Was ist politische Kunst? oder: Paul Klee und Iwan Konstantinovich Aiwasowski • Teil 1

GaragenhofFünf vor fünf

»Frau K., ein Notfall, sonst würde ich Sie um diese Uhrzeit gar nicht mehr stören, Herr Subito rief mich an, seine Sterne stehen ungünstig, er trägt die 573er: Mainzer, Aachener, Koblenzer usw., was ganz Unaufregendes, ne kleine süße schnuckelige Tour mit hoher Haushaltsabdeckung. Ablage ist die Garage am Südbahnhof, Schlüssel haben Sie ja, wär nett, wenn Sie mich zurückrufen…« Kleine Tour – hohe Haushaltsabdeckung? Ich weiß noch, wie ich versuchte, diese beiden sich widersprechenden Aussagen unter einen Hut zu kriegen. Mehr war nicht drin; dann schlief ich ein.

Um fünf vor fünf wache ich auf, obwohl der Wecker nicht geklingelt hat, mir fällt die Kürze des gestrigen Abends ein, ich stehe auf, ziehe mich warm an und fahre zur Garage. Ich kenne Subito, er ist ein Sonderling. Dass er seine Tour wegen ungünstiger Sternenkonstellation absagen kann, ist ein Privileg, welches er sich durch mehr als 15 Jahre Zeitungaustragen als Stammzusteller verdient hat. Das werde ich nie erreichen, weil ich als Springerin immer bloß Stückwerk mache.

Wie hell die Stadt nachts ist. Jedenfalls in der Südstadt und in Mitte. In der Enge der Calenberger Neustadt oder in Linden ist das was anderes. Und eigentlich ist sie gelb. Ein Farbton, der sämtliche Ausscheidungen von Mensch und Tier unsichtbar macht, wodurch die Straßenkehrer, die um diese Uhrzeit mit der Arbeit anfangen, einerseits nicht viel beschicken können, andererseits sich aber auch nicht allzuschlimm zu ekeln brauchen, es sei denn vor Gerüchen, aber riechen wird diese Stadt erst wieder ab einer Temperatur von über 5,5 °C, denn es ist Winter.

Ein Problem und ein Problem

Ich fluche, als ich in den Garagenhof einbiege, hier gibt es kein Licht, und am Fahrrad habe ich auch keins. Zum Zeitungzustellen benutze ich immer ein völlig abgespecktes Rad, an dem nicht nur die Klingel fehlt, sondern alles, was man abschrauben kann, die Handbremse ist durch das gegen 100-Häuserwände-Lehnen längst zerbröselt, der Ständer zum Aufbocken hängt an einer losen Schraube, die Packtaschen haben an allen Ecken innerhalb weniger Monate Löcher bekommen (so kann aber wenigstens das Regenwasser abfließen), die Griffe am Lenker sind abgefallen: durchgeschabt und an irgendeinem Zaun hängengeblieben … das erste Mal sucht man noch im Dunkeln danach und steckt sie wieder an, ein zweites Mal vielleicht auch, doch dann lässt man es, ergibt sich dem Schicksal, dass beim Zeitungaustragen alles immer weniger wird, allem voran natürlich die Menge des Schlafs.

Der Bahndamm ist eine in der Finsternis gerade noch wahrzunehmende schwarze Mauer auf der gegenüberliegenden Seite der Garagen; anscheinend ist hier auch das Ende der Stadt, Züge fahren nicht, ich lehne das Fahrrad an das Tor der Nummer 21, überlege, ob ich die Stirnlampe über die zwei Mützen ziehen und anknipsen soll, bin dann aber zu müde dazu; die Batterie ist sowieso fast leer. Ich öffne das Vorhängeschloss, das kalt an Fingerspitzen brennt (ich benutze erst bei unter minus 10 Grad Handschuh mit Fingern …) und schalte das Licht an. Der Obmann ist längst dagewesen und um diese Uhrzeit auch alle anderen Zusteller. Ich bin sehr spät, die Zeitungen liegen an einer modrigen Wand hochgestapelt, darauf ein einzelner Schlüssel … Ich sehe gleich, dass es ein Problem mit der Menge geben wird, trotz Anhänger und Packtaschen, denn es gibt heut 21er und die maximale Beilagenmenge von neun ist nicht nur voll ausgeschöpft, sie haben auch noch das schwerste Papier dafür genommen. Ich schnappe mir gleich einen 7er Haufen MPs, professionell mit spitzen Fingern, so dass ein paar der dicken Reklameblätter rausfallen, und schreite beherzt zur Tat. Nachdenken bringt nämlich nichts in diesem Job, man kühlt bloß aus dabei und muss der Zeit hinterherjagen.

In dem Moment biegt ein Auto in den Hof ein, fährt mich fast um, ich höre durch die geschlossenen Türen wummernde Bässe und laut diskutierende Stimmen. Ich erkenne Kolja und Tochter Snegurotschka, aus irgendeinem Grund sind auch Frau und Sohn mitgekommen, die, soweit ich weiß, gar nicht als Springer arbeiten. Zwar passiert es bei den Russen nicht selten, dass ein Familienmitglied hilft, aber dass gleich die ganze Familie mitkommt, habe ich noch nicht erlebt. Alle steigen aus und nehmen mich gar nicht wahr; sie hängen wie Trauben an einem Streit und verschwinden gestikulierend in der Garage. Ich muss notgedrungen hinterher, um mir den nächsten Stapel zu holen. Es ist bereits 20 nach 5. Ich murmele ein »Guten Morgen« und will gerade einen vollen Packen anschneiden, als Kolja auf mich zustürmt. »Halt, die Tour machen wir heute!« »Aber die Chefin hat mich gestern abend angerufen.« »Mich auch.«

→ Fortsetzung folgt