Calenberger Nacht · Teil 2

Über die Arten der Müdigkeit

Wir wechseln die Straßenseite und fahren eine halbe Ewigkeit an den hiesigen Stadtwerken vorbei, bis das nächste Haus kommt. Dann zwei Häuser gar nichts und im nächsten eine mickrige HAZ. In dem Stil geht das weiter, und ich würde so gern beim Arbeiten dösen.

»Goethestraße« · C. Kappe

Aber Knust redet die ganze Zeit, besser gesagt: Er kommentiert sich selbst. Er regt sich über die Liste auf, die nicht stimmt, er bringt Häuser durcheinander, er versucht sich auf die Schlüssel zu konzentrieren (»ich blättere einen weiter«) und, was das Schlimmste ist, an jeder zweiten Ecke sagt er: »Also, ich mach die Tour anders als in der Liste … Vergessen Sie das jetzt mal.« Moment. Warum sagt er ›blättern‹? Jetzt sehe ich, dass die Schlüssel keine Anhänger haben, ergo: Die Schlüssel sind nicht nummeriert, wenn mir also der Schlüsselbund einmal hinfällt…

Es ist aussichtslos: Knust kann mich in diese Tour nicht einarbeiten, ich bin umsonst mitgegangen, ich werde scheitern! Diese 4. Art der Müdigkeit ist ein Aufgeben. Mein letztes bisschen Kraft verwende ich darauf, nicht einzuschlafen, ich versuche, die Außenwelt als Außenwelt zu betrachten und nicht als bösen Traum, und im Hintergrund bemühe ich mich, Knusts Aussagen eine Logik zu geben, so wie der Mann von der Straßenreinigung eine gewisse Ordnung auf dem Fußweg herzustellen sucht. Er hat uns plötzlich überholt, mit knatterndem Wagen, hat am Straßenrand gehalten und ist ausgestiegen, um mit einem völlig zerrupften Besen den Bürgersteig zu fegen. Natürlich ohne Erfolg, und schon nach kurzer Zeit steigt er wieder ein und knattert weiter.

Buchstaben

»Worte« · Arno Kappe

Und auch ich knattre weiter, meine Gedanken schweifen ab, heben ab, heben sich über Knusts Worte, nicht um sie zu verstehen, sondern um sie linguistisch zu untersuchen … Müdigkeit und Denken hängen nämlich zusammen; die allgemeine Auffassung, dass man zu müde zum Denken sein kann, ist unwahr, ganz im Gegenteil: Ein bisschen Müdigkeit bedeutet ein bisschen Entspannung im Kopf, die Denken doch erst möglich macht. So staune ich jetzt über Knusts Ausdrucksweise: »Es ist ihnen wichtig, die Zeitungen GANZ in den Briefkasten gesteckt zu bekommen.« Abgesehen davon, dass der Inhalt dieses Satzes absurd ist, weil die Zeitungen zerreißen, wenn man sie ganz in den BK quetscht, rührt mich der Satz. Knust nimmt diese Leute wirklich ernst. Hätte er stattdessen gesagt: »Es ist wichtig für sie«, hätte er sie durch die Präposition ›für‹ (und den schwach markierten Akkusativ) von sich weggeschoben, sich zum Gegner gemacht. Ich freue mich plötzlich wie ein Kind über die Möglichkeit des Dativs. Die Kunden stehen auf diese Weise nicht am Ende, sondern, stark markiert, in der Mitte des Satzes!

Doch auf einmal wechselt die Stimmung, wohl weil ich wieder ein wenig wacher werde. Was faselt der Alte? Hier geht es um etwas anderes als die korrekte Art der Zeitungszustellung, man braucht sich nur umzuschauen, hier will auch keiner schlafen, hier wollen alle nur LEBEN, was mit Schlafen nichts zu tun hat, auch nicht mit Zeitunglesen. Die Zeitungen stapeln sich auf der Fensterbank im Hinterhaus (wer zahlt das?, keiner, nie), das Hinterhaus ist durch eine mit Müllsäcken zugerümpelte Toreinfahrt zu erreichen, in der Kabel wie Lianen aus dem Fenster hängen, weil der Strom aus dem Nachbarhaus gezapft wird: Durch die offenstehenden Fenster könnte man in Wohnungen einsteigen, aber man will doch am Leben bleiben, einige Fensterspalten sind zudem mit Katzenleibern ausgefüllt, in den meisten aber brennt ein diffuses Licht, das nie ausgemacht wird, Stimmen hört man, Schimpfen, Streiten, Musik, wer sich gestört fühlt, macht nicht etwa die Gardinen vors Fenster, sondern den nächst greifbaren Gegenstand zum Wurfgeschoss. LEBEN wollen sie (Tristan kills Hulk with ulk salad) und das nicht erst, wenn die Sonne, die Häuser von der Straße abschneidet, die Bilder von den Augen, das Gehirn vom Kopf, die in leeren Autos dröhnenden Radios verstummen, die anderen leben.

