Insekten

„Da, Mama!“ Der zweijährige Jona hatte im Sandkasten einen Käfer entdeckt und ihn, voller Neugierde und Begeisterung, zwischen seine kurzen Finger genommen, das zappelige Etwas zunächst wieder verloren, dann erneut zugegriffen, diesmal natürlich fester, und – es konnte ja nicht anders sein – ihn dabei zerquetscht. Nun schaute er mit gerunzelter Stirn auf die im Sand verstreuten und an den Fingern klebenden Einzelteile. Sein Schrei drückte Erschrecken, Verwunderung und Entdeckerfreude aus. Er rannte zu Nicole, ohne die Spuren an seinen Fingern aus den Augen zu verlieren. Meine Freundin wischte ihm mit mamamäßiger Routine und einem Feuchttuch die Käferextremitäten ab. Das war aber nicht, was Jona wollte, er protestierte lautstark. „Du findest bestimmt gleich einen neuen“, damit schickte Nicole Jona wieder in den Sandkasten und wandte sich zu mir: „In anderen Ländern werden Insekten ja gegessen. Erst gestern sah ich einen Bericht im Fernsehen, dass es die Lösung vieler Probleme wäre, wenn die Menschen mehr Insekten essen würden.“ „War das ein Ratschlag oder eine Vision?“, wollte ich wissen. Doch unser Gespräch wurde unterbrochen, weil Jona den nächsten Käferrest brachte. Wahrscheinlich hatte ich als Vegetarierin sowieso nichts mit der Sache zu schaffen…

Heuschreckenzeichnung

Arno Kappe  •  Heuschrecke

Vor wenigen Tagen fragte ich mich allerdings, ob Insekten überhaupt Tiere sind. Es war mal wieder so ein Tag, an dem mein Sohn mich zum Kauf eines Haustiers überreden wollte und ich beschloss, mit ihm die neu eröffnete Tierhandlung im Einkaufzentrum zu besuchen, mit dem heimlichen Ziel, ihm durch traurig dahockende Kleintiere, stinkendes Futter und trostlose Käfige davon zu überzeugen, dass sowohl eine Dauerkarte im Zoo, als auch Reitunterricht, die bessere Wahl wären.

Bei Außentemperaturen von über 27 Grad war es in den süßlich-muffigen Ladenräumen wie ausgestorben. Um genau zu sein, befand sich, außer uns lediglich eine junge Frau dort, die den Kauf einer Schildkröte nur deshalb nicht abgeschlossen hatte, weil die Verkäuferin ihr zum Transport bloß eine kleine Plastikschachtel angeboten hatte. Nun hockte sie vor dem Terrarium und redete zärtlich mit der Schildkröte:“Ich komme morgen wieder. Und dann hole ich dich hier raus.“ Unweit des unter einem Stein kauernden Tieres, bei dem es offenbar einen Zusammenhang zwischen Preis und Lebenserwartung gab (70 Euro – 70 Jahre), entdeckten mein Sohn und ich die vermutlich billigsten Tiere des Ladens: Heuschrecken für 49 Cent. Sie wuselten zu mehreren in einer Sahara-Landschaft und wir überlegten, ob sie nun als Tierfutter oder als Tiere ausgestellt waren. In der Menge fiel es mir schwer, sie schön zu finden. Im benachbarten Regal war es eindeutiger, als was die Viecher dienen sollten: es gab Bohnenkäfer und Mehlwürmer – Mehlwürmer mit Mehl, und Mehlwürmer ohne Mehl. Die Exemplare mit Mehl mussten sich zu Hunderten einen winzigen Haufen Mehl in einer durchsichtigen Schachtel teilen. Die Exemplare ohne Mehl hingegen waren zu Tausenden in einer großen Plastiktüte eingeschweißt. Ob ihr Todeszeitpunkt vor oder nach der Mumifizierung lag? War soetwas ethisch erlaubt? Mir wurde übel, aber richtig schlecht ging es mir erst, als wir auf eine Packung mit 12 eng zusammengepferchten Heuschrecken stießen, die wir – die lebendigen Artgenossen noch vor Augen – als tot einstuften. In Form eines Eierkartonbodens war inmitten der Packung eine zweite Ebene eingebaut und sechs Heuschrecken befanden sich unten, sechs Heuschrecken oben. Der Sinn hiervon blieb mir verschlossen. Eine Zweiklassengesellschaft im Jenseits? Ich nahm sie aus dem Regal, um sie näher zu betrachten – die Packung begann zu zucken und zu knistern, weil die Tiere sich auf einmal roboterartig bewegten und gegen die dünnen Wände stießen. Wovon, Herrgott, lebten sie? Ich sah kein Futter. Was für eine Form von Leben war das? Was für eine Form von Tod? – Ich erstarrte, wie eine Stabheuschrecke. – Und diese Tiere sollten wir essen? Ich schaute Nicole an. „Die grillt man wohl. Das soll ganz lecker schmecken.“

Ist Brot nicht aber auch ekelig? Ich muss an den selbstgemachten Sauerteig meines Mannes denken, der in unzugeschraubten Schraubgläsern im Kühlschrank lagert. Bei Raumtemperatur kriecht er in kurzer Zeit zum Rand des Glases hoch. „Das sind Bakterien. Die haben ihren Stoffwechsel. Im Kühlschrank kommt der zum Stillstand, deswegen kann man den Teig dort lagern.“ Ich glaube das ja nicht, weil sich im Laufe der Zeit auf der Teigoberfläche immer eine dunkelbraune, dünnflüssige Schicht absondert, die bald zum Grünen tendiert. „Müssen wir ihn nicht wegschmeißen?“, frage ich dann jedesmal besorgt vor der nächsten Brotbackaktion. „Nein, nein“, erwidert mein Mann dann, „sowas hält sich im Prinzip ewig.“ Wann ist ein Lebewesen ein Lebewesen? Wann hat es eine Seele? Wenn es einen Stoffwechsel hat? Wenn es Augen hat? Genug, genug. Wir werden heute abend Cornflakes mit Sojamilch essen, und morgen noch mal neu über die Sache nachdenken.