alfred Alvarez

Ein Freund von mir sammelt Schrebergärten. Erst war dieser Tick nicht weiter aufgefallen, denn als Michael mit seiner Familie in unseren Stadtteil zog, übernahmen sie den Schrebergarten von den Vormietern. Der befand sich praktischerweise ganz in der Nähe ihres neuen…

»Atomatisiert mitten im Satzgebilde« ∙ Wi(e)der sprechen können

Flaschenbürste ∙ Gemüsebrühe ∙ Brillenputztücher Und so kam Matrix 28. Atmendes Alphabet für Friederike Mayröcker ins Haus: herausgefallen aus dem Briefkasten, weil vielwiegend und in glatte Folie eingeschweißt. Hatte nun ungelesen gleich ein Eselsohr wie nach 50 Lesejahren. Gut. So…

Meine erste Schallplatte oder: Mister B

  Meine erste Schallplatte war die erste Schallplatte meines Freundes, weil wir immer zusammen Musik hörten. Wir waren 10 Jahre alt und seit der Grundschule die dicksten Freunde, was teilweise zu Hänseleien führte — er ein Junge, ich ein Mädchen.…

Atemlos ∙ Auf der Suche nach Matrix 28

Kühn Heute hatte ich eine ›kühne‹ Idee: Ich wollte nach über zehn Jahren mal wieder eine Buchhandlung besuchen. Der Leser möge an dieser Stelle nicht glauben, dass ich eine Kulturbanausin bin. Weit gefehlt – ich schreibe selbst Bücher. Aber meine…

Calenberger Nacht · Teil 2

Über die Arten der Müdigkeit Wir wechseln die Straßenseite und fahren eine halbe Ewigkeit an den hiesigen Stadtwerken vorbei, bis das nächste Haus kommt. Dann zwei Häuser gar nichts und im nächsten eine mickrige HAZ. In dem Stil geht das…

Calenberger Nacht · Teil 1

Über die Arten der Müdigkeit Das Telefon klingelt mich aus dem Schlaf. Es ist meine Chefin, die einen neuen Auftrag für mich hat … Wahrscheinlich fangen so nicht wenige Romane an, schlechte Krimis auf jeden Fall, Essays selten, es sei…

Über das Wesen des Radfahrers

Mal sehen, ob das geht, etwas über das Wesen des Radfahrers zu sagen. Eigentlich ist er ja ein Freiheitssymbol und lässt sich dementsprechend nicht einfangen. Vielleicht noch in Worten, aber nicht in Häuserschluchten. Ich weiß nicht, ob er mit den…

Diskrete Mathematik 1 – 3

1 Durch Häuser gehen Ich träumte von einer Stadt ohne Straßen und Bürgersteige, in der man, wenn man einen Spaziergang machen wollte, von einem Haus ins andere gehen musste. In der Regel begegneten einem die Hausbewohner freundlich; meistens sahen sie…

Der Geburtstag meiner Russischlehrerin oder Die Vase bleibt

 Die Dimensionen von St. Petersburg Ich war in St. Petersburg auf der Sprachenschule. Ich hatte eine nette Unterkunft bei einer Gastfamilie in einem dieser vorgelagerten Stadtteile, die nur aus Hochhäusern bestehen, vorgelagert wie das Meer, aber das Meer war noch…

Das Licht ist mein Thema, nicht der Himmel oder: Ilya Kabakov und das Licht auf meiner Posttour

Für Theo Breuer zum Geburtstag Himmel himmel – ein widriges wort, sagst Du in einem Gedicht, und ich habe meine ›Versuche über den Himmel‹ erstmal aufgegeben, als ich merke, dass das Licht, das aus ihm dieser Tage hervorbricht, viel interessanter…

Etwas Wertvolles im Zeitalter der schnellen und endlosen Reproduzierbarkeit

Auf der 17. Mainzer Minipressen-Messe wird Künstlerbuch Unbehaust von Haimo Hieronymus und A.J. Weigoni vorgestellt   Unbehaust ist schrecklich, aber der Text gibt auch die Möglichkeit eines In-der-Sprache-Wohnens. Das ICH kämpft mit dem Auflösungsprozess des Körpers, das Bewusstsein widersetzt sich…