»Brühl« · C. Kappe

Die anderen leben in der Dreyerstraße, da geht man über eine kleine Steinbrücke, die man von der Braunstraße aus nicht sieht, in eine andere Welt. Reihenhäuser, von denen sich irgendjemand mal hohe Mieten erhoffte. Aber der kleine Seitenarm der Leine, der hier idyllisch langschlängelt, stinkt, wenn er überhaupt Wasser führt, und so zahlt man nur für die IDEE EINER STADT, einer wirklich berückend schönen Stadt (Rückertstraße), die sich aufschichtet: verfallene Bürogebäude der 70er – fliehende Natur – Zäune – Büros Jetztzeit – Autoschneise – Idee von Himmel – Kirchtürme – Geräusche – Gerinnung – die geronnene Zeit, die um Viertel vor 6 auf dem Schotterweg liegt und nicht versickert, die geronnene Zeit, die um Viertel vor 6 auf dem Schotterweg liegt und versichert, dass diese Stadt nur zwei Dimensionen hat und dass wir flugs in der Brühlstraße sind, nach einer Steigung von 31% (!). Knust steigt ab, aber so ein beladenes Fahrrad ist viel schwieriger zu schieben, als zu fahren; er keucht, ich habe Angst, dass er umfällt und denke: Besser wäre es, er würde die Tour ganz abgeben … und wer weiß: Vielleicht würde die Chefin mich dann für ewig zu dieser Tour verdonnern, und ich müsste mein Leben abgeben.

Glassplitter

»Glassplitter« · C. Kappe

Ich fahre versehentlich durch Glassplitter, Hundekacke wäre nicht so schlimm gewesen. (Wenn ich hier eine Panne habe, ist es aus! Dann haben mich meine Verfolger eingeholt!!!) Goethestraße, das Hoflicht bleibt nicht lang genug an, um die Zeitung hinter ein rostiges Fenstergitter zu klemmen und wieder hinauszugehen. Da stehen wir im Dunklen vor einem großen Tor, hinter dem schon der Verkehr brummt, und eine rote Sonne blendet, und oben auf der matten Lampe sitzt eine matte Taube und erschreckt uns Ermatteten durch das Zucken der Flügel beim Einschlafen. Manche Zeitungen werde hier mangels Schlüssel einfach vor die Tür geworfen,und sind schon zerflattert, bevor wir wieder aufs Rad steigen – übrig bleibt ein dicker, fetter Käfer, und mir fällt auf, dass meine Hände dreckig und klebrig sind, meine Augen jucken und ich Hunger habe, dass die Wäsche auf den Balkonen zu eng hängt, um zu trocknen, dass mein Kollege auch Angst hat, (»Bitte stecken Sie die Zeitung in den Beutel, der im Hinterhof am Fahrrad hängt. Ich bin doch nicht verrückt! Nachher komm ich da nicht wieder raus«), dass die Frauen vorm Ministerium für Wissenschaft und Kultur von Zuhältern eingesammelt werden, dass Knust und ich hier gar nicht hingehören, dass wir im Weg sind denen, die aus dem Steintorviertel heimwärts wanken, fluchend – wir könnten auch fluchen, aber wozu – … Andererseits haben wir uns hier eingraviert wie kaum jemand: Die schwarzen Streifen an der Hauswand stammen von den Fahrradgriffen der Zusteller.

Um 6 sollten wir fertig sein – es ist halb 7! Und die Zeitungen, die wir über haben, sprechen Bände. Jetzt stelle ich Knust endlich eine Frage, die ich mir schon seit 2 Stunden stelle: »Wie machen Sie das mit dem Schlafen, ich meine: WANN SCHLAFEN SIE?« »Ooch, ich lege mich so um neun, zehne hin, dann schlafe ich ’n paar Stunden, und dann weckt mich meine Frau …« Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen, als er sagt: »MIT DEM RAD können Sie jetzt den kleinen Weg hier runter und dann hinter der Kirche links …« – Er macht die Tour nicht allein, sondern MIT SEINER FRAU, und sie fahren MIT DEM AUTO.

»St. Clemens« · C. Kappe

Knust verabschiedet sich und fährt taumelig Richtung Südstadt. Eigentlich hätten wir zusammen fahren können, aber ich habe keine Lust. Außerdem wird er nicht weit fahren, weil seine Frau hinter irgendeiner Ecke mit dem Auto wartet. Und nochmal außerdem kann ich gar nicht fahren, denn die Müdigkeit, die mir seit dem Aufbruch heute früh anhaftet, übermannt mich nun, nachdem ich etwas Logik in das Geschehen gebracht habe. Zu ihr gesellt sich, bei wärmer werdender Luft, Müdigkeit 5, die von den schwersüßen Frühlingsdüften herrührt. ICH MUSS SOFORT SCHLAFEN – aber wo? Ich schaue mich um: die Kirche! Katholische Kirchen haben doch meistens geöffnet, und wenn nicht, dann setze ich mich eben auf eine Treppenstufe, lehne den Rücken an … die Müdigkeit (6, 7?) kurz vorm Einschlafen, wie ich sie liebe, die Müdigkeit, von der ich weiß: Ich schlafe jetzt ein, es gibt keine andere Möglichkeit, der Schlaf hat gewonnen …

Und in diesem Augenblick erkenne ich, fühle ich: Es gibt nicht verschiedene Arten der Müdigkeit (so ein Quatsch!) es ist alles EIN- UND DIESELBE Müdigkeit, und die hat immer ein Ende, zum Glück, auch wenn sie endlos scheint – den Schlaf.

Calenberger Nacht · Teil 